Roland Betsch
Die Verzauberten
Roland Betsch

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Das Wirtshaus zur Lilie gefällt mir nicht

Es ist eine recht einsame Gegend hier. Bewaldete Berge haben sich dichter zusammengeschoben. Durch enge Wiesentäler zieht die Landstraße. Lange muß man wandern, bis das nächste Dorf kommt. Es ist wirklich keine liebliche Landschaft, die uns aufgenommen hat; nein, sie ist hart und dürftig und arm und verschlossen. Die Wälder sind von einer ragenden Einsamkeit. Wenn man auf die Bergkuppen hinaufsteigt, dann findet man alte Eichen, verwachsene Eigenbrötler, melancholische Sonderlinge. Sie stehen da und haben nichts als eine starre Resignation. Und aus dem Boden wühlen sich riesige Sandsteinquader hervor; Felsgetrümmer in grotesker Formenbildung, ausgewaschen und unterhöhlt vom Schmelz- und Regenwasser der Jahrtausende. Weit und groß sind diese Wälder und ohne geebnete Pfade; sie sind stehengeblieben im Strom der Zeit; die unruhigen Jahre sind an ihnen vorübergerast. Wer weiß, vielleicht schlafen sie, diese Wälder, in denen das große Schweigen wohnt.

Die letzte Nacht haben wir in den Wäldern geschlafen. Tief eingedrungen sind wir in das Herz des Landes; und wir haben unter Tannen gelegen im Moos. Um uns waren die Stämme versammelt; viele hundertjährige Stämme. Hoch oben über ihre Wipfel ist die gestirnte Nacht gezogen; bei uns aber lag die Finsternis, und sie war satt und blind.

Eine Eule ruft. In diesen Wäldern gibt es noch Eulen; sie sind die schwarzen Sendboten der Nacht. Wir hören sie nicht, wenn sie mit gespenstischem Flügelschlag an uns vorüberstreichen. Manchmal durchgellt der Todesschrei eines Tieres die würgende Stille.

Durch dieses Gebirge wandern wir, und es will schon wieder Abend werden. Da kommen wir an ein Haus. Es ist ein unfreundliches Haus und steht an der Landstraße. Der Putz bröckelt von 52 den Wänden, und an der Wetterseite klettert das Moos bis zum Dach. Dieses Dach ist alt und verludert, es hat lange keinen Dachdecker gesehen. Die Fenster sind schmutzig und mit elenden Vorhängen trostlos behängt. Das Glas ist zum Teil gesprungen, und man sieht deutlich Spinnweb in den Ecken kleben. Nein, dies sind keine anständigen Fenster, man hat wahrhaftig keine Freude an ihnen.

Es hängt da ein verrostetes Schild am Haus. Gasthaus zur Lilie.

»Stephan, was sagst du zu dem Hotel?«

»Eine Spelunke.«

»Da geht einem das Messer in der Tasche auf. Es scheint mir eine richtige Gaunerklappe. Komm rein, da kannst du am Ende etwas lernen.«

Ich schaue mich um; denn ich höre ein rhythmisches Geräusch; als ob irgendwo verborgen eine Maschine liefe.

Es kommt ein Mann vor die Tür, ein ganz verdächtiges Geschöpf. Er hat einen runden dicken Kopf; das Gesicht ist rot verädert und trägt eine platte, unschöne Nase.

»Kunden?« fragt er.

Hurrle übernimmt die Führung.

»Ja. Bist du der Boos?«

»Religion?«

»Ein Apostelklopfer und ein Fettläppchen.«

Der Mann plient uns an; er hat einen eigentümlich stechenden Blick. Ich sehe jetzt seine Ohren. Helft mir, die Ohren! Sie sind dünn, ohne Fleisch und ganz flach in die Länge gezogen. Und die breit ausgewalzten Ohrläppchen sind wie Gummi nach unten gespannt und dort festgewachsen. Solche Ohren hat der sonderbare Mensch.

»Habt ihr Schlummerkies?«

»Gemacht.«

Wir gehen in die Gaststube. Es ist ein niederer Raum, der nach feuchten Wänden riecht. Tisch, Stühle und Bänke. Eine verlotterte Schenke mit Gläsern und Flaschen.

53 »Mensch,« sagt Hurrle, »ich bilde mir ein, ich bin in Montenegro«.

