Roland Betsch
Die Verzauberten
Roland Betsch

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Meine Hand mäht – mein Atem sät

Wunderliche Weltenkugel, von keinem Verstand zu fassen. Überall Halme und zwischen den Halmen ein törichter Mensch und eine Hundeseele. Niemand kann mich sehen; denn die Ähren wachsen über mich hinaus. Ich liege auf dem Rücken und schaue in den Himmel. Lohengrin hat sich eng an meine Seite gelegt; ich rieche sein Fell und fühle die struppigen Haare; wir sind eine vergrabene Zweisamkeit.

Sonderbar, wie ich nun so daliege, ein Mensch in Ähren, und mit der Erde durch das goldene Rätsel segle. Unbegreifliche Reise, die ich unternehme, der Mann zwischen den Halmen, Traumfahrt des Erntearbeiters, in eine sausende Welt getaucht, wo es nur noch schlanke Pflanzensäulen gibt, die in einem geheimnisvollen Rhythmus schwingen und mich, einen Pendelschlag der Gedanken lang, wie ein fremdartiges Gefieder anmuten; wie goldene Federn gewaltiger Schwingen, die sich zitternd geweitet haben und in sanftem Flügelschlag mich durch die verzauberten Stunden tragen.

Unendlich fern gerückt ist das Leben, es gibt nur Halm und Himmel, und im zitternden Gefieder meines Zaubervogels brennen einzelne bunte Federn; blau und rot sind die Federn, aus Kornblumen und rotem Feuermohn geboren.

Oh, ihr Sinne in mir, die ihr schauen und fühlen dürft, die ihr den Duft der ewigen Landschaft atmet und die Melodie des Wachstums hört. Du Auge, das eine Welt in sich einfängt und die Farben des Daseins spiegelt, halb faßt mich ein Schauder vor deiner Wunderkraft.

Bettina, blonde Königin, vielleicht bist du geformt aus Roggenhalm und Feuermohn, ein Gebilde endloser Felder, emporgewachsen aus dem fruchtbaren Meer, das über mir die sanften Wogen bildet. Blauer Himmel, wandernde Kugel; runder Farbenball, 174 auf dem ein krummer Wagen klirrend über Landstraßen holpert. La Paloma, die weiße Taube, zwischen Heu und Packpapier, um mich getürmte Teller, Schüsseln, Vasen. Zerbrechliche Stunde, Brigitte, du Blatt, vom Wind getrieben; da stehst du im verwaschenen Kleid und mit dem farbigen Halstuch und hast Angst vor dem Gewitter.

Brigitte, Bettina. Überall roter Mohn.

Alle Halme wachsen; sie werden hoch wie Pappelbäume an der Landstraße; alle Halme wachsen in den Himmel hinein. Da liege ich zwischen den gelben Divisionen, ich ersticke ja im Segen.

Lohengrin, sei still; nicht knurren! Komm, du fremde Seele, du behaartes Wunder, du schweifende Einsamkeit mit dem Tierblick, der mir manchmal so ans Herz greift. Stille, du Kamerad und Weggenosse, du Bruder mit dem Fragezeichen; komm nahe zu mir, ich höre dein Herz schlagen und es schlägt wie meines. Da dong! Da dong! Da dong!

Vielleicht ist es eine Uhr mit schwerem Pendelschlag. Eine untergründige Uhr, die einen Kreislauf rhythmisch zerhackt.

Da dong! Da dong!

Es ist Zeit, an die Arbeit zu denken; da kommt schon ein Mäher mit der Sense auf der Schulter. Nein, das ist keiner von uns, das ist gewiß kein Mäher aus der Gesindestube; nie in meinem Leben habe ich ihn gesehen. Er kommt durch das riesige Feld, alle Halme beugen sich und es rauscht im Überfluß wie von Wasserfällen. Mitten durch die Halme kommt er, und ich sehe, daß er groß ist und hager wie eine Pappel. Einen gelben Mantel trägt er und sein Haar weht im Winde.

Ich sehe jetzt sein Gesicht und erkenne ihn; der Tod ist es, der große, gelbe Tod, und er bringt mit sich das Ende aller Halme. Wer hat je solche Sense gesehen, ihr Metall wölbt sich glitzernd in die Bläue des Mittags; er ist mächtig und doch nur ein Schleiergebilde; wie eine Wolke treibt er über die erfüllten Felder.

Gott im Himmel, Brigitte ist in seiner gefährlichen Gesellschaft; ihr Antlitz ist bleich, und sie wankt schwach und demütig an seiner 175 Seite; er stützt sie und ein Teil seines gelben Mantels hängt um ihre Schultern.

