Hans Bethge
Der gelbe Kater
Hans Bethge

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Gelegentlich eines Todes

Ich bin, ach, Privatdozent für deutsche Geschichte an der Universität X. Ein befreundeter Gelehrter teilte mir mit, dass auf dem alten Grafenschlosse L . . . in der Altmark noch wertvolle Manuskripte aus dem XVI. Jahrhundert verborgen liegen müssten. Diese Vermutung war, da ich für jene Zeit ein besonderes Interesse hegte, für mich von Wichtigkeit. Zuweilen musste ich so lebhaft an die in L . . . schlummernden Schätze, die meiner Fantasie bald zu richtigen Goldbergen wurden, denken, dass es mich trieb, schnell einen Zug zu nehmen, nach L . . . zu fahren und an die Hebung der Reichtümer zu gehen. Eines Tages wurde dieser Wunsch so lebhaft, dass ich mich entschloss, seine Erfüllung nicht länger hinauszuschieben. Ich richtete also an den Grafen Bernhard von Y. in L . . . eine Anfrage, dahin gehend, ob er mir erlauben wolle, in der Bibliothek seines Schlosses einige Tage zu arbeiten. Ich erhielt umgehend ein mit dem Siegel des Grafen versehenes Schreiben, in dem mir kurz mitgeteilt wurde, Graf Bernhard sei zwar zur Zeit schwer erkrankt, es sei mir jedoch gern erlaubt, die Schlossbibliothek zu Arbeitszwecken zu benutzen. Ich könne mich zu einer mir beliebigen Zeit im Schlosse einfinden, man würde mir die Bücherei alsdann öffnen. Das Schreiben war von dem Schlossverwalter unterzeichnet.

Ich war über diese Mitteilung erfreut, und des Abends 149 an unserem Stammtisch erzählte ich geheimnisvoll, dass ich auf einige Tage unserem Universitätsstädtchen den Rücken kehren würde, um in den Mauern eines alten Ritterschlosses romantische Abenteuer zu erleben. Als ich dann deutlicher wurde, von dem Zweck meiner Reise sprach und den Namen des märkischen Ortes nannte, kam eine freudige Überraschung in das Gesicht unseres lieben S., eines geschätzten Arztes, der sich trotz seiner grauen Haare noch mit Überzeugung zur Jugend zählte. Er schob die Brille hoch, sah mich mit seinen kurzsichtigen Augen an und sprach:

»Nach L . . . wollen Sie? Nach L . . . in der Altmark? Ja, besser kann es ja gar nicht passen! Sie müssen wissen, dieses L . . . ist ein Nest, ein richtiges Sandnest, und Sie würden dort umkommen vor langer Weile, wenn ich Ihnen morgen nicht ein Schreiben mitgäbe, das Sie in L . . . meinem alten Jugendfreunde Peter E. unter herzlichen Grüssen von mir einzuhändigen haben. E. ist im gleichen Alter mit mir, verheiratet, und Sie werden die liebenswürdigste Familie kennen lernen, wo Sie die in L . . . sonst grauenhaft langweiligen Abende zubringen können. Das heisst wenn Sie es nicht vorziehen, sich dem Schullehrer vorstellen zu lassen und mit ihm in der Kneipe Skat zu spielen.«

»Ich werde das nicht vorziehen« sagte ich.

»Gut also. Gehen Sie zu E's. Ich wünschte, ich dürfte mit Ihnen fahren und mit meinem Peter wieder einmal die alten Jugenderinnerungen auffrischen, die uns so goldig sind. Wir sind Kameraden vom Gymnasium her und haben die Klassen miteinander durchgemacht. Auch auf der Universität waren wir die ersten anatomischen Semester zusammen. Er sattelte dann um und wurde Kaufmann. Doch haben 150 wir unsere alten Beziehungen immer lebendig erhalten. Das letzte Mal war er vor einem Jahre mit seinem ältesten Jungen bei mir. Er hat nun schon seit Jahrzehnten sein Geschäft in L . . ., von wo aus er die andern Nester der Provinz mit Kaffee und Zucker versorgt. Eigentlich ist es schade um ihn. Er hatte das Zeug in sich, ein tüchtiger Arzt zu werden.«

So Freund S. Diese merkwürdig glückliche Fügung der Umstände kam mir natürlich sehr gelegen. Am nächsten Abend erhielt ich, wie versprochen, den an die Familie E. in L . . . gerichteten Brief. Den Morgen darauf dampfte ich schon nach der Altmark ab.