In einer Ecke hocken drei Gestalten im Dämmerlicht. Ich sehe schon, sie spielen ›Meine Tante, deine Tante‹.

Und hinter der Schenke ein Weibstück; eine junge Vettel, farbig aufgeputzt. Eine Schlampe in einer verbruddelten Seidenbluse und einem frech karrierten Rock.

»Bist du die Lilie?« ruft Hurrle, der sich sofort wieder aufspielt und den alten Affen heraushängt.

»Für dein Knopfloch nicht,« gibt sie schlagfertig zurück.

»Bringe uns einen Duft.«

Einer der Spieler ruft mir zu: »Wo hast denn du Kosak den Hund abgehängt?«

Das schmutzige Weib bringt zwei Gläser.

Ein furchtbarer Fusel duftet uns entgegen; unmöglich, das Zeug zu trinken. Hurrle nippt am Glas und verzieht greulich das Gesicht.

»Wenn du davon trinkst, darfst du dich ohne Größenwahn zu den feuergefährlichen Stoffen rechnen.«

Die drei Kartenspieler sind jetzt auf uns aufmerksam geworden.

»Habt ihr keine Lust?« ruft einer herüber.

»Vorsicht vor uns,« entgegnet Hurrle, »wir sind berühmte Freischupper.«

Der Sprecher drüben lacht und spuckt. Er ist ein verwegener Geselle, das sehe ich ihm an; er paßt in diesen Ausschank zu all den fragwürdigen Gestalten.

Wir haben viel Hunger und wenig Geld. Es gibt eine Erbsensuppe mit Speck und einen Fetzen Schwarzbrot dazu. Wo sind wir denn eigentlich? In einer Höhle vielleicht irgendwo auf dem Mond oder in Mexiko oder Südspanien? Dies ist eine Spelunke, wie ich sie Zeit meines Lebens nie betreten habe. Zelle, wo irgendein formloses Verbrechen haust, wo die Kriminalität aus allen Ecken duftet.

»Komm Lohengrin, du wirst Kohldampf haben.« Ich stelle ihm den Teller hin; es ist noch Suppe drinnen und Speck, und ich gebe noch ein paar Brotbrocken dazu. Lohengrin schmatzt den Teller 54 leer und ist dankbar und zufrieden. Ihm ist es gleich, wohin wir gehen und wo wir uns aufhalten. Überall, wo wir sind, ist auch er zu Hause. Er ginge mit uns in Hitze und Kälte, in Überfluß und Hunger, in Leben und Tod.

Der Sprecher vom Tisch in der Ecke stolpert jetzt durch das Gastzimmer, schaut durchs Fenster und bleibt dann vor uns stehen.

»Wollt ihr hier pennen?«

Hurrle schaut ihn an und ich weiß, er wird jetzt etwas Ausgefallenes sagen.

»Wenn ich dich anschaue, dann bilde ich mir ein, ich müßte dir schon einmal zwischen Beil und Feldglocke begegnet sein. Du hast, halte mich nicht für einen Schmeichler, einen genialen Anstrich. Man könnte dich für einen Königsmörder halten.«

Der Angeredete ist ein wenig sprachlos geworden, faßt sich aber schnell und läßt ein widerliches Lachen hören.

»Schon möglich, daß du mich noch an der Plakatsäule siehst. Soll ich euch beiden sagen, daß ihr in einer verkehrten Haut steckt, hä? Ihr riecht nach Bürgerlichkeit. Wenn ihr im Druck seid, will ich euch gern ein neues Fell anmessen.«

»Liebenswürdiger Fitzer.«

»Wer bist du denn eigentlich mit deinem losen Maul? Hast du die Nase schon mal in die Welt reingesteckt?«

Das ist etwas für Hurrle. Er rückt mit dem Stuhl.

»Ich bin drei Jahre vorm Mast gefahren, mein Püppchen; ich habe mit Gauchos und Pferdedieben Schmollis getrunken, ich habe nach Gold gesucht und war bei den Walfischfängern. Ich habe Sago gerieben in den Sümpfen von Celebes und Maultierherden über Engpässe getrieben. Bei den schwarzen Zelten war ich und im afrikanischen Busch. Was willst du mir bieten; bitte, womit kannst du mir aufwarten? Rede, du hast fünf Minuten Zeit, zu überlegen. Aber ich sehe schon, daß dir die Spatzen davongeflogen sind.«

Der Kerl ist wirklich still geworden. Er wühlt die Hände in die Taschen, zieht den Kopf ins Genick und verschwindet hinter der Schenke.

