Hans Bethge
Der gelbe Kater
Hans Bethge

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Carmen

An einem klaren Wintermorgen, es war Mitte Januar, fuhr ich in den Bahnhof von Sevilla ein. Ich kam von Granáda her und hatte im Zuge während der verflossenen Nacht weidlich gefroren, denn so sonnig im Winter die andalusischen Tage zu sein pflegen, so rauh und unangenehm sind zumeist die Nächte. Als ich durch die Strassen Sevillas schlenderte, fielen mir an den Ecken mancher Häuser Plakate auf, die für den Abend eine Vorstellung der Oper Carmen von Bizet im Teatro San Fernando ankündigten. Es stand sogleich bei mir fest, dass ich hingehen würde. Wo ich auch immer Gelegenheit habe, diese Oper zu hören, pflege ich sie nicht vorübergehen zu lassen. Nun sollte ich sie gar in Sevilla selbst zu hören bekommen, der Stadt, wo einst die verführerischen Augen der entzückendsten Gitana alle Männerherzen entflammten, wo Escamillo in den Corridas die feurigsten Stiere seinem braunen Liebchen weihte (denn das hat er sicher getan), wo der arme José zum Deserteur geworden und über den dunkeln Locken der Zigeunerin die blonde Micaëla vergessen.

Ich begab mich in das Hôtel de Roma, um mich für die nächsten Tage anzumelden. Das Zimmer, das man mir anwies, lag nach einem Garten hinaus, wo goldgelbe Orangen 115 in den Zweigen hingen und auf den Beeten vereinzelte Blumen blühten. In der Mitte des Gartens befand sich ein Springbrunnen, und nicht weit davon stand eine weisse Marmorbank mit hoher Rückenlehne, über der sich die dichten, von roten Blüten durchsetzten Zweige eines Gardenienbaumes drängten. Einige andere Marmorbilder, figürliche Darstellungen, standen hier und dort unter dem Laub herum. Es war ein echter spanischer Garten und in seiner Einsamkeit ein richtiger ›jardin abandonát‹, wie er dem Pinsel des Catalanen Santiago Rusiñol so gerne zum Vorwurf dient. Nur der Blütenreichtum des Sommers fehlte. Und der winterliche Himmel entbehrte des leuchtenden Blaus. Und der Springbrunnen ging nicht, denn die Luft war nicht heiss, so dass sie keiner Kühlung durch das zerstäubende Wasser bedurfte.

Als ich nach Einnahme des Frühstücks das Hôtel wieder verliess, begegnete ich in der Tür des Hauses einer schönen Frau.

Das ist nun nichts Sonderbares in Sevilla. Aber diese – mochte es sein, weil sie so unvermutet in der Haustür neben mir stand; mochte es sein, dass irgend etwas Ungewöhnliches in ihrer Erscheinung war, das ich freilich nicht sogleich definiren konnte –: sie überraschte mich aufs höchste. Sie war eine Andalusierin, das war unverkennbar. Die grossen Mandelaugen, die mich, da ich sie grüsste, mit ihrem Stolz einen Augenblick streiften, und die vollen, halbmondförmigen Brauen darüber verrieten es. Überhaupt der Typus dieses blassen, ovalen Gesichts, von einer so weichen Form, wie sie nur dort unten gedeiht; und das nächtliche Haar, dessen Wellen sich so leise über die Schläfen und Ohren legten. Sie trug eine schwarze Mantilla 116 aus Seide über dem Haar. Hinter dem einen Ohr steckte eine rote Nelke. Sonst war sie schwarz gekleidet, ganz ohne jede anderen Farben. Sie trat in das Haus ein. Ich blieb auf der Schwelle stehen und blickte ihr nach. Sie schritt die Treppe empor, ohne sich umzusehen. Wie stolz ihr Gang war. Und ihre Haltung: wie namenlos stolz. Und diese Blässe der wunderbar weichen Wangen. Dieser Blick, dessen Tiefe nicht zu ermessen war. Die Nelke hinter dem Ohr. O ja, sie war eine Andalusierin.

Ich ging durch die Strassen dahin, mischte mich beschaulich in das Leben und freute mich meiner glücklichen Tage. In der Calle de las Sierpes kaufte ich einem Zigeunerkind, einem kleinen lumpigen Bettelwesen, das von Triana herübergekommen war, eine Kamelienblüte ab und tat sie ins Knopfloch. Dann wandte ich meine Schritte der königlichen Tabaksfabrik zu, jenem alten Prachtgebäude, wo die sevillanischen Mädchen mit unglaublicher Geschwindigkeit den ganzen Tag hindurch nichts weiter tun als Cigarillos in ihren braunen Fingern formen, indessen sie Lieder singen, vor denen Du nicht erröten darfst; jenem Prachtgebäude, über dessen Eingang sich in Stein gehauen ein Engel mit einer Posaune befindet; die Posaune aber wird dröhnen, dass ganz Sevilla es hören wird, sobald die erste keusche Sevillanerin unter den Flügeln des Engels durch die Pforte der Fabrik hinschreitet.