Der gelbe Tod summt etwas vor sich hin und das klingt, als ob es Wind wäre zwischen sausendem Gitterwerk.

Meine Hand mäht,
Mein Atem sät.

Brigitte, du weiße Taube, was für einen merkwürdigen Gefährten hast du dir herausgesucht? Höre auf mich, wenn ich dir sage, dieser ist keine Gesellschaft für dich, du blühendes Bündel Jugend; du Kind, du Hexe aus allen Himmeln. Du Halm unter Halmen.

Abgeschmackte Angelegenheit. Ich träume. Blitzschnell kommt mir die Gewißheit, daß ich träume. Zeit, daß du aufwachst.

Nein, Brigitte kommt nahe auf mich zu, Brigitte beugt sich über mich, vielleicht, daß ein Gewitter im Anzug ist.

Brigitte beugt sich über mich und ihr Atem strömt mir entgegen.

Der gelbe Tod steht noch da.

Unsinn, es ist ein Apfelbaum. Fort mit dem Gespinst! –

Meine offenen Augen schleichen das Blickfeld ab.

Jemand muß unmittelbar in meiner Nähe sein. Deutlich rieche ich jemand, den ich kenne. Wer riecht nur so? Ich wende mich um und sehe in den Ähren ein Gesicht. Ein lauerndes, lachendes Gesicht.

»Brigitte!« sage ich und denke, sie ist vom Himmel gefallen. »Brigitte, da bist du!«

Nein, Bettina! Bettina wollte ich sagen. Es ist Bettina, denn ihr Haar ist wie die Halme. Oh, dieses Spiegelspiel!

Ihr Haar ist wie die Halme. Ich habe geschlafen und geträumt, aber jetzt bin ich wach; Lohengrin ist froh bewegt, er steht in den Ähren und schlägt mit dem Stummel.

»Gnädiges Fräulein!« sage ich bestürzt und weiß nicht weiter.

»Ich bin nicht Brigitte. Sie verwechseln mich.«

»Nein, nicht Brigitte! Wie konnte ich Brigitte sagen. Ich habe 176 so merkwürdig geträumt. Vor einer Sekunde noch waren Sie Brigitte.«

»Träumt am hellen Tag.«

»Ja, bei Gott, man sollte mich prügeln. Ich muß fort, an die Arbeit. Gott weiß, wie lange ich hier gelegen habe, am Ende habe ich die Arbeit verschlafen.«

»Bleiben Sie ruhig hier,« sagt Fräulein Bettina, »sie haben drüben noch nicht angefangen.«

»Noch nicht angefangen? Dem Himmel sei Dank!«

Ich schaue mir Bettina an. Sie liegt im Korn wie in einem Käfig, goldenen Gittern gleich steigen die Halme vor ihr hoch. Da liegt sie, ein herrlicher Panther hinter Stäben, auf dem schlanken Pantherleib liegt sie und hat die Beine hochgestreckt. Beide Ellbogen im Erdreich und den Kopf wie eine sonderbare Frucht in die flachen Hände zwischen gegliederte Blätter gelegt, ruht sie im Roggen und ihre Augen lauern mir entgegen.

»Sie sind gewiß ganz überrascht, daß ich nicht Brigitte bin. An mich haben Sie nicht gedacht.«

»Nur ein wenig benommen bin ich und darf Ihnen verraten, daß es geheimnisvoll umgeht in den Kornfeldern Ihres Vaters.«

»Es geht um? Am hellen Tage?«

»Im Schein der Sonne. Unsichtbare Wesen, schleichenden Rothäuten nicht unähnlich, krauchen herbei und werfen mit Erdschollen. Es ist die reine Hexerei.«

»Manchmal kommt es mir vor, als wäre das ganze Leben nur ein solcher Hexenspuk.«

Es ist still um uns, wir reden nichts und jetzt werden die Stimmen der Felder wach. Das Korn atmet, es ist der Wind, der über die Halme streicht. Die Heuschrecken geben das alte Teufelsgeigenkonzert, es summt von Käfern und anderem Insektengetier.

Das ist die Melodie der Welt, dieser sausende, pausenlose Gesang über Gräsern, dieser Notentaumel zwischen keimenden Zellen, dieser Hymnus im Licht, dieses grenzenlose Unisono von Wind und Welle, Kleingetier und schwingender Pflanze.

177 Der Tag steht heiß über uns, Rhythmus der Sonne strebt dem Abend zu, um neuen Morgen zu formen. Sehet und höret: der Kreislauf des Geschehens wird offenbar.

Wer bin ich, wer ist Bettina? Zwei Glieder nur in diesem rätselvollen Mittag. Nicht Arbeiter, nicht Tochter des Herrn; nicht niedrig und nicht hoch, abseits von arm und reich. Nein, Seiendes nur, Lebendiges nur, Grüblerisches nur mit Wehrlosigkeit und Schicksal. Kreisende Teile im kreisenden Ganzen. Tier im Käfig, hinter gelben Stäben. Das Haar wie der Halm. Bettina. Bettina! Name, sonst nichts. Deine Stimme ist ganz verändert; nie war deine Stimme so tief und weich und furchtsam. Deine Stimme, angeweht vom Rätsel, kommt aus dem Sausen der ungezählten gelben Wundersäulen. Oh, ich Narr, der ich das nicht begreife.

»Wer ist Brigitte? Jetzt mußt du mir sagen, wer Brigitte ist.«

»Oh, Fräulein Bettina, wer ist Brigitte? Vielleicht sind Sie es selbst.«

»Ich selbst?«

»Wer weiß das, wer will es entscheiden.«

»Sie haben mir einmal erzählt von ihr.«

»Ja, das habe ich. Ein dunkles Kind ist sie, ein Kind der weiten Landstraße.«

»Und sieht mir ähnlich?«

»Brigitte ist dunkel und Bettina ist hell; und doch sind sie einander gleich. Sie fährt mit einem Porzellanwagen und fürchtet sich vor dem Gewitter. Als wir Abschied nahmen, hat sie mir einen farbigen Teller geschenkt. Sie hat nie mit Erdschollen geworfen, wie es Indianer tun.«

Das schöne Tier im Käfig kaut und nagt an einem Kornhalm. Immer noch ruht der Kopf in den Händen.

Das Kornfeld ist eine Harfe mit Millionen Lauten. Welche Akkorde mögen sich hier gestalten lassen.

»Sie sind total verschossen in diese Brigitte.«

178 »Ich?!«

»Natürlich. Tag und Nacht denken Sie an das Mädel.«

»Fräulein Bettina! Wir sind uns begegnet und haben uns wieder verloren. Nichts als ein Erlebnis auf der Wanderschaft.«

»Aber Sie sind doch irgendwie in jemand vernarrt; das merkt man Ihnen an.«

»Ha ha, spaßhaft, ein armer Tölpel. Ein Fabian Flox, ein Bierbrauer. Wandert hinter seiner Liebe her.«

»Hinter Ihnen verbirgt sich etwas. Ich glaube Ihnen kein Wort. Man kommt nicht hinter Ihre Schliche.«

Der Arm, nein, die herrliche, nackte Pranke greift durch die Gitterstäbe und faßt in meine Haare.

»Schauen Sie mich doch einmal an! Können Sie mir denn nicht ins Gesicht sehen?«

»Doch, Fräulein Bettina; ich werde es wohl können.«

Ich schaue sie an und das Blut rauscht in mir wie ungedämmter Strom. Die Pranke ist wieder zurückgezogen, es spielen feine Gliedmaßen in den elastischen Stäben.

»Es ist doch ein Geheimnis um diese Brigitte?«

»Das muß wohl sein.«

»Heraus damit! Ich will es wissen!«

»Ich glaube, daß Brigitte Ihre Schwester ist!«

Ich sage das ganz ruhig und still; es klingt selbstverständlich und ich wundere mich, daß mir der Satz so leicht über die Lippen kommt. Aber der Satz schwebt über uns, er zittert in allen Saiten der großen Harfe nach; er löst Akkorde aus. Der Satz, nun er gesprochen ist, wächst ungeheuerlich. Ich schaue in den Käfig. Das schöne Tier ist ganz verändert. Die Augen sind größer geworden und blicken starr. Jetzt kommt feuchter Glanz in diese Augen; sie werden zu abgründigen Silberschächten.

»Meine Schwester?! Sie meinen damit, daß wir den gleichen Vater haben?«

»Nichts anderes meine ich.«

179 »Das glaube ich gerne. Meine Mutter ist lange tot. Furchtbar lange, ich kann mich nicht mehr an sie erinnern. Und mein Vater – – das mag schon sein.«

Ihre Stimme ist wirklich ganz verändert; ein wenig heiser klingt sie und nicht so lustig wie sonst.