55 Hurrle steht auf und geht an den andern Tisch, wo die beiden Spieler sitzen und in die Gläser stieren. Er hat einen verteufelt vorlauten Mund.

Draußen kommt langsam die Nacht über die Berge.

Ich gehe auch zum andern Tisch hinüber; sie sollen nicht glauben, daß wir bange sind. Wirklich seltene Menschen, die hier versammelt sind. Da sitzt einer mit einer blauen Brille und zittert mit den Händen. Er ist total verkommen; die Kleider schlottern am Leib. Er hat keinen Kragen an und im Kragenknöpfchen ist ein roter Flaschengummi, damit das Knöpfchen nicht durch die ausgefransten Knopflöcher rutscht. Im Mund hält er eine Pfeife, aus der ein penetranter Qualm hervorbricht.

»Wenn ich deine Pfeife rieche,« sagt Hurrle, »muß ich an meinen Freund Wassilow denken. Weißt du, was der gemacht hat? Er hat mein ganzes Sofa aufgeraucht. Das war in Sibirien. Dort habe ich ein Sofa gehabt, du kannst es glauben oder nicht.«

Wieder höre ich deutlich das stampfende Geräusch; es ist, als ob schwere Walzen liefen.

»Herr Penneboos, mit Verlaub, was stampft denn hier?«

Der Mann mit den Gummiohren kneift das eine Auge zu.

»Kümmre dich nicht um meine industriellen Anlagen! Die Wasserpumpe ist es, du neugieriger Rabe.«

»Deine Ohren,« sage ich kühn, »sollte man später mal in Spiritus setzen.«

»Kriminelle Ohren!« ruft der Mann mit dem Flaschengummi.

»Schwätzer! Was versteht ihr von Anatomie. Ihr seid nichts als langweilige Gewächse.«

Das sagt der andere Kunde am Tisch. Ich schaue ihn mir genauer an. Der sitzt da und hat die Ellbogen auf dem Tisch. Der Schnaps hat ihn halb gefällt. Die Stirn in bösartige Falten gezogen, stiert er ins leere Schnapsglas. Dieses Gesicht ist intelligent; die Stirn ist hoch, die Nase gebogen, das Kinn gewölbt.

56 »Du hockst da und redest klug,« sage ich zu ihm, da rollt er die Augen nach mir. Viel Unheil, viel verborgenes Grübeln, viel Gedanken treiben im Glanz dieser glimmenden Augen ihr gefährliches Spiel.

»Was willst du denn?« brummt er mich an. »Du hast so ein Madonnengesicht. Bist du mit einem neuen Evangelium im Anmarsch? Willst du die Welt verbessern, wie?«

Er taucht auf aus seiner brütenden Lethargie, ist wie ein lauernder Vogel, der sein Gefieder schüttelt.

»Das will ich eigentlich nicht.«

»Siehst aber aus, als ob du einer von den modernen Psalmisten wärst. Meinst, mit Ideen, hä, mit politischen Ideen könne man den Stein der Weisen finden? Narr, das hat andere Ursachen, das ist höheres Gesetz. Verstehst du mich, was ich meine? Die sogenannte Not unserer Zeit, die Krise, über die so viele Zeitungen und Alleswisser schwätzen, ist höheres Gesetz, sage ich dir; Strömung, Wanderung, Notwendigkeit. Das alles muß sein, man kann es nicht mit internationalen Konferenzen abtun. Halte mich nicht für besoffen, ich bin nur verkommen. Der eine verkommt so, der andere so. Mich hat die Landstraße geschluckt.«

»Wer bist du denn?«

»Alles, nur kein Prophet. Ich sage dir, die Narrheit menschlicher Gedanken, der üble Auswuchs menschlicher Gehirnsubstanz stiftet zuviel Unheil auf der Welt. Nichts bleibt ungestraft. Sie wollten das große Rad anhalten, die Maschine der Menschheitsentwicklung umsteuern, da sind sie in die Sackgasse geraten. Elend ist gekommen in der ganzen Welt. So wie ich vor dir hocke und nach Schnaps rieche, so sitzen sie in allen Ländern der Welt und finden keinen Weg mehr.«

Er wächst aus sich heraus; sein Hals wird lang und dünn, die Adern an den Schläfen schwellen an.