Die braunen Katzen in den Arbeitssälen der Fabrik kicherten und schwatzten, stiessen sich mit den Armen an 117 und lachten mir so lästerlich ins Gesicht, dass ich mir wie ein verlorenes Kind vorkam. Eine – braun, üppig, mit Lippen wie Blut, und neben ihr stand eine Kinderwiege – löste mit flinken Fingern eine rote Rose aus ihrem Haar und schleuderte sie mir lachend ins Antlitz, wobei ihre Zähne gleich silbernen Sternen glänzten. Ich nahm die Kamelie aus dem Knopfloch und warf sie dem Mädchen entgegen. Sie fing sie auf und steckte sie dorthin, woher sie die Rose genommen hatte. Dann warf ich ihr noch einen weissen spanischen Silberduro zu, der ihr sicherlich mehr behagte als die wertlose Blüte.

Als ich die Fabrik verlassen hatte, war die Mittagsstunde nahe. Ich flanirte von neuem tatlos durch die Strassen und trat endlich in das Café America ein, um noch irgend etwas vor Tisch zu trinken. Das Café war nicht sehr besucht. Als ich das Auge durch den Raum schweifen liess, gewahrte ich an einem der Tischchen die schöne Frau aus der Haustür meines Hôtels. Sie war in Gesellschaft zweier Herren, deren grosskrempige Hüte und glattrasirte Gesichter verrieten, dass sie Toreros waren. Man sprach nicht viel an dem Tische drüben. Die Toreros rauchten Cigaretten und tranken Manzanilla. Sie hatte ein Glas Café vor sich.

Ich fragte den Kellner, ob er mir sagen könne, wer die Dame sei, die mit der schwarzen Mantilla und der Nelke hinter dem Ohr, in Begleitung der Toreros.

»Das ist Doña Balbina Domingo, Herr,« sagte er »die 118 Primadonna im Teatro San Fernando. Heut Abend wird sie die Carmen singen.«

»Ist sie aus Sevilla?«

»Aus Cádix, Herr. Eine Gaëtana. Sehen Sie die Brauen über den Augen. Die haben die Mädchen nur dort.«

»Ich bin ihr im Hôtel de Roma begegnet. Wohnt sie da?«

»Ja, Herr.«

Während ich mit dem Kellner sprach, hatten sich die drei an dem Tischchen drüben erhoben und schritten nun dem Ausgang zu. Voran die Balbina, ohne nach rechts oder links zu schauen, in der Haltung einer Königin. Dann die beiden Burschen mit ihren kurzen Jäckchen und schmalen, roten Shlipsen, die unvermeidliche Cigarette im Mund. Da sie hinter ihr hinausschritten, konnte ich auch die Torero-Zöpfchen unter dem Rande ihrer Hüte erkennen.

Auch ich verliess das Café, begab mich auf mein Zimmer in dem nahe gelegenen Hôtel und dachte an Doña Balbina. Ich trat an das Fenster und blickte auf den stillen Garten hinab, wo die Sonne auf den Blüten der Gardenien und der weissen Bank aus Marmor lag. Dann sah ich wieder die Balbina im Café an dem Marmortisch sitzen, in Gesellschaft der Toreros.

Man läutete unten zu Tisch. Ich machte Toilette und begab mich hinunter. Man sass im Speisezimmer bereits an einem länglichen Tisch beisammen, während die Vorspeisen herumgereicht wurden. Es waren vielleicht zwölf bis fünfzehn Personen an der Tafel, die mit vielen duftenden Blumen verziert war, mit Nelken, Geranien, Rosen und anderen. Nahe dem einen Ende des Tisches, dicht beim Fenster, sass die Balbina. Ihre Toilette war die gleiche wie 119 kurz zuvor im Café. Auch die Nelke steckte noch hinter dem Ohr. Nur die Mantilla fehlte. Das schwarze, reiche Haar war in einem Tuff über der Stirn emporgesteckt, wie es Sitte in Andalusien ist.

Der Wirt des Hauses führte mich an den Tisch, nannte der Tischgesellschaft vorstellend meinen Namen und wies mir den Platz gegenüber der Balbina an. Da sass ich nun vor ihr. Sie war gerade im Gespräch mit ihrem Nachbar begriffen, einem dicken Valencianer, der, wie ich bald heraushörte, Reisender für eine Azulejos-Fabrik war. Er machte ihr überschwengliche Komplimente und beteuerte, dass er vor Ungeduld vergehe, am Abend in der Oper ihre Arie:

Die Liebe von Zigeunern stammt,
Sie fragt nach Rechten nicht, Gesetz noch Macht –

zu hören, und nachdem er den Anfang der Melodie ein wenig pathetisch vor sich hingesummt hatte, verschlang er begeistert eine gesottene Artischoke. Die Balbina lächelte dazu und versprach ihm mit einer reizenden Handbewegung, während jenes Liedes nur an ihn zu denken und es in einer Weise zu singen, dass ihm das Herz still stehen solle. Da warf er ihr (indem er schon wieder an einem Stück Seehecht kaute) seine verliebtesten Blicke zu, und Alles lachte.

Auf der andern Seite neben ihr sass ein junger Franzose, Gelehrter, Archäologe von Beruf, der erst vor einigen Tagen angