Hans Bethge
Der gelbe Kater
Hans Bethge

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Der Schlangenring

Ich bin Nervenarzt. Es war während der Zeit meiner Sprechstunden, am Vormittag. Ich hatte eben einen harmlosen Kranken mit den tröstlichsten Versicherungen entlassen und öffnete die Tür zum Vorzimmer, um den nächsten Patienten eintreten zu lassen. Indem ich den Blick durch den Warteraum gleiten liess, fühlte ich vom Fenster her zwei Augen auf mir ruhen. Es sass dort ein Mädchen oder eine junge Frau, ganz in Schwarz gekleidet, mit einem schwarzen, grosskrämpigen Hut auf dem Haar. Dieses Haar legte sich eng um das bleiche Gesicht, wie ein Trauerflor, und liess in seiner Üppigkeit das schmale, ungewöhnliche Haupt noch um so merkwürdiger erscheinen. Die glänzenden Augen ruhten still, mit einem tiefen Ausdruck des Schmerzes auf mir. Ich hatte ähnliche Augen schon bei anderen Kranken gesehen, aber niemals waren sie mir so weltentrückt, so überirdisch erschienen. Es war, als ob sich über diesen Augen die Wimpern niemals schliessen könnten. Als müssten sie immer mit diesem ruhelosen und von grossen Leiden erzählenden Ausdruck in die glücklichen Augen der Andern sehen.

Dieses Gesicht am Fenster hatte mich ergriffen. Nicht zum mindesten vielleicht, weil es in seiner Krankheit zugleich so schön war. Ich hatte es noch lebhaft in Gedanken vor mir, als ich bereits das Wartezimmer hinter mir 101 geschlossen und mich der Untersuchung eines neuen Kranken zugewendet hatte. Als dieser entlassen war und ich das Vorzimmer von neuem öffnete, ging mein Auge instinktiv wieder nach dem Fenster hinüber. Sie hob den Kopf eben von einem Buche auf, in dem sie geblättert hatte, und wieder lag der sonderbar brennende Glanz der Augen auf mir, und das weisse, fast milchweisse Fleisch der hageren Wangen leuchtete in dem Sonnenlicht, das durch die Scheiben auf sie hereinfiel, zum Erschrecken. Um ihren Mund glaubte ich diesmal, da sie bemerkte, dass ich sie musterte, einen lächelnden, aber keineswegs angenehm lächelnden Zug fliegen zu sehen, und auch ihre auf dem Tisch liegenden, von den Handschuhen entblössten Hände konnte ich diesmal erkennen: lange, geisterhaft dünne Hände, die ganz von der Farbe der Wangen waren. Sie waren längst nicht so fesselnd wie die Augen, in denen es wie eine fremde Welt lag, in denen Mächte zu wohnen schienen, die den andern Sterblichen ewig fremd und für gesunde Seelen verwirrend sind. Ich spürte, dass diese Augen einen Eindruck auf mich ausübten, wie es bisher noch keine andern Augen vermocht hatten. Einen Eindruck, gegen den ich mich innerlich sträubte, ohne dass es mir doch zu gelingen schien, ihn zu meistern.

Als ich dann wieder die Zimmertür öffnete, war sie verschwunden. Warum hatte sie sich entfernt? War ihr die Wartezeit zu lang geworden? Oder hatte sie sich noch im letzten Augenblick vor der Konsultation, von deren Resultat, wie ihr der eigene Zustand wohl sagen musste, sie nichts Gutes erwarten konnte, gescheut? Wer weiss, – jedenfalls war sie verschwunden und kehrte nicht zurück. Ich ging nach Schluss der Sprechstunden zu dem Fensterplatz hinüber, 102 um zu sehen, in welchem Buche sie geblättert hatte. Es war einer der gleichgiltigen Fliegenden-Blätter-Kalender, die auf den Tischchen des Zimmers herumlagen. Dies konnte mir nichts weiter sagen.

