Roland Betsch
Die Verzauberten
Roland Betsch

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Tränen um ein Matrosenlied

Wir gehen, wie befohlen, um sieben Uhr in den Ochsen und setzen uns zu Herrn Schluckebier und Hurrle an den Tisch. Ich höre sofort, daß Hurrle sich wieder mächtig aufspielt und großartig tut. Er spricht von der japanischen Keramik und von den Töpferkünsten der Chinesen. Herr Schluckebier hat nicht recht Zeit, diese Wunderdinge anzuhören, denn er bearbeitet mit Wucht gewaltige Fleischfetzen, die rot und fett um einen gepökelten Schweinsknochen sich angesammelt haben.

»Was uns fehlt,« sagt Hurrle toternst, »ist das wahrhaft künstlerische Nachtgeschirr.«

»Ja ja,« meint Herr Schluckebier und führt eine bedrohliche Gabel voll Sauerkraut in den Mund.

Hurrle bleibt beim Nachtgeschirr.

»Wir legen zu wenig Wert auf die Form und können von den Chinesen –«

»Marie,« ruft Herr Schluckebier der Bedienung zu, »bring' mal den zwei Spatzen da ein warmes Abendessen. Sauerbraten mit Makkaroni!«

»Mau müßte,« fährt Hurrle aufdringlich fort, »ein Nachtgeschirr konstruieren, dem man äußerlich seine etwas verpönte traditionelle Bestimmung nicht ansieht, in dem man hingegen seelenruhig eine Blumenvase oder eine Teigschüssel vermuten könnte.«

»Immerhin, immerhin,« brummelt Schluckebier und plient den Sprecher aus verquollenen Augen an. Was will der nur mit seinem Nachtgeschirr! Verfluchte Fachsimpelei! Er bohrt die Gabel in den Schweinsknochen, dreht und wendet und beklopft ihn mit dem Messer, als wolle er mit solchem Klopfen noch etwas Genießbares aus dem Innern herauslocken.

36 Hurrle aber läßt sich nicht beeinflussen und bleibt mit einer schadenfrohen Hartnäckigkeit beim Thema.

»Die schöne Sitte,« spricht er mit gehobener Stimme, »das Nachtgeschirr zum Trocknen umgekehrt auf den Gartenzaun zu stülpen, findet sich auch nur noch vereinzelt, was ich mir oft zu erklären versuchte, dabei aber – –«

»Harras!« brüllt Herr Schluckebier, dem der Kamm schwillt, »da friß!« Und wirft ihm den Schweineknochen hin. Anschließend fängt er an, wütend in den Zähnen zu bohren. Er ist jetzt satt und sitzt breit im Stuhl, faul hingequollen, mit fettglänzender Haut. Mit der Knollenhand greift er nach dem Bierglas und tut einen kannibalischen Schluck.

Dann kommen Sauerbraten mit Makkaroni.

Hurrle: »Man darf natürlich nicht verkennen, daß die Rivalität des Blechs und des Emails dem Porzellannachtgeschirr ganz besonders und ausgiebig evident auf den Leib zu rücken leider imstande gewesen ist.«

»Hää?« Schluckebier stößt mit dem Kopf vor und stiert Hurrle beinahe bösartig an.

»Hurrle,« sage ich, »nun hör' doch endlich mal auf. Es ist nicht mehr auszuhalten mit deinem Gerede.«

Während wir so die Makkaroni essen, kann Hurrle es nicht unterlassen, wieder etwas zu erzählen. Auf seinen Forschungsreisen in der Mandschurei habe er auch viel Makkaroni gegessen, aber dort würden sie anders zubereitet. Man ließe dort vorher in jede Makkaroni einen Regenwurm hineinkriechen; die solchermaßen gefüllten Teigwaren würden dann gekocht und mit einer scharf gewürzten Spinnensauce serviert.

Es gibt jetzt ein tosendes Gelächter und frisch gefüllte Biergläser.

Man kann nicht länger verheimlichen, daß Herr Schluckebier säuft und somit seinem Namen alle Ehre erweist. Hurrle scheint einen krankhaften Ehrgeiz zu haben, ihm nacheifern zu wollen; es gelingt ihm aber nicht, ihn einzuholen, und Schluckebier ist immer eine gute Pferdelänge voraus.