In L . . . angekommen, tat ich zunächst einen Gang durch das Städtchen. Es war ein stiller, altertümlicher Ort, die Häuser standen noch grossenteils mit den Giebeln nach der Strasse zu, und in gewissen, beträchtlichen Abständen hingen an dicken, von der einen Häuserflanke zur andern hinübergespannten Leinen unförmige Öllaternen. Am Ende des Ortes ragte das Schloss auf. Es lag am Ufer eines kleinen Flusses und zwar so, dass man von der Stadt her nur auf einer breiten Steinbrücke hinübergelangen konnte. Das Schloss war ein trotziger Bau aus stark gedunkeltem Sandstein, an einzelnen Stellen von Epheu umrankt, und lag in seiner Verwahrlosung so malerisch an dem trüben Wasser da, wie man sich ein altes Schloss in der Mark nur irgend vorstellen kann. Hinter dem Bau dehnte sich ein weitläufiger Park mit riesigen alten Bäumen aus, und ein flüchtiger Blick in diese Einsamkeit verriet, dass auch hier eine pflegende Hand nur selten oder niemals waltete. Ich überschritt die Brücke und trat durch das geöffnete Portal 151 des Gebäudes ein. Damit befand ich mich in einer kühlen, gewölbten Halle, in die eine ganze Anzahl hoher Flügeltüren mündete. Zwischen den einzelnen Türen hatten Ritterrüstungen Aufstellung gefunden. Ein Diener trat an mich heran und fragte nach meinen Wünschen. Ich bedeutete ihm, dass es mir lieb wäre, wenn ich den Schlossverwalter sprechen könnte. Der Diener bat mich, einen Augenblick zu warten, verschwand durch eine der zahlreichen Türen, kehrte kurz darauf zurück und forderte mich auf, näher zu treten. Durch einige einfach ausgestattete Räume wurde ich in das Zimmer des Schlossverwalters geführt. Ein älterer Mann von ruhigem Wesen trat mir entgegen. Ich nannte meinen Namen, dankte für die Erlaubnis, die Bibliothek des Schlosses benutzen zu dürfen, und erkundigte mich nach dem Befinden des Grafen. Ein bedenkliches Wiegen des Kopfes war die Antwort und deutete an, dass es nicht gut stehen müsse. Darauf fragte ich, ob ich mich am nächsten Morgen zu einem ersten Besuch der Bibliothek einstellen dürfe und erhielt zur Antwort, dass mir der Besuch jener Räume zu jeder Stunde gestattet sei. Dann verabschiedete ich mich. Als ich wieder die kurze Brücke passirte, brach schon die Dämmerung herein, und die Mauern des Schlosses und ihre stillen Fenster spiegelten sich wie ein altes Träumen der Vergangenheit in dem träge rinnenden Flusse. In dem Park drüben klangen die Wipfel merkwürdig raunend zusammen und führten Gespräche, die kein Lebender deuten kann. Sonst war kein Laut in diesem einsamen gräflichen Besitztum zu vernehmen. Einst mochte es anders gewesen sein. Als die Zinnen auf dem Turme noch golden waren und bunte Fahnen wehten und blinkende 152 Karossen mit stampfenden Pferden vor dem Portale standen . . .

Ich liess mich nach der Wohnung des Herrn E. weisen und befand mich bald vor einem stattlichen, zweistöckigen Bürgerhause, das in seiner vornehmen Ruhe ein Zeuge der Wohlhabenheit seines Besitzers war. Ich fand Herrn E., einen rüstigen Fünfziger von behaglichstem Äusseren, zu Haus und überreichte ihm den Brief seines Freundes. Als er ihn geöffnet und gelesen hatte, gab er mir beide Hände, hiess mich in seinem Hause willkommen, bat mich, mit dem Wenigen vorlieb zu nehmen, was er mir in L . . . bieten könne, und fragte endlich, wo ich mein Reisegepäck deponirt habe. Als ich ihm sagte, dass es sich im Gasthof befände, erbat er sich die Erlaubnis, es in sein Haus überführen zu dürfen, da ich bei ihm und nicht im Gasthof Wohnung zu nehmen hätte. Man würde mir das gleiche Zimmer anweisen, in dem auch unser gemeinsamer Freund S. zu wohnen pflege, wenn er sich einmal nach L . . . verirre, was leider viel zu selten geschähe.

Ein Sträuben gegen so viel Liebenswürdigkeit war nutzlos, und ich hatte mich, was mir nicht schwer fiel, zu fügen. Herr E. schickte jemanden nach dem Gepäck aus und benachrichtigte seine Frau, die er für den Augenblick entschuldigte, von meiner Ankunft. Dann liessen wir uns in seinem dunkelnden Arbeitszimmer in Gesellschaft der vortrefflichsten Havanas nieder und plauderten. Zunächst natürlich von unserem Freunde S., dann von der Universität, von den Verhältnissen des Städtchens L . . ., und endlich kamen wir auch auf meine Handschriftensuche und somit auf das graue gräfliche Schloss zu sprechen. Ich fragte, was das 153 mit dem Grafen Bernhard sei, wie es um die gräfliche Familie stehe und welche Verhältnisse überhaupt auf dem Schlosse walteten. Denn es schiene mir, dass dort Alles dem Verfall entgegen ginge.

Herr E. nickte, stiess ein paar Rauchwolken vor sich in die gemütliche Dunkelheit und sagte dann:

»Das ist ein böses Thema, auf das wir da kommen. Unser armes Schloss – es sieht schlimm aus da, schon seit langer Zeit. Nun, es wird ja wohl bald Alles ein Ende haben.«

»Ein Ende?«

»Der Graf macht es nicht mehr lange. Er ist der Letzte seines Stammes. Mit ihm erlischt die Familie, und das Schloss fällt an das Reich zurück.«

»Was ist er für ein Mensch?«

»Er ist einer von den Schlimmsten. Es hat niemals eine freundliche Beziehung zwischen ihm und der Stadt bestanden. Wir haben mit dem Schlosse nichts zu tun. Wenn es aber einmal Dinge zwischen den beiden Teilen zu ordnen gegeben hat, so waren sie unerquicklicher Art. Er ist ein Mann, mit dem man die kleinen Kinder schreckt.

Jahrelang war unser Schloss nichts weiter als eine Sündenburg, mit Hallo und Hussa, mit Frauen aus aller Herren Ländern, in einem ewigen, wüsten Taumel. Dann ist er lange Jahre fort gewesen, nur um hin und wieder auf kurze Tage in sein Haus zurückzukommen, und hat sein Vermögen allmählich in Ostende und Nizza verspielt. Nach und nach ist seine Gesundheit in die Brüche gegangen, und nun haben wir ihn wieder hier, um ihn bei Gelegenheit in die 154 Grube zu senken. Sein Licht flackert bloss noch, bei dem geringsten Luftzug muss es erlöschen. Er ist vereinsamt und verbittert. Er hat keine Seele um sich, die ihn liebt, sondern nur kalte Diener, die ihn fürchten. Er hat nichts, an das er glaubt, und nichts, das ihn tröstet. Er ist ein unglücklicher Mensch, und bei seinem Tode wird manchem das Herz leichter schlagen, aber es wird sich kein Auge mit Tränen füllen.«

Herr E. machte eine kleine Pause; dann fuhr er fort:

»Ich bin übrigens einmal in nähere Beziehungen zu seinem Leben getreten, zwar nicht zu ihm persönlich, aber doch zu zwei armen Geschöpfen, denen er das Dasein vergällt hat. Es gab hier in unserem Ort ein wunderhübsches Mädchen, die schöne Gustel wurde sie geheissen und war armer Eltern Kind. Graf Bernhard, dem ihre Schönheit nicht verborgen blieb, wusste es einzurichten, dass sie eines Tages als Dienerin auf das Schloss kam. Es dauerte nicht lange, da hatte er sie verführt; und wieder nicht lange, da hatte er sie, da er ihrer satt und müde war, vor die Tür auf die Strasse gewiesen. Das Mädchen hatte ein Kind zu erwarten, und da das väterliche Haus der Ärmsten verschlossen blieb, musste sie gehen, sich ein Zimmerchen zu mieten, um ihrer Stunde entgegenzuharren. Aber auch die andern Leute des Ortes riegelten die Türen vor dem Mädchen zu, als ob sie etwas Unreines wäre. So wanderte sie von Haus zu Haus und fand kein gastliches Dach. Meine Frau und ich ärgerten uns über die Blödheit der Menschen, und da wir gerade ein paar Zimmer in unserem Hause, drüben auf der andern Seite der Hausflur, gut entbehren konnten, gaben wir sie ihr. 155 Sie ist uns dankbar dafür gewesen bis an ihren frühen Tod, denn sie war im Grunde ein gutes Geschöpf. Die sittlichen Leute haben erst die Köpfe geschüttelt und viel geredet über unser unverständliches Tun. Nachher sind sie still geworden. Meine Frau wusste es einzurichten, dass die kränkliche Gustel allerlei Handarbeit zugewiesen bekam, Nähereien und Stickereien, die ihr über die Not des Lebens einigermassen hinweghalfen.

Dann wurde das Kind geboren. Liebetraut nannte sie den Jungen. Es war ein unseliges Wurm, wie ihm nur eine so verkümmerte Mutter das Leben schenken kann. Es hatte blöde Augen, und der Körper war missgestalten. Aber es blieb am Leben und wuchs heran, und als es ein kleiner Geselle von vier, fünf Jahren war, gab man ihm ein Paar Krücklein unter die Arme, an denen es sich mühsam hinweghalf. Die andern Kinder mochten nichts wissen von der hässlichen Gestalt, sie hatten eine instinktive Angst davor. So war das Kind zumeist darauf angewiesen, sich mit sich allein zu beschäftigen, wenn sich nicht gerade seine Mutter mit ihm abgab. Auch an unserem Tiras, einem alten Neufundländer, der nun auch tot ist, hatte es einen treuen Kameraden und Beschützer. Der Hund liess sich Alles von dem Kleinen gefallen, und wenn sie sich beide zusammen auf der Strasse zeigten, so wagte es kein vordreister Junge, den kleinen Krückenmann zu schmähen, was sonst nicht selten geschah. Eines Tages, es war mitten in der Sommerhitze, ich werde es nie vergessen, unternahmen die beiden Freunde, Tiras und der humpelnde Liebetraut, wie sie es schon öfter getan hatten, einen weiteren Spazirgang vor die Tore der Stadt, dem Flusse zu. Draussen auf der Chaussee kam ihnen ein 156 Reiter entgegen. Es war Graf Bernhard. Das Pferd des Grafen, so heisst es, scheute. Er vermochte es nicht zu zügeln und nicht zu verhindern, dass das Tier dem blassen Kinde, das nicht so schnell ausweichen konnte, einen Schlag mit dem Huf versetzte. Andere wollen es besser wissen und erzählen sich mit leiser Stimme, Graf Bernhard habe wohl gewusst, was er getan, und habe nur die günstige Gelegenheit benutzt, der kleinen Missgeburt, die ja sein leiblicher Sohn war, den Weg aus dem Leben zu erleichtern. Wie dem auch sei: der kleine Mann lag da, bewusstlos, mit blutendem Schädel, und die beiden Krücken lagen neben ihm. Tiras soll nach dem Geschehenen schäumend an dem Reiter emporgesprungen sein und ihm das Kleid zerfetzt haben, doch ohne ihn ernstlich zu verletzen. Der Hund hinkte und verkroch sich, als er in das Haus zurückkam. Sie konnte nicht reden, die arme Kreatur, aber es werden wohl die Peitschenhiebe des Grafen gewesen sein, in denen seine Schmerzen ihre Ursach hatten.

