Hans Bethge
Der gelbe Kater
Hans Bethge

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Der Sarg

Im Frühling des Jahres 1900 gab es in Barcelona, wie nicht selten in dieser leicht beweglichen Stadt, geräuschvolle politische Unruhen. Sie entwickelten sich diesmal soweit, dass der Ausbruch einer Revolution bevorzustehen schien. Die Regirung hatte dem schwer belasteten spanischen Volke neue Abgaben vorgeschrieben, um die Kontribution für den unglücklichen Krieg mit Amerika aufzubringen, aber das Volk weigerte sich, diese Steuern zu bezahlen. Barcelona machte in jenen Tagen einen unheimlichen Eindruck. Es war, als ob die schwer geladenen Wolken eines Gewitters über dem Orte lasteten. Alle Läden waren verrammelt, die Tramways hatten ihren Verkehr eingestellt, und allerhand murrendes Gesindel trieb sich in Horden durch die verödeten Strassen. Frauen und Kinder sah man fast nicht. Die Guardia civil, das ist die königliche Gendarmerie, eine sehr tüchtige und stattliche Waffe, vor der das Volk seinen Respekt noch immer bewahrt hat, durchritt (auf Kolossen von Pferden) in kleinen Trupps die einzelnen Stadtteile. Die Schutzmannschaft, mit Revolvern bewaffnet, zeigte sich in bedeutender Verstärkung. Die Geheimpolizei schwärmte überall herum. Die Gefängnisse und die Festung der Stadt, der auf einem Felsen tronende, trotzige Montjuich, waren überfüllt von Arretirten. Und im Rathause auf der Plaza de San Jaime waren die bleichen Räte 137 der Stadt um ihren Alcalde versammelt und dachten mit Zittern an die Drohungen des aufs äusserste gereizten Volkes.

Ich hatte zu jener Zeit gerade eine neue Wohnung in Barcelona bezogen, auf dem Paséo de San Juan, einer breiten, mit Platanen bepflanzten Promenade. Unten in dem Hause befand sich ein Magazin. Über der Eingangstür stand mit grossen Lettern das Wort: Ataudes. Auf deutsch: Särge.

Es war ein Sargmagazin. Wenn man durch die Glastür des Eingangs, die in diesen letzten Tagen freilich verrammelt war, hineinblickte, sah man nichts als Särge. Sie ruhten auf Gestellen an den Wänden, sie standen auf dem Erdboden herum, sie füllten alle Ecken. Es waren Särge in allen Grössen, allen Formen, allen Farben. Es waren Särge für jeden Geschmack. Es gab kurze und lange, schmale und breite. Es gab Särge mit lackirtem, gebeiztem und polirtem Holz und Särge mit Tuch bespannt, wie es die Spanier besonders lieben, mit weissem oder mit schwarzem Tuch. Es gab Särge für Erwachsene und solche für jüngere Leute. Und dann gab es auch ganz allerliebste kleine Särglein für schnellverstorbene oder totgeborene Kinder.

Das Sargmagazin gehörte meinem Mietswirt, Herrn Enrique Sanchez, und es war ein junges Mädchen darin beschäftigt, das die roh aus der Schreinerei kommenden Totenhäuschen mit Tuch, Perlenschmuck und anderem Zierrat zu beschlagen hatte. Es war ein schlankes Kind mit feinem Haar, und sie hiess Conchita, wie mir Herr Sanchez sagte. Wenn ich durch die Hausflur ging, versäumte ich nie, einen Blick durch die meist geöffnete Tür, die von der Flur in das Magazin führte, zu werfen, um die schöne Conchita über ihre Arbeit geneigt zu sehen. Sie hatte ein Profil, das war wie 138 das Bild eines blassen, trauernden Engels. Conchita und ich grüssten uns, wenn wir uns zuweilen auf der Treppe des Hauses begegneten oder wenn sie mich an der Tür ihrer Werkstätte vorübergehen sah, denn sie wusste, dass ich bei Herrn Sanchez wohnte. Worte hatten wir bisher nicht miteinander gewechselt. Eines Nachmittags nun, bei beginnender Dämmerung, während draussen tiefer aus der Stadt her der Lärm der Tumulte herüberdrang, trat ich in das Sargmagazin ein, um nachzusehen, ob Herr Sanchez, mit dem ich zu sprechen hatte, in der Werkstatt oder in dem dahinter liegenden kleineren Arbeitszimmer anwesend sei.

Herr Sanchez sei ausgegangen, bedeutete mir Conchita, die gerade wieder einen Sarg mit schwarzer Borde beschlug und gebückt auf einem niedrigen Holzschemel sass. Während sie sprach, richtete sie ihr bleiches Gesicht empor, und ihre Augen sahen mich an. Wie schön war dieses Mädchen. Sie trug ein aschfarbenes Kleid und eine weisse Azalienblüte auf der Brust. Ihr seidenes Haar war so voll Glanz in der Dämmerung, dass man glauben konnte, es hätten sich einige Silberstrahlen des Mondes in der vergangenen Nacht hineingestohlen und nicht den Weg zurückgefunden. Das Mädchen war zart wie eine Blüte des Frühlings und lieblich wie ein guter Traum.

Sie bückte sich wieder auf ihre Arbeit hinab, eine Weile sah ich ihr schweigend zu, dann kamen wir in ein Gespräch, und ich liess mich auf einen der Särge nieder, von denen sie ganz umgeben war. Conchita war keine Catalanin, das war an ihrer Sprache schnell zu erkennen. Sie sprach weich und süss wie die schmalen Mädchen aus Valladolid, um deren Lippen es immer wie eine lächelnde Sehnsucht liegt. Ich 139 fragte Conchita im Laufe des Gesprächs, woher sie stamme, und sie erwiderte, dass sie aus Saldaña sei, im Altkastilischen, nahe der Grenze von León.

Wovon wir sonst sprachen – ich weiss es nicht mehr. Ich sagte ihr nicht, dass sie schön sei, obwohl es mich dazu drängte. Einmal fragte ich, ob sie nicht Angst habe vor den Unruhen in der Stadt. »Doch« entgegnete sie »Ich habe eine grosse Angst davor.«

Sie sah nur selten von ihrer Arbeit auf. Ihre zarten Hände liessen nicht ab, sich geschäftig zu bewegen. An dem kleinen Finger der linken Hand sah ich in dem vergehenden Licht ein goldenes Ringlein blitzen. Einiges seidene Haar fiel ihr in die Stirn, während sie sich niederbeugte. Wenn sie sprach, so geschah es langsam und leise. Ihre Stimme erschien mir ganz wie eine liebliche Musik in der Dämmerung. Ich hätte mich am liebsten schweigend zurücklehnen und die Augen schliessen mögen und hätte Conchita bitten mögen, nur immer so leise und heimliche Worte in die Dämmerung zu sprechen, damit ich ihrem Klange lauschen könnte. So hold sprach das Mädchen.

Als ich ihr dann von meiner Heimat erzählte und sie, indem sie dabei nicht aufhörte, die schwarze Borde mit vielen kleinen Nägeln oben um die Öffnung des Sarges zu klopfen, mir andächtig lauschte, bemerkte ich auf einmal, wie sie in sich zusammenschrak und hörte sie zugleich einen leichten Schrei ausstossen. Sie richtete den Kopf empor, und ich erkannte, dass sie totenblass geworden war.

»Was ist Ihnen?« fragte ich.

Sie antwortete nicht und führte die zitternde linke Hand an den Mund, um einen roten Blutstropfen von dem Finger 140 fortzutrinken. Mit der rechten deutete sie schweigend in den Sarg. Ich beugte mich vor und sah, dass ein Blutstropfen in den Sarg hinabgefallen war. Conchita hatte sich bei dem Hämmern eine Wunde in den Finger geschlagen, und das Blut war herausgesprungen.

Sie sah mit ängstlichen Augen in den Sarg, wo der kleine rote Fleck leuchtend auf dem hellen Holze lag.

»Haben Sie sich sehr wehe getan?« fragte ich.

Sie schien es nicht zu hören und schwieg, als ob sie weit ab mit ihrem Fühlen und Denken sei.

»Das ist kein gutes Zeichen« meinte sie dann. »Es soll ein Teil von mir in diesem Sarge ruhen. Das Blut zieht das Andere nach.«

»Aber Conchita,« sagte ich und versuchte zu lachen »was sprechen Sie da! Es ist sehr unrecht, solche Gedanken zu haben.«

Sie schüttelte das Haupt.

»Nein« sagte sie »Ich weiss es bestimmt, das Blut zieht das Andere nach.«

Da sah ich die Azalienblüte so weiss auf ihrem Brüstchen glänzen, dass mich ein schneller, glücklicher Gedanke anflog. Ich knickte die Blüte mit eiligen Fingern ab und warf sie in den Sarg.