»Das Kapital mußt du wissen, ist in Irrsinn geraten. Die ganze Menschheit wollen sie der Handelsbilanz opfern. Ha ha ha.«

Ein toller Käfig, in dem wir sitzen, angefüllt mit abwegigen 57 Menschen und Armeleutegeruch. Es ist so bunt auf dieser Welt, so haarsträubend grotesk, man findet kein Ende des Staunens.

Der wunderliche Mensch rückt näher an mich heran, er legt seine Hand schwer auf meine Schulter; wüster Atem strömt aus seinem Mund.

»In mir siehst du ein Opfer der Zeit.«

»Man muß aber nicht unbedingt verkommen. Mit Hoffnung in der Brust geht man nicht unter. Wir steigen auch wieder auf aus dem Elend.«

»O du moderner Messias! Du Hellseher. Schau mich mal genau an: ich habe bessere Tage gerochen, aber die beliebten Zeitverhältnisse haben mich gefällt. Ich war Ingenieur; ich habe vorm großen Brett gestanden und konstruiert und berechnet. Turbinenaggregate, mein Freund, mit einigen tausend Kilowatt. Hast du sie mal brummen hören? Hast du eine Ahnung, was Peltonräder sind? Aber sie haben uns leergesaugt, die Mitmenschen jenseits der Grenzen.«

Der Alte mit der Brille meckert und hebt die Arme mit den zitternden Händen. Die Pfeife wackelt im Mund.

»Er ist ein Großer. Er geht in die Spelunken und räsonniert gegen die Weltordnung. Hä hä! Das Rad rollt weiter. Er ist ein Schnapsphilosoph.«

In was für eine Gesellschaft sind wir denn hier geraten? Mit einem Male wird mir unheimlich. Das sind ja Ausgestoßene; die zählen nicht mehr mit; die hängen und baumeln neben der Zeit. Wir zwei, Hurrle und ich, wir gehören nicht zu diesen; nein, nein, wir glauben an die gute Zeit; wir sind erfüllt von der Gewißheit, daß ein Volk nicht so ohne weiteres untergehen kann. Oh, diese Schnapsfanatiker, was haben sie denn vor? Wollen sie Trümmerstätten schaffen; verwüsten, zerstören? Ich wehre mich gegen diese zerlumpten Ansichten. Hier ist eine üble Atmosphäre, bei Gott. Man atmet Unrat und Verkommenheit. In mich fährt ein wildes Aufbäumen, ein naturhafter Widerstand gegen diese Unterweltsdumpfheit. Was tue ich denn eigentlich? Vom Stuhl springe ich auf und rufe in die verqualmte Pest hinein.

58 »Was wollt ihr denn hier? Wir sind noch lange nicht am Ende. Sind draußen keine Äcker und Wiesen? Rauschen nicht die Wälder und die Kornfelder wachsen hoch; und die Kartoffeln gedeihen und die Früchte? Treibt nicht die Erde aus allen Poren, während ihr hier verludert? Drehen sich keine Räder und rollen keine Bahnen und rauchen keine Schornsteine? In welche Schnapspest bin ich denn geraten?«

Hurrle drückt mich in den Stuhl zurück. Eine wilde Lache füllt den stickigen Raum. Was ist denn mit mir? Welch törichtes Geschwätz hier unter Kunden und Galgenvögeln. Ich bin selbst ein Narr; das Leben nebenher, das abseitige Leben, hat mich verhext. So ist es: Hurrle und ich, wir sind verzaubert. Was ich hier erlebe, ist nicht wahr, ist Spuk, Hexendunst, Spiegelfechterei. Unsichtbare Schwarzkünstler sind am Werk. Der Mann mit der Brille gefällt mir nicht; ganz plötzlich wird mir offenbar, daß er ein Verkappter ist, ein Lauscher, der etwas im Schilde führt. Ich lasse mich nicht irremachen: er ist nicht der, für den er sich ausgibt, man muß ein wachsames Auge aus ihn haben!

»Ihr seid ja keine Menschen mehr, ihr seid Gespenster; das Leben hat euch ausgespien; jetzt lungert ihr in Spelunken herum und brütet Unheil.«

Und zu dem Alten mit der Brille und den Zitterhänden: »Warum hockst du hier und zitterst? Ich traue dir nicht; keineswegs traue ich dir. Du bist nichts als eine abgeschmackte Maske. Eine Ratte, aus hohlem Gemäuer gekrochen. Eine Kaschemmenmarionette!«

Plötzlich steht der Wirt hinter mir. Ich wende mich um; böse und bedrohlich wuchtet er im lichtarmen Raum. Warum erschrecke ich? In dem großen Kopf, in dem veräderten, bläulichen Schädel ist nur noch ein Auge. Aus der andern Seite des Gesichts wächst eine Höhle, eine scheußliche Höhle, über die faltig die Lider geschlossen sind.

»Ich will mich hängen,« sage ich, »wenn du vorhin nicht zwei Augen hattest.«

59 »Hier!« kollert der schmutzige Mensch, greift in die Westentasche und holt ein Glasauge hervor. Legt es vor mich auf den Tisch. Da liegt das Auge und starrt mich leblos, aus gläserner Pupille an.

»Manchmal sieht man zuviel Grünlinge und Linkmichel, da ist es besser, man schaut nur aus einem Auge.«

Es bricht ein wüstes, unkultiviertes Gelächter los. Ist der Satan in diese Menschen gefahren!

»Bitte nehmen Sie Ihr linkes Auge fort!« sage ich und muß mich selbst wundern über meine gespreizte Redeweise.

»Du bist so lange frech, bis dir ein paar Zähne fehlen.«

Der Wirt nimmt das Auge vom Tisch und spielt damit Fangball. Hurrle wird mächtig angeregt, und ich sehe ihm an, daß er die Segel setzt. Auch er fängt an, lachhaft geschwollen zu reden.

»Burlesk,« ruft er, »in der Tat burlesk. Mein Herr, gestatten Sie mir einen Augenblick das Auge.«

Er betrachtet es von allen Seiten genau und hat eine teuflische Freude an dem farbigen Glas.

»Ein hübsches Auge, man kann nicht anders sagen. Es schaut einem richtig schlau an. Es ist ein ausgesucht praktisches Auge. Geradezu ein Schmugglerauge.«

»Was?« Der Wirt ist aufmerksam geworden. »Was für Unsinn schwafelst du da? Gib her, du läßt es noch fallen.«

»Verehrte Anwesende, wenn ich dieses Auge betrachte, dann fällt mir blitzhaft mein Freund ein, der Schmugglerkönig Dzimdalla. Dzimdalla war ein Genie. Ich will euch ein Beispiel geben. An der russischen Grenze, als der deutsche Zöllner in den Wagen kam, ging Dzimdalla unauffällig an ihm vorbei und schob ihm ein Kästchen mit Diamanten in die Tasche. Ging in sein Abteil und wartete, bis der Zöllner zu ihm kam. Nach Erledigung der Formalitäten ging er ein zweites Mal an ihm vorbei und stahl ihm das Kästchen wieder aus der Tasche heraus. Das war eine Kleinigkeit für Dzimdalla.«

Der Wirt knurrt: »Was hat denn das mit meinem Glasauge zu tun?«

60 »Na ja, eigentlich wohl nichts. Aber wir fuhren mal über die holländische Grenze und Dzimdalla sagte mir, er wolle paar Karat Diamanten schmuggeln. Bei der Revision wurde er am ganzen Körper untersucht. Er wurde durchleuchtet, weil es schon vorgekommen ist, daß Schmuggler Diamanten verschluckt haben. Sie haben nichts gefunden. Hinter der Grenze zeigt mir der Satan einige prachtvolle Diamanten. Jetzt schlägt's dreizehn, rufe ich, wo hast du die gehabt? Da greift er ans rechte Auge, holt es heraus und siehe, es ist ein Glasauge. In der Höhle hinterm Glasauge hat er die Diamanten geschmuggelt.«

»Mensch, du lügst wie eine Gedenkrede,« spricht der Ingenieur, muß aber doch über Hurrles abenteuerliche Geschichte lachen.

Der Alte mit der Brille hat aufmerksam zugehört. Er grient und muß trocken und gequält husten.