Die Augen des bleichen Mädchens verliessen mich nicht mehr. Beim Essen und nachher, als ich über einer Arbeit sass, immer wieder tauchten sie vor mir auf, in tiefen Höhlen, flackernd und mit einem Ausdruck des Schmerzes, der kein gewöhnlicher Schmerz sein konnte. Es kam mir erst nach und nach recht zum Bewusstsein, welches übertriebene Interesse ich an diesem Mädchen oder besser: an den Augen dieses Mädchens nahm. Wenn ich daran dachte, dass ich, nur um nachzusehen, in welchem Buche sie geblättert hatte, zu ihrem Platze im Wartezimmer hinübergegangen war, so musste ich mir gestehen, dass mir eine so unerklärbare Teilnahme an der Person eines fremden Kranken in meiner Praxis noch nicht zugestossen war.

Bei Beginn der Dämmerung verliess ich die Wohnung und unternahm einen Spazirgang in einem unmittelbar an die Stadt stossenden Lustgarten. Ich dachte immer wieder an die grossen Augen zurück. Als ich, da man bereits in den an den Lustgarten grenzenden Strassen die Laternen anzündete, nach einigen Minuten einsamer Ruhe auf einer an einem kleinen Teiche idyllisch gelegenen Bank, wo eine Nachtigall schlug, mich anschickte, in die Stadt zurückzukehren, bemerkte ich ein Ende vor mir eine Frauengestalt. Indem ich sie wahrnahm, fühlte ich die Vorstellung der rätselhaften Augen vom Vormittag wieder besonders lebhaft in mir werden. Ich glaubte sie von rechts und links aus allen Büschen heraus auf mich gerichtet zu sehen. Der grosskrämpige Hut da vorn 103 konnte nur der Hut des blassen Mädchens vom Fenster sein. Ich fühlte, wie ich erregter wurde, und beschleunigte meine Schritte. Da, noch ziemlich weit von mir entfernt, bog sie in einen Seitenweg ein, der direkt in die Stadt führte. Als ich an die Biegung des Weges kam, war nichts mehr von ihr zu entdecken. Weiter zu suchen war unnütz in der Dunkelheit. Ich verlangsamte deshalb die Schritte wieder und schlenderte den gleichen Weg dahin, den sie gegangen war. Meine Stimmung war ärgerlich und zerfahren. Ich schalt mich einen Narren, dass ich mich von einem Paar völlig fremder, kranker Augen in so einfältiger Weise befangen liess, und nahm mir ernstlich vor, nunmehr nicht weiter an jenes Geschöpf zu denken. Aber schon indem ich den Vorsatz fasste, fühlte ich dunkel, dass es bei dem blossen Vorsatz sein Bewenden haben werde.

In die lärmende, von tausend und aber tausend Lichtern, geschäftig hastenden Menschen und lärmenden Fahrzeugen erfüllte Stadt zurückgekehrt, suchte ich einen Freund auf und plauderte mit ihm, wobei ich es mit Absicht vermied, ihm von dem blassen Mädchen und ihren Augen zu erzählen. Wir begaben uns darauf zusammen in ein Restaurant, assen ein wenig und entschlossen uns dann, zusammen die Oper zu besuchen, wo man an diesem Abend Carmen gab.

Wir sassen im Parterre nebeneinander. Die Musik der Oper und die vorzügliche Darstellung nahmen mich ganz gefangen, so dass meine Gedanken gelöst und meine Empfindungen völlig auf die schwellenden Töne und die Vorgänge auf der Bühne konzentrirt waren. Da, mitten während des ersten Aktes, als in der Cigarettenfabrik sich gerade das plötzliche Kreischen der sevillanischen Mädchen erhebt, weil 104 Carmen die eine von ihnen mit dem Dolche gestochen hat, – da plötzlich schwand meine Teilnahme an der Oper auf einen Schlag gänzlich dahin, ich hörte und sah nichts mehr, wurde unruhig und rutschte nervös auf dem Plüschsessel hin und her. Der Ursache dieser Unruhe wurde ich mir nicht gleich bewusst, aber bald sagte mir ein unbestimmtes Gefühl, dass die Ursache von irgend einem Vorgang oder einem Gegenstand in meinem Rücken herkommen müsse. Es war mir nämlich, als sei an meinem Hinterkopf irgend etwas geschehen, als zwicke man ihn mit sehr feinen Nadeln, oder als wirke ein elektrischer Strom auf ihn ein. Unwillkürlich drehte ich mich, als ich der Unruhe nicht mehr Herr werden konnte, um, und indem ich heftig erschrak, wusste ich nun den Grund meines Zustandes sofort. Aus einer der Logen im ersten Rang sahen die grossen Augen auf mich herab: zwei glänzende Sterne, von jenem merkwürdigen fosforischen Glanz, wie ihn die Augen der Katzen zur Nachtzeit haben.

Ich wurde innen heiss. Jene Augen und das totenbleiche Gesicht, dem sie gehörten, schienen mich nicht mehr verlassen zu wollen. Mein Interesse an dem Schauspiel war geschwunden. An dem immer stärker werdenden unangenehmen Gefühl am Hinterkopf merkte ich genau, dass die Augen unablässig auf mich gerichtet waren. Ich konnte mich eines wachsenden Gefühls der Angst nicht erwehren, und da dieses schliesslich ins Unerträgliche stieg und ich meine Nerven nicht mehr beschwichtigen konnte, so erhob ich mich endlich und begab mich hinaus.

Mein Freund folgte mir auf dem Fusse. Er merkte wohl, dass ich mich unwohl fühle. Draussen im Foyer fragte er: 105

»Was ist Dir? Du siehst schlecht aus.«

»Ich weiss nicht. Ich fühlte mich schon den ganzen Tag nicht besonders. Kopfweh und momentan etwas Schwindel, jedenfalls ist es bedeutungslos. Es wird das Beste sein, ich gehe nach Haus und ruhe mich aus. Lass Dich bitte in dem Vergnügen nicht stören und bleib.«

Mein Freund brachte mich noch hinaus in eine Droschke, und während ich dann durch die hellen Strassen langsam meiner Wohnung zufuhr, begab er sich in das Theater zurück.

Ich hatte in der Tat Kopfweh bekommen. Ich lehnte mich in das Polster der Droschke zurück und stellte mir den bleichen Kopf wieder vor, wie er in dem dunkeln Raum des Theaters aus der Loge so starr auf mich herabsah. Diese brennenden Augen werden mich noch verrückt machen, dachte ich. Wie ich sie schon gefühlt hatte und wie sie schon auf mich eingewirkt hatten, ehe sie mir noch zu Gesicht gekommen waren! Was wollten diese Augen eigentlich von mir? Warum sahen sie immer mich gerade an, mich allein unter den vielen, und immer nur mich? Ich hatte dieses Mädchen früher niemals gesehen, und nun mit einem Male lebte es in all meinen Fibern, als wolle es mir die Freude am Leben morden, und ihre Augen hefteten sich an mich, als wollten sie mir etwas Schlimmes tun, das Gewissen zermalmen oder mit den Schatten der Zukunft drohen oder was weiss ich.

Erster Leser: Wann wird der Mensch aufhören, von den kranken Augen dieser Frau zu fabeln? Wann kommt der Schlangenring?

Zweiter Leser: Warten wir das Ende dieser Torheiten ab. 106

Als ich in meiner Wohnung ankam, begab ich mich in das Arbeitszimmer, zündete Licht an, legte Hut und Mantel ab und trat vor den Schreibtisch. Auf diesem stand ein kleines Kästchen, das ich nicht kannte und von mir nicht dorthin gestellt worden war. Ich öffnete, und es fiel mir zu meiner Verwunderung ein ganz fremder, goldener Ring daraus entgegen.