»So,« sprach ich »nun hat der Sarg sein Opfer.«

Ein Lächeln huschte über die Blässe ihres Gesichts.

»Das wird wohl kaum das rechte sein,« sagte sie »das ist ja nur eine Blume, die welkt auch so.«

»Aber wäre das Blut nicht gesprungen, so wäre sie an Ihrer Brust gewelkt und nicht in dem finstern Sarge. Das ist doch ein Unterschied.« 141

»Ich wünschte es auch, dass sich der Sarg mit der Blüte zufrieden gäbe,« meinte Conchita »aber ich glaube es nicht.«

»Das wäre ja ein grausamer Sarg« entgegnete ich in einem absichtlich leichten Ton und erhob mich, um mich zum Gehen anzuschicken.

Ich reichte ihr die Hand, und sie legte die ihrige hinein. Sie war kühl und zerbrechlich und zitterte noch immer.

»Ich will jetzt in die Stadt,« sagte ich »um zu sehen, was es Neues giebt. Da, hören Sie – war das nicht ein Schuss? Bitten Sie Herrn Sanchez, dass er Sie heut Abend nach Hause begleitet. Gehen Sie nicht allein über die Strasse. Auf Wiedersehen, Conchita.«

Ich schritt in die Stadt hinein. Die dämmerigen Strassen des Aussenviertels waren fast menschenleer, als seien sie ausgestorben. Die überall fest verschlossenen Läden gaben der Stadt das Aussehen einer Totenstadt. Nur Männer begegneten mir, vereinzelt oder in kleinen Gesellschaften, die dann erregt diskutirten. Als ich auf den schönen, breiten Paséo de Gracia kam, befand ich mich plötzlich mitten in dem lebhaftesten Treiben. Aufgeregte Menschenmengen standen beisammen, andere bewegten sich hastig hierhin und dahin. Hier fiel ein kühnes Wort, das nach Freiheit verlangte, dort ein Gelächter des Hohns, dort stimmte man die ›Segadors‹ an, die Hymne der Catalanen. Die Schutzmannschaft zerstreute hin und wieder eine Horde, aber die Leute schlossen sich immer wieder zusammen. An einzelnen Punkten entstanden kleine Handgemenge zwischen dem Publikum und den herumhorchenden Geheimpolizisten, die es gewagt hatten, 142 jemanden für ein unbedachtes Wort mit dem Handprügel zu strafen. Steine flogen in die Fenster der benachbarten reichen Häuser. Der ganze Paséo war mit Glassplittern der aus den Gaslaternen herausgeschlagenen Scheiben bedeckt. Von mehreren Balkons herab wurden Reden gehalten, die einen wurden bejubelt, die anderen niedergeschrieen. Manche erregte Scene ereignete sich. Die Polizei richtete wenig aus.

Allmählich wandte ich mich in die Richtung nach der Universität hinüber. Hier schien es besonders wüst herzugehen. Auf dem Platz vor dem Universitätsgebäude drängten sich Scharen von Murrenden. Die Studenten, die in Spanien immer die Ersten sind, wenn es gilt, politisch zu demonstriren, hatten die Holzbänke aus den Hörsälen herausgeschafft und eine Barrikade gebaut. Immer noch neue Bänke schleppten sie herbei, lärmend, mit erregten Gesichtern, und türmten sie übereinander. Nun trat ein schlanker Bursche auf die Barrikade und schwang in emporgereckter Hand die rot und gelb gestreifte catalanische Fahne. Es war ein bildhübscher Geselle und blutjung, mit schwarzen Locken und einem ersten Flaum über den Lippen. Er hatte einen grosskrempigen Hut malerisch auf den Kopf zurückgestülpt. So stand er da, leuchtenden Auges, und rief mit lauter Stimme, von seinen Genossen im Chor begleitet: Nieder die Monarchie! Es lebe Catalonien! Es lebe die Freiheit!