37 Brigitte rückt näher auf mich hinauf; nun sie satt ist, wird sie sichtbar zärtlich, ja, sie scheut sich nicht, einmal den Arm um mich zu legen und recht vertraulich zu tun, was der Vater mit versoffen drohenden Augen quittiert.

»Pappi kann Klarinette blasen,« zwitschert Brigitte und will ihn offenbar durch diesen Hinweis auf sein musikalisches Gemüt besänftigen. Ja, es stellt sich heraus, daß Herr Schluckebier die Klarinette, auch Gelbrübe genannt, artig blasen kann. Er soll das auch heute abend noch beweisen.

Draußen kommt schon die Dämmerung. Die Sonne ist untergegangen, und die letzten Sperlinge zwitschern in den Kastanienbäumen. Während es langsam dunkel wird, hat Herr Schluckebier das erreicht, was man einen Rausch nennt. Auch Hurrle ist nicht mehr nüchtern; er wird leicht säuselnd sentimental, ein Zeichen, daß der Alkohol ihn übermannt. Er hat die Mundwinkel nach unten gezogen und lutscht an einer nassen Zigarre herum.

Es kommt dann wirklich noch zum Klarinetteblasen. Nämlich Herr Schluckebier erhebt sich und nimmt Kurs auf den Ausgang. Offenbar hat er Gegenwind; denn er muß im Zickzack aufkreuzen, gewinnt dann aber mit guter Fahrt die Passage. Hurrle, ein Kutter mit Überfracht, folgt mit halbem Wind und ist froh, als er durch die Tür ist. Draußen gehen beide mit vollen Segeln auf den Porzellanwagen zu.

Es ist mittlerweile dunkel geworden. Die Porzellanbrigitte fragt mich, ob ich Lust hätte, mitzukommen, sie wolle einmal rasch nach Ida schauen. Welche Ida? Na, Ida, das Roß. Wer sonst als das Roß Ida. Wir gehen in den Stall, und dort steht wahrhaftig die dürre Ida und gräbt das Maul in ein Bund Heu. Brigitte klopft ihr auf die Hinterschenkel, da wendet Ida den Kopf, hört eine Weile zu kauen auf und schaut uns mit einem beinahe verächtlichen Blick an. Ich gehe zu ihr hin und streiche ihr über den Hals und vorn über die Nase, die so wunderbar weich ist. Ida läßt sich das gefallen, schnuppert mit geblähten Nüstern nach mir und spielt fortwährend ruckweise mit den Ohren.

38 »Du, Brigitte, was sie wohl denkt.«

»Daß du sie jetzt fressen lassen sollst.«

Ich wende mich um und will aus dem Stall gehen. Da fliegt mir Brigitte an den Hals und so hängen wir jetzt aneinander und küssen uns; während ich sie küsse, fällt mein Blick auf Ida und ich sehe, wie sie einige jener bekannten Äpfel fallen läßt. Ich muß natürlich lachen, mitten im Küssen, da habe ich eine Knallschote im Gesicht, daß mir die Augen tränen.

Wir verlassen den unanständigen Stall und gehen auf den Marktplatz. Die Nacht ist tief leuchtend heraufgekommen. Über den Kastanienbäumen sehe ich die Sterne glänzen.

»Hörst du? Der Alte bläst die Klarinette.«

Richtig, dort sitzt er auf der Porzellankiste und spielt. Hurrle hat sich an die Wagendeichsel gelehnt und lauscht dem Spiel. Es ist ein friedlicher und beinahe rührender Anblick. Da hockt der dicke Klumpen auf der Bretterkiste, kämpft mit seiner Atemnot und spielt wunderbar rein und klar ein Lied. Was spielt er denn? La Paloma, die weiße Taube.

Wir kommen langsam näher und sind nun in einer andächtigen Gruppe versammelt. Herrn Schluckebiers Gesicht ist rot aufgequollen und man sieht, daß es ihn viel Mühe kostet, die schmelzenden Töne dem Instrument zu entlocken. Aber das Lied steigt mit einer andächtigen Klarheit in die Nacht, und mir, der ich Herrn Schluckebier und seinen komischen Habitus, auch den vertilgten Schweinsknochen nebst Sauerkraut, ganz vergesse, wird sonderbar weh ums Herz, und ich bin im Innern dankbar für diese Stunde und überhaupt für die wechselvolle Farbigkeit des rätselvollen Daseins.