Das Weib kichert, kommt zu uns an den Tisch und setzt sich neben mich. Ich schaue mir das Geschöpf genauer an. Sie hat erbärmlich gefärbte Haare und ein penetrantes Rot auf den Lippen. Die Augen sind verkommen, der Mund ist schmal geschlitzt und von dünnen, fleischlosen Lippen umlagert.

»Na Kleiner,« sagt sie und fährt mir gegen die Haare über den Kopf, »bist du gar nicht ein bißchen verliebt?«

»Du bist des Teufels Kalle,« antworte ich und sehe, wie sich Hurrle freut, weil ich rotwelsch rede.

Sie kreischt schrill und kratzt sich in der fetten Windstoßfrisur.

»Kratze nur, Kind, wenn dich die Eidgenossen beißen.«

Der Dritte kommt jetzt wieder durch die hintere Tür. Er hat ein rechtes Ganovengesicht. Er stellt sich vor uns an den Tisch, wühlt mit den Händen in den Taschen und klimpert mit Geldmünzen.

»Will keiner von euch sein Glück versuchen? Ich sehe, ihr habt alle keine Asche. Ihr seid ein trauriges Gesindel.«

Mir wird plötzlich diese Gesellschaft maßlos zuwider. Das sind gefährliche Desparados, und außerdem führen sie irgend etwas im Schild. Es ist eine geladene Atmosphäre im Raum, und ich weiß ganz bestimmt, daß sich etwas ereignen wird.

61 Da hockt dieser Alte mit der Brille und zittert. Ich beobachte ihn genau, werde aber nicht klug aus ihm. Er hat eine höchst verdächtige Doppelrolle; irgendwie wird er sich entpuppen, er wird sich plötzlich magisch verwandeln, diese Gewißheit ist in mir. Neben ihm der Ingenieur, ein intelligenter Bursche, der unter den Rädern ist; ein gefährlicher Grübler und fanatischer Ränkeschmied. Und der Dritte spielt sich als starker Lukas auf, er zieht den Kopf ins Genick und will gewaltsam die Unterwelt repräsentieren. Der Wirt: ein Verbrecher, eine Kreatur jenseits der Zivilisation. Zwischen diesem Quartett eine verlebte Dirne, verscheuchtes und zerrupftes Huhn, das hier noch einen letzten Unterschlupf gefunden hat. Ich wundre mich nicht, wenn bald Opium geraucht wird. In dieser Hintertreppenszene wirken wir mit, und Hurrle hat sogar eine besondere Freude, auf dem Personenverzeichnis zu stehen. Ich aber will ein wenig hinausgehen, wo frische Luft weht, ich halte es hier bei Gott nicht mehr aus; die Tonart in diesem muffigen Raum liegt wie Gewicht auf mir. Ich zweifle nicht daran, daß ich auf der Kehrseite des Lebens bin, in einem Schattenbezirk, wo Unheil und Zersetzung ausgebrütet werden.

Ich sage zu Hurrle, daß ich einmal hinausgehen will, erhebe mich und taumle durch die qualmige Dämmerung. Lohengrin kommt hinter mir her. Gerade als wir zur Tür hinauswollen, fährt draußen ein Auto vor. Es ist ein altes, ausgedientes, gichtbrüchiges Auto; eine jämmerliche Benzinfuhre geradezu. Ein Wunder nur, daß dieser Blechkasten auf Rädern überhaupt noch fährt.

Am Steuer hockt ein Lump; ja, er ist ein Lump, man kann nicht anders sagen. Ein solches Gesicht begegnet einem sonst nur in Gerichtssälen. Wie sie nur alle hier so zusammenfinden, denke ich und trete mit Lohengrin ins Freie. Der verdächtige Kraftwagenführer steigt aus dem Wagen, mustert mich aus stechenden Augen und zieht die karrierte Mütze noch tiefer ins Gesicht. Übers Kinn läuft eine Narbe, die gewiß von einem ausgerutschten Messer herrührt. Wenn der Mann geht, dann hebt er sich bei jedem Schritt auf die Zehenspitzen, und da er von hagerer Gestalt ist, wirkt er 62 solchermaßen wie ein Stelzvogel, wie ein struppiger, alter Kronenreiher etwa, dem Jahre der Gefangenschaft den ganzen Schmelz des Gefieders genommen haben. Er steht jetzt an einem Fenster und späht durch die schmutzigen Scheiben. Ein Pfiff ertönt. Ich verstecke mich mit Lohengrin hinter den Bäumen. Der Hund brummt und rumort.