Einige Mannschaften der Guardia civil kamen gegen die Barrikade vorgeritten, indem sie die Menschenmenge mit ihren Pferden zerteilten. Der Jüngling auf der Höhe feuerte, die Fahne schwingend, eine Pistole gegen die heranreitende Staatsgewalt ab. Da sprengte einer aus der Guardia flink bis an die Barrikade vor, zog den Säbel, erhob sich im Sattel 143 und liess die Klinge mit Wucht auf die Schulter des Burschen niedersausen, so dass sie tief in die Brust eindrang. Der Student brach zusammen, die Fahne versank in die Tiefe. Das Volk, kreischend wie eine gequälte Katze, fiel über die Guardia civil her und suchte ihr die Waffen zu entreissen. Noch einige Schüsse fielen. Alles fluchte, heulte, mit dem Ausdruck des Entsetzens und der Verzweiflung in den Mienen, und reckte die Fäuste auf. Ich wandte mich von diesem Bilde des Schreckens ab und schritt langsam, an der Plaza de Cataluña vorüber, die ruhigere Rambla hinunter. Hier befinden sich sonst die Blumenstände, wo die catalanischen Mädchen die Blüten verkaufen, die vor den Toren Barcelonas wachsen. Ich hätte gern eine frische Azalienblüte für Conchita erstanden, aber es war heute vergebens, dass ich nach Blumen auf der Rambla suchte. Wo sonst die Rosen und Nelken waren, hockten heute dunkle Männerhaufen, flammten zornige Augen und erhitzten sich republikanische Gemüter.

So schlenderte ich bis zum Hafen hinab, nahm dort ein Boot und liess mich aufs Meer hinausrudern, um dem Getriebe der Menschen auf eine Weile entrückt zu sein. Es war ein wunderstiller Abend und wehte kaum ein Luftzug über das sanfte Wasser. Ich streckte mich rücklings über den Steuerkasten, und während wir so, kaum merklich, durch die kühle Dunkelheit fuhren, sah ich am Himmel die ersten Sterne sich mit Funkeln um die silberne Sichel des Mondes scharen. Wie war das schön. Ich zwang mich, nicht mehr an das wirre Leben in der Stadt zu denken und fühlte bald nur noch den Abend und den milden Glanz der Gestirne und dass ich einsam war. 144

Dann ging es wieder an das Land zurück. An dem hübschen Stadtpark vorüber, in dessen Mimosenbäumen allerhand Gevögel lärmte, schritt ich meiner Wohnung zu. Wie schade, dass ich keine Blume für Conchita hatte. Unten in der Flur von Herrn Sanchez' Haus sah ich die alte Portiersfrau mit bewegter Miene tatlos vor der Tür stehen, die in Conchitas Werkstatt führte. Es musste hier irgend etwas nicht in Ordnung sein.

»Was ist vorgefallen?« fragte ich die Frau.

Die Alte legte die Hand vor den Mund, zum Zeichen, dass ich schweigen solle. Dann winkte sie mir und öffnete sachte die Tür, die in das Magazin führte. Da sass Conchita im Schein einer Gasflamme und weinte. Sie hatte sich mit dem Oberkörper über einen Sarg geworfen und hielt ihn mit den Armen umklammert. Das flackernde Gaslicht spielte in ihrem Haar. Zuweilen erschütterte ein Schluchzen ihren jungen Körper. Sie hörte und sah nichts um sich her, ganz ihrem Schmerze hingegeben. Es war ein Bild zum Erbarmen.

Die Portiersfrau legte die Tür wieder behutsam ins Schloss.

»Warum weint sie?« fragte ich nun.

»Um den Sarg« antwortete die Alte.

»Um den Sarg?«

»Er wird ihrem Liebsten eine Ruhestatt sein. Sie haben ihren Liebsten erschlagen.«

Nun wusste ich Alles. Während ich in einem dumpfen Empfinden die Treppe hinaufstieg, sah ich in Gedanken wieder den schönen Studenten auf der Barrikade stehen, wie er mit blitzendem Auge die Fahne seiner Heimat schwang. Armer Bursche, arme, bleiche Conchita.

Oben in meinem Zimmer öffnete ich das Fenster und 145 trat auf den Balkon hinaus. Auch von hier war die Sichel des Mondes zu sehen und auch ein silberner Strich des Meeres, das in der Ferne blinkte. Aus der Tiefe der Stadt drang das Lärmen der erregten Menschen noch immer herüber. Mitunter trug die Luft einzelne brausende Takte der unheimlichen Segadors herbei. Und dann, ohne Ende, die Rufe:

Visca Catalunya! . . . Es lebe die Republik! . . . Es lebe die Freiheit! . . . Es lebe die Freiheit! . . . Es . . . lebe . . . die . . . Frei . . . heit . . .!


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