Erster und zweiter Leser: Ah – Ah – – –

Er hatte die Form einer zusammengeringelten Schlange, und dort, wo sich die Augen der Schlange befanden, sassen zwei kleine, rotfunkelnde Steine. Sobald mir der Ring in die Hände fiel, mischte sich in sein Bild die Vorstellung der dämonischen Augen aus dem unbekannten Frauengesicht. Wie kam dieser Ring auf meinen Schreibtisch? Ich rief die Wirtschafterin, hielt ihr das Kästchen entgegen und fragte sie, wer dies gebracht hätte. Niemand, entgegnete sie, sie kenne das Kästchen nicht. Ich fragte sie, ob irgend ein Besuch dagewesen sei. Nein, erwiderte sie, es sei niemand dagewesen. Darauf sagte ich ihr, dass sie mich belöge, denn ich hätte dieses Kästchen auf meinem Schreibtisch vorgefunden, und es müsse doch von irgend jemand dorthin gelegt worden sein, denn ich selbst kenne es durchaus nicht, und zu der Zeit, als ich die Wohnung verlassen hätte, habe es sich auf dem Schreibtisch noch keinesfalls befunden. Ich nähme deshalb an, dass sie mir etwas verberge und habe die Vermutung, dass sie selbst es dort im Auftrage irgend eines Andern niedergelegt habe, dem sie auf sein Verlangen, und jedenfalls durch klingende Münze belohnt, Schweigen gelobt habe. Auf diese Worte hin fing die Person zu weinen an und versicherte mich unter Ausdrücken der Verzweiflung, dass sie von alle 107 dem, was ich da sage, nichts wisse, dass sie das Kästchen nie in ihrem Leben gesehen habe, dass mein Zimmer während des Nachmittags von niemand betreten worden sei, kurz, dass sie unschuldig wäre.

Gut also. Ich hiess sie mit mürrischen Worten gehen und befand mich wieder mit dem unerklärlichen Schlangenring allein. Ich zog ihn mechanisch auf den Finger und zog ihn wieder ab. Ich betrachtete ihn genau, legte ihn nieder, liess ihn dann wieder durch die Hände gehen und steckte ihn endlich in das Kästchen zurück. Ich schritt in dem Zimmer auf und ab, dachte an tausend Dinge, sah die grossen Augen wieder glühen, hörte den Schrei der Carmen in der Cigarettenfabrik wieder, fühlte von neuem den Schmerz am Hinterkopf, und schliesslich verwirrte sich Alles. Da die Kopfschmerzen bald unerträglich wurden, entkleidete ich mich und begab mich zu Bett. Aber die Ruhe wollte nicht kommen. Der Ring marterte mich, und sobald ich ihn im Geiste vor mir sah, sah ich auch wieder die unseligen Augen leuchten und sah das leichenblasse Gesicht in dem dunkeln Theaterraum, und dann trat plötzlich die Vorstellung ein, dass dort, wo am Kopf der goldenen Schlange die beiden Rubine sassen, eigentlich die Augen des unbekannten Mädchens sitzen müssten, und plötzlich sassen sie in meinen Fantasieen auch wirklich da und stierten mich unheilvoll an, und die Schlange fing an sich abzurollen und kroch mir langsam entgegen, streckte die zweiteilige Zunge heraus und begann sich fest um meine Glieder zu legen, während die Augen mich verzehren wollten . . .

Unter diesen abscheulichen Vorstellungen schlief ich endlich ein. Doch damit verschwanden die Bilder nicht. Sie 108 traten erbarmungslos mit in meine Träume hinüber, liessen nicht ab mich zu quälen und wurden immer grässlicher. Das Bild der Augen in dem bleichen Gesicht hatte sich endlich so fest mit dem Bilde der goldenen Schlange verbunden, dass sie nur noch mit dieser zusammen in die Vorstellung traten. Ich konnte und konnte mich nicht frei machen. Sie umschwirrten mich in aufregender Weise die ganze Nacht hindurch. Und als ich am folgenden Morgen erwachte, übermüdet, mit schmerzendem Kopf und schweren Gliedern, war das Erste, dass ich wieder nach dem Schreibtisch hinüberschaute, wo das nichtswürdige Kästchen stand, vor dem mich fast eine Furcht zu ergreifen begann, denn die Schlange war ja darin, die goldene, geringelte Schlange mit den brennenden, menschlichen Augen im Kopf . . .