Der wunderliche Klarinettist, seltsam gespenstisch verwandelt, wiederholt die Melodie, und als ich einmal aufschaue, sehe ich, daß Hurrle das Heulen angefangen hat. Dem alten Komödianten, dem in allen Sätteln gerechten Galgenvogel, rinnen die Tränen herunter. Er wischt sie weg mit den schmutzigen Händen und beschmiert sich noch das Gesicht.

39 »Hurrle!« sage ich leise. »Hurrle!«

Brigitte schaut mich fragend an. »Warum flennt er denn?«

»Na ja,« würgt Hurrle hervor. »Wann soll ich denn heulen, wenn nicht hier. Dies Lied ist mein Lieblingslied. Was wißt ihr von diesem mexikanischen Lied! La Paloma! Drei Jahre bin ich vorm Mast gefahren, was glaubt ihr, wie oft wir's gesungen haben in einsamen Nächten auf dem wilden Wasser. Auf allen Meeren wird dieses Lied gesungen, und jetzt bläst es sogar der König aller Nachttöpfe.«

Schluckebier ist zu Ende. Er kriegt es stark mit dem Luftmangel. Wir sind ganz sentimental geworden, ach was, ich glaube, wir sind alle zusammen betrunken. Laßt uns schlafen gehen.

Herr Schluckebier und Tochter schlafen im goldenen Ochsen, Hurrle schlüpft in den Heuspeicher und ich, als Beschützer des Porzellans, darf im Wagen schlafen. Lohengrin hat sich neben der Kiste auf einem Bündel Stroh zusammengerollt.

Da liege ich nun im weichen Packmaterial, und um mich ist viel Porzellan versammelt. Ein Fremdling, so bin ich hier eingedrungen und habe mir eine Bleibe für die Nacht gesucht.

Lange noch bin ich wach, schaue durch die Wagenöffnung ins Freie und sehe die Sterne an mir vorüberwandern. Es ist eine blühende Sommernacht. Und viel ferne Stimmen sind wach in dieser klingenden Dunkelheit. In solchen Nächten hört man die Melodie der Welt verborgen tönen, aber man muß ein waches Ohr haben für die verschlossenen Geräusche der Ewigkeit.

Ich liege im Heu und segle immerfort dahin; auf einer Kugel bin ich, auf einer kurios bevölkerten Kugel, auf einem Stern, kann man auch sagen, auf einem Stern, wie sie da oben ungezählt an mir vorübertreiben, geheimnisvolle Barken der Unendlichkeit. Und auf meinem Stern sind Leid und Freude, Tod und Qual, Liebe und Grausamkeit, Schönheit und Brutalität in buntem Chaos vereinigt und treiben ihr bewegtes, nimmersattes Spiel.

Und die Übermacht der Welt kann sich spiegeln in der engen 40 Brust eines Menschen. Vielleicht auch in der Brust jeder andern Kreatur; wir wissen es nicht.

Oh, über euch Gedanken, über euch Nachtgedanken!

Ein Schatten! Ein Schatten am Eingang des Wagens.

»Du, Stephan!«

»Ja. Wer ist denn da?«

Der Schatten schlüpft zu mir herein.

Er kommt nicht von einem fremden Stern herunter. Bewahre, er kommt aus dem Gasthaus zum Ochsen. Der Schatten ist die Porzellanbrigitte. Schon kauert sie eng an meiner Seite.

»Ich fürchte mich so vorm Gewitter, Stephan.«

»Gewitter? Es ist heller Sternenhimmel. Es ist kein Gewitter.«

Noch enger rückt sie an mich heran. Sie zittert am ganzen Körper.

»Es ist bestimmt kein Gewitter, Brigitte.«

»Es kann aber eins kommen, Stephan.«

Man soll mir glauben, wenn ich sage: wir segeln durch den Raum; wir segeln immerfort durch den Raum und sind vor uns selber Gespenster. Und Nächte gibt es, die man nicht verschlafen darf.

Ein Verzauberter bin ich in verzauberter Nacht. 41

 


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