Der blutende Liebetraut wurde seiner klagenden Mutter bewusstlos ins Haus getragen. Der Arzt kam und schüttelte den Kopf. Er verband den Kleinen, man brachte ihn ins Bett, und dort hat er noch drei Wochen etwa gelegen, von seiner zarten Mutter gepflegt und behütet. Dann tat er schweigend die müden Augen zu und rührte sich nicht mehr. Die Gustel warf sich über ihn hin und klagte laut. Das Kind war das Einzige auf der Welt gewesen, was sie liebte, und an das sie ihre Liebe ungeschmäht verschenken durfte. Ich hörte sie weinen, ging hinein zu ihr und fand sie so, in tiefer Verzweiflung, über dem Bette liegend. Es war rührend zu sehen, mit welchen überschwänglichen 157 Liebesworten sie den kleinen, hässlichen Balg, der ihr doch nur ein Schmerz gewesen war, überschüttete. Sie wollte ihn kaum hergeben, als man kam, ihn in die Grube zu legen. Und als sie dann allein war, wandelte sie im Hause herum wie ein lebloser Schatten, sie ist nie wieder ganz gesund geworden und hat das Haus nur noch verlassen, um sich zuweilen draussen im Garten zu ergehen. Sie siechte langsam hin, es gab keine Rettung für sie und war nutzlos, wenn man ihr hin und wieder Zerstreuungen zu verschaffen suchte, um sie dem Leben wieder näher zu bringen. Es war noch nicht ein Jahr seit dem Tode des Kindes verstrichen, da schafften wir auch sie hinaus und gruben sie zur Seite des kleinen Liebetraut ein. –

Morgen werde ich Ihnen ein Bild der schönen Gustel zeigen, aus der ersten Zeit, da sie bei uns wohnte, und Sie werden mit Staunen sehen, wieviel Lieblichkeit in diesen bleichen Zügen war. Mein Junge, der Student, der ein halber Maler ist, hat sie abkonterfeit, und ich finde, es ist ihm gut gelungen. Das Bild ist drüben in der Hausflur. Ich würde Sie sogleich hinüberführen, damit Sie es sähen, wenn es nicht so hoch hinge und deshalb für eine Betrachtung bei Tage geeigneter wäre.«

Wir wandten unser Gespräch anderen Dingen zu. Herr E. erzählte von seinem Sohn, dem Studenten, mit dem er mich nicht bekannt zu machen bedauerte, da der Junge die Ferien gerade dazu benutze, eine Reise nach dem Süden zu machen. Dafür lernte ich dann bald die beiden andern Kinder Herrn E.'s kennen, die sich hinter dem Hausmädchen, das uns die Lampe brachte, ins Zimmer stahlen, ein etwa zwölfjähriges, niedliches Fräuleinchen mit Namen Gertrud 158 und einen Jungen, Fritz, von neun Jahren, der in Kürze in Pension gebracht werden sollte, um ein Gymnasium zu besuchen. Bald darauf trat auch Frau E. zu uns ein, eine liebenswürdige Dame mit noch fast mädchenhaften Zügen, deren sicherem und vornehmem Auftreten man die Erziehung der Grossstadt anmerkte. Sie lud uns zum Abendessen ein, und wir begaben uns kurz darauf gemeinsam in das Esszimmer hinüber. Der kleine angehende Sextaner hatte sich bereits vertraulich an meinen Arm gehängt, und bald sassen wir behaglich um den runden Familientisch beisammen, auf dem die Theeterrine summte, liessen es uns schmecken und plauderten in fröhlicher Stimmung, wobei das Thema vom Schlosse ausser Berührung blieb.

Nach Tisch blieb man noch gemütlich bei einer Tasse Thee versammelt. Ich musste allerlei Schnurren für die Kinder erzählen, und die Zeit verging uns, ohne dass wir es merkten. So kam die Stunde heran, wo die Kinder sich zu Bett begeben mussten. Sie verabschiedeten sich, das Hausmädchen brachte die blonde Gertrud in ihr Zimmer, und der pausbackige Fritz schritt mit einem Leuchter in die Hausflur hinaus, um sich in sein drüben gelegenes Schlafgemach zu verfügen. Einige Augenblicke blieben wir Erwachsenen allein, dann öffnete sich die zur Hausflur führende Tür, und der kleine Fritz stand totenbleich, zitternd und ohne ein Wort sprechen zu können, vor uns in dem Türrahmen. Frau E. schrie auf, als sie den Knaben so sah, stürzte an die Tür und schlang ihr Kind in die Arme. Auch Herr E. hatte sich erhoben und war aufs höchste bestürzt. Der Knabe wurde ins Licht an den Tisch geführt, die Eltern liebkosten ihn, betrachteten ihn mit sorgenvollen 159 Augen und fragten, was geschehen sei. Fritzchen hatte zu weinen angefangen und konnte noch immer nicht sprechen. Endlich rang es sich von seinen Lippen los:

»In – meinem – Bett – – es – liegt – Einer – in – meinem – Bett –«

Damit schüttelte sich das Kind, und der Schrecken, den es erlebt hatte, schien von neuem vor das Geschöpfchen hinzutreten.

Wir sahen uns überrascht an. Was war das, was das Kind da stammelte? Sollte es durch eine Einbildung in einen solchen Zustand der Angst versetzt sein? Der Vater fragte Fritzchen begütigend:

»In Deinem Bett, Kind? Du hast dich sicher getäuscht. Das Licht hat geflackert, und Du hast nicht klar gesehen.«

»Nein, nein, Papa – es liegt darin – es ist – der kleine – Liebetraut –«

Der Vater zündete schweigend eine andere Lampe an und ging, um nachzusehen. Ich folgte ihm. Als wir in die Hausflur traten, gab es dicht vor uns erst einen dröhnenden Schlag, dann ein Geklirr, wie von zersplitterndem Glas. Als wir näher hinschauten, was es sei, fanden wir, dass das Bild der schönen Gustel von der Wand gefallen war. Wir schritten daran vorüber in das Schlafzimmer des Kindes. In dem Bett lag niemand. Die Kissen waren unberührt. Wir blickten in alle Ecken und Winkel, es war nichts zu finden.

»Es ist eigentümlich« sagte Herr E. »In diesem Bettchen ist der kleine Liebetraut gestorben.«

Dann begaben wir uns in die Essstube zurück. In der Flur mussten wir wieder an dem herabgefallenen Bilde 160 vorbei, ein paar Glassplitter knirschten unter unseren Sohlen. Herr E. nahm das Bild mit in die Stube und lehnte es dort an die Wand. Der kleine Fritz war unterdessen auf dem Schoss seiner Mutter ein wenig ruhiger geworden.

»Es ist nichts da« sagte Herr E. mit einem Lächeln »Mein Fritzchen hat mit offenen Augen einen Traum gesehen. Nicht wahr, mein Junge?«

Damit küsste er das Kind. Fritzchen aber schüttelte den Kopf.

»Ich habe es gesehen« sagte es, wobei es auch blieb.

Die Mutter nahm den eingeschüchterten Knaben mit in das Schlafgemach der Eltern und brachte ihn dort zu Bett. Herr E. und ich begaben uns in das Arbeitszimmer und liessen uns dort in lebhafter Diskussion über das Geschehene nieder. Vor uns auf einem Stuhl lehnte das Bild der schönen Gustel mit den grossen Schmerzensaugen. Nach einer Weile hörten wir draussen dicht vor dem Hause den Nachtwächter die Stunde rufen. Kurz darauf klopfte es an den Fensterladen. Herr E. erhob sich, trat an das Fenster, öffnete es und fragte:

»Wer ist da?«

»Ich bin's. Der Krischan,« ertönte es draussen.

»Es ist der Nachtwächter« erklärte mir Herr E. Dann öffnete er eine Luke in dem Holzladen. Von draussen kam es:

»Wissen Sie schon das Neueste, Herr?«

»Was ist denn los, Krischan?«

»Unser Jraf is dot.« 161

»Der Graf?«

»Ja. Der Deuwel hat ihn jeholt. In seiner letzten Stunde hat er bloss noch von seiner toten Liebsten fantasirt, von der schönen Justel, die hier bei Ihnen jewohnt hat, und von dem kleinen Liebetraut. Jott sei ihren Seelen jnädig. Gun Nacht, Herr.«

»Gun Nacht, Krischan.«


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