Als ich mich erhoben hatte, öffnete ich das Kästchen in Erwartung und überzeugte mich, dass die Schlange rote Rubine im Kopfe trug und nicht die Augen des weissen Mädchens mit dem schwarzen Haar. Ich überlegte, was ich mit dem Ring beginnen sollte, der nicht der meinige war. Sollte ich ihn behalten? Keinesfalls. Ich fühlte ja, dass er meine Gedanken unheilvoll beschäftigte und in quälende Bahnen lenkte, so oft ich an ihn dachte oder ihn vor mir sah. Ich musste mich davon befreien, auf welche Weise es auch sei.

Ich hatte die Vermutung, dass das Mädchen während der Sprechstunden an diesem Tage vielleicht wiederkommen würde. Aber sie erschien nicht. Ich musste bei der Ausübung meines Berufes alle Kräfte aufs äusserste zusammennehmen, denn ich war wie zerschlagen und konnte mich kaum auf den Beinen halten. Einige Bekannte fragten mich, 109 was mir fehle, da ich bleich und angegriffen aussähe. Ich musste antworten, dass es ein leichtes Unwohlsein wäre, infolge von Erkältung.

Die Nachmittagsdämmerung an jenem Tage war schrecklich. Ich sass vor dem Schreibtisch, den Schlangenring neben mir, und dachte noch einmal unter peinlicher Zergliederung der Dinge über alle Einzelheiten nach, die mir geschehen waren. Besonders liess mich der Gedanke nicht los: Auf welche Weise ist der Ring in mein Zimmer gekommen? Meine Wohnung befand sich im Erdgeschoss, und die Fenster (es war Frühling) standen meist geöffnet. Die einzige Möglichkeit war also, dass man ihn durch das Fenster hineingeschmuggelt hatte. Wie war die betreffende Person aber in den von einem hohen Eisengitter eingefassten Vorgarten gekommen und überhaupt: welchen Zweck hatte sie mit diesem Geschenk verbunden? Hierauf war eine auch nur einigermassen befriedigende Antwort nicht zu finden.

Ich spürte während des fruchtlosen Nachdenkens über diese Dinge wieder die ekelhaftesten Fantome um mich her. Ich stellte mir vor, wie eine Schlange sich durch das Eisengitter des Vorgartens drängte, sich zu dem Fenster emporwand und in mein Zimmer hineinkroch. Ich sah das Mädchen in Schwarz im Garten stehen, den unangenehm lächelnden Zug um die Lippen, und nun langte ihre blasse, dünne Hand durch die Gardinen und legte eine kleine Schlange vor mich auf den Tisch. Ich sah die grossen Schmerzensaugen aus allen Winkeln der Dämmerung heraus auf mich gerichtet, und mitunter war mir ganz deutlich, als ob der Ring neben mir auf dem Tisch langsam sich in Leben umzuwandeln beginne, als ob er schimmere, in den Farben eines lebenden 110 Gewürms, und dann diese blitzenden Augen aus rotem Stein, die doch in Wirklichkeit sicher ganz andere Augen als steinerne Augen waren . . .

Ich hielt diese Pein nicht mehr aus. Ich fühlte, dass ich ernstlich krank werden müsste, wenn ich diese verstörenden Einbildungen noch länger auf mich einwirken liesse. Ich raffte deshalb den Rest meiner Energie zusammen, stand kurz entschlossen auf, nahm das Kästchen mitsamt dem Ring zu mir und begab mich ins Freie. Ich durchschritt einige Strassen und kam an den schmalen, aber tiefen Kanal, der die Stadt durchschneidet. Auf der zierlichen Brücke von St. Michael machte ich Halt. Ich beugte mich ein wenig über das Geländer und warf das Kästchen samt dem Schlangenring in das schmutzige Wasser, wo es unterging. Als ich wieder aufschaute, sah ich drüben im Schein einer soeben angezündeten Laterne das Mädchen in Schwarz vorüberschreiten. Ihre Augen schauten zu mir herüber, um ihren Mund fuhr ein höhnisches Lächeln, das zugleich wie ein mitleidiges Bedauern war, ihre Schritte waren schleppend und müde, und das Bleich ihrer Wangen schien noch kränker als zuvor. In einem der nächsten Häuser verschwand sie.

Es verdross mich aufs höchste, dass sie es mit angesehen hatte, wie ich den Ring in den Kanal geworfen; denn sie hatte es ohne Zweifel mit angesehen. Es schien ganz unvermeidlich, dass meine Spuren sie nach sich zogen oder dass ich mich, ohne es zu wissen, an ihre Spuren heftete. Wann, wann sollte dies ein Ende nehmen?!

Ich schlenderte durch die Strassen der Stadt, suchte mich durch das Betrachten der Schaufenster zu zerstreuen, machte einige Besuche bei Kranken und Bekannten und 111 kaufte hier und da etwas ein, nur um auf andere Gedanken zu kommen. Aber es gelang mir noch immer nicht. Ich dachte bei mir: Wenn mein Zustand in der folgenden Nacht der gleiche sein wird wie in der vergangenen, so werde ich morgen das Bett nicht verlassen können, und der Himmel weiss, was geschehen wird.

Unter diesen trüben Betrachtungen wandte ich mich endlich wieder nach Haus. Ich schritt wieder an dem Kanal entlang, auf dessen schmutzigem Wasser die Lichtreflexe der Laternen flackerten. Dort vorn wölbte sich auch von dem einen zum andern Ufer die Brücke von St. Michael, auf der ich heute schon gestanden hatte. Nicht weit davon staute sich ein Zusammenlauf von Menschen. Was war vorgefallen? Als ich mich dem dunkeln Knäuel näherte, hörte ich einzelne aufgeregte Stimmen:

»Ein Arzt! Ist kein Arzt da? Ruft schnell nach einem Arzt!«

Ich drängte mich durch die Menschen hindurch, indem ich mich als einen Arzt zu erkennen gab.

»Was giebt es?« fragte ich.

Da sah ich es schon vor mir. Es war der Körper des blassen Mädchens mit den Rätselaugen. Sie lag mit schlaffen Gliedern auf dem Pflaster, triefend von dem kotigen Wasser des Kanals. Die Augen waren zur Hälfte geschlossen und schienen das Friedlose ihres Blickes verloren zu haben. Das schöne, schwarze Haar klebte wirr an den Wangen und auf der Stirne, deren Blässe nun die Blässe des Todes war. Ich beugte mich nieder und fühlte nach den Pulsen. Es war Alles vorbei. Als ich die linke Hand ergriff, sah ich an dem Mittelfinger einen goldenen Ring von der Form einer Schlange, deren Augen zwei funkelnde Rubine waren. 112

»Sie hat sich von der Brücke hinabgestürzt« sagten die Leute »Wir haben es nicht mehr verhindern können. Ehe wir sie herausfischen konnten, ist sie wohl schon ertrunken.«

»Ja« sagte ich »Sie ist tot.«

Es ging eine Bewegung durch die Menschen. Einige entfernten sich, andere strömten herzu. Wir sahen nach, ob sie irgend welche Papiere bei sich hatte, die auf ihren Namen oder ihre Wohnung deuten konnten, doch es war nichts zu finden. Ich schickte zwei Männer in die Hilfsstation des Quartiers, um eine Bahre zu holen. In dieser wurde die Tote der öffentlichen Leichenhalle zugeführt.

In der darauffolgenden Nacht schlief ich ohne Traum, befreit von allen Fantomen und Fantasieen. Der Bann jener unseligen Vorstellungen, die von den grossen Augen und dem Ring ausgingen, ist von mir gewichen. Ich habe beide nicht wieder gesehen.

Erster Leser: Es ist empörend, dass man es wagen darf, uns mit einer solchen Geschichte zu langweilen. Der Verfasser ist ein Narr.

Zweiter Leser: Bei Gott, das ist er.


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