»Ich möchte Ihre Porzellanbrigitte wohl einmal sehen. Was hat sie denn noch zu Ihnen gesagt?«

»Um mich ist ein Geheimnis, hat sie gesagt. Und einmal saßen wir an einem Feld, so wie hier; da hat sie mir von ihrer Mutter erzählt. Ein Geständnis hat ihr die Mutter gemacht. Dein Vater, hat sie gesagt, ist nicht dein Vater; dein Vater ist der Herr Baron.«

Nun habe ich einen Vorhang fortgezogen. Dämme sind gebrochen und Wasser zusammengeströmt. In dieser kleinen Welt haben sich Begegnungen erfüllt; eine verborgene Gemeinsamkeit hat sich lautlos aufgetan. Ich will nichts mehr sagen, nein, ich werde schweigen. Viel wäre noch zu erzählen, von der weißen Taube, vom Mann mit der Lokomotivstärke und vom gelben Tod.

Die Stille ist ungeheuer groß; der blaue Tag hat alle Segel gesetzt; es ist allerorten ein verborgenes Wirbelspiel.

»Fräulein Bettina!«

Was ist mit ihr? Sie liegt ganz auf der Erde und die Haare fließen über den Boden. Eine Blüte des roten Mohns steigt wie eine seltsame Fackel aus den Wellen der Haare; auch Halme wachsen aus den Haaren heraus; Haar und Halm verschmelzen.

»Fräulein Bettina?!«

Der junge Körper, in das feine und dünne Sommerkleid gewandet, zuckt wie unter einem Krampf.

So liegt sie da und weint in die Erde hinein.

Jetzt lastet die Stille auf mir. Das Sausen des Mittags erfüllt mich mit Bangnis und Glück. Mein Atem wird schwer. Ich erhebe mich und bin ganz umsponnen von Fäden und Netzwerk. So stehe ich aufrecht, starr und eingefangen und allem Zauber 180 preisgegeben. Tief im Strom des Mittags stehe ich und höre das mühsam gebändigte Weinen, das aus den Halmen kommt.

In die Stimme der Tränen mischt sich mit einem Male gespenstisch eine Melodie; und mir ist, als würden beide, Tränenlaut und Melodie, miteinander verschmelzen.

Woher der Gesang?! Nicht weit hinter dem Kornfeld liegt die Landstraße und sie scheint mir wie ein bewegtes Band.

Auf dem wandernden Band zieht es vorüber. Ich bin ganz wach und sehe deutlich das halb unwirkliche Bild.

Ein Wagen mit einem Pferd bespannt, zieht langsam vorüber. Ein Porzellanwagen, der mir eigentümlich bekannt ist, strebt irgendeinem umrißlosen Ziel zu.

Ein Porzellanwagen, sage ich, gespenstert durch das lichtübergossene Szenarium.

Und hinter dem Wagen her schlendert ein Mädel und singt. Ein Mädel im verwaschenen Kleiderfähnchen schlendert hinter dem Wagen her und singt.

La Paloma, die weiße Taube.

Ich stehe mitten im gelben Segen, still und unbeweglich, wie ein junger Baum im Wind des Mittags, und in meine Augen fällt das Bild des wandernden Wagens. Während ich hinüberstarre auf die Landstraße, überfällt mich ein sinnloses Wort, das nichts gemein hat mit diesem Augenblick. Das Wort quält mich, und ich plappere es in Gedanken immerfort vor mich hin.

Musikantenbuckel, Musikantenbuckel, immer dieses Wort.

Der Wagen verschwindet langsam hinter einer kleinen Anhöhe. Noch sehe ich die schreitende Gestalt und höre die verworrene Melodie. Dann ist alles verschwunden.

Musikantenbuckel, jagt es durch mein Hirn; Musikantenbuckel. Sind denn meine Sinne verwirrt?

»Fräulein Bettina!« rufe ich hastig und sehe, daß sie fort ist. Ja, das schöne Tier ist nicht mehr im gelben Käsig.

»Fräulein Bettina!!«

181 Ich dringe ins Kornfeld ein. Fort. Eine schmale Gasse bahnt sich kraus durch die Halme. Ein verwegener Wildpfad. Lohengrin will der kostbaren Fährte folgen. Die Nase am Boden, stößt er in den Ährenwald vor. Ich rufe ihn zurück.

Immer noch stehe ich und habe die flachen Hände gegen den Kopf gepreßt.

Was ist denn geschehen? Seltsames Spiel des hohen Mittags. Zauber mit der Sonne im Zenith.

Ich kann es nicht begreifen. Musikantenbuckel.

Musikantenb – – –!

Da höre ich die Mähmaschine rasseln. Eine Peitsche knallt. Wüa! Zeit, an die Arbeit zu gehen. 182

 


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