»Still, Lohengrin; still!«

Eine Gestalt kommt ums Haus, von der Hofseite her. Ich will mich hängen, wenn das nicht der Wirt selber ist, der widerliche Einäugige mit den Gummiohren und dem veräderten Gesicht. Er ist beladen mit Paketen. Sie werden ins Auto gebracht. Die beiden unterhalten sich eine Weile flüsternd.

Der Kronenreiher springt ins Auto und stänkert und knattert davon. Der andere verschwindet hinterm Haus.

In der Tat, eine reichlich dunkle Angelegenheit. Was mag in den Paketen sein?

Einerlei, ich will mich nicht mehr darum kümmern. Es lockt mich, mit Lohengrin in den Wald zu gehen. Zwischen Stämmen und Sandsteinfelsen geht es aufwärts. Ich steige langsam, gewinne mehr und mehr an Höhe und bin bald ganz oben, wo der Wald abgeholzt ist und eine Lichtung den friedlichen Abendhimmel freigibt.

Oh, diese Stille. Wie tief man hier atmen kann. Es riecht nach Harz und Waldmoos; nach Baumrinde und nach feuchtem Humus. Die einsame Landschaft strömt ihren Duft aus; Wind bewegt die Wipfel, und man sieht Raben durch die wunderbare Dämmerung segeln. Zwischen den verschlafenen Felsen wächst Heidekraut, und ich sehe auch Heidelbeersträucher. Wenn ich genau hinschaue, finde ich blaue Beeren. Sie schmecken herb und kühl, und man hat Freude, sie zu essen.

Komm, Lohengrin, wir wollen uns ins Heidekraut legen und mit vollem Winde segeln.

Du und ich, wir sind verschwistert mit der Landschaft; wir kommen nicht los von der Erde. Auf dem Gipfel des Berges liegen 63 wir; Bäume sind um uns, eine große Schar stumm neugieriger Zuschauer. Sie sind mit uns heraufgewandert in die Höhe, vielleicht weil sie, wie du und ich, das Unaussprechliche suchen. Da stehen sie jetzt und rauschen im Südwind. Und in ihre Wipfel fällt langsam und schwer die Nacht ein; die große Wäldernacht, der ewige Wanderer von Ost nach West.

Mit erhobenem Kopf liegt Lohengrin in den Kräutern. Er kann nicht ruhen; denn es gibt zuviel Unruhe für seine Nase; er wittert ungeheure Dinge. Die Nase ist feucht und unaufhörlich bewegt; er wendet den Kopf nach allen Seiten; ich denke, er wird wohl das Wild wittern; das Reh und den Hasen; die schnürenden Füchse und den schleichenden Marder. Im Geäst verborgen mögen Raubvögel sitzen; die Fänge umklammern den Ast, und sie spähen mit den Riesenlichtern auf uns Fremdlinge. Lohengrin schaut mich an; in seinen Augen spiegeln sich Höhe und Bäume und das wilde Felsgezack. Mir fällt ein, daß irgendwo eine Spelunke ist; ein wüster Raum, angefüllt mit Gestank, Verkommenheit und gestorbenen Menschen; eine verlorene Höhle, in der die giftigen Pilze des Verbrechens wuchern. Mitten im Glanz und Segen der Landschaft steht dieses Gebäude; wilder Horst von Raubvögeln absonderlicher Art. So tausendfach bunt, so genial verzaubert ist das Leben, daß auch diese existenzlose Variation nicht fehlen darf. Ich sehe ein und begreife, daß auch diese Lasterhöhle dahinvegetieren muß. Sie ist nichts als ein scheußlich romantischer Schatten, ein dumpfer Winkel, wo sich Unrat sammeln und Verzweiflung.

Das Lebendige geht hier vorüber. Auch wir wollen vorübergehen. Es war nichts als ein graues Schattenspiel.

Plötzlich fällt ein Schuß. Der scharfe Knall kommt durch den Wald zu mir herauf.

Lohengrin ist aufgesprungen. Seht, wie er dasteht! Alle Muskeln sind gespannt. Eine Bronzefigur, vor die dunklen Stämme gestellt. Wir müssen hinunter. Dieser Schuß bedeutet nichts Gutes.

Das Gasthaus zur Lilie gefällt mir nicht. 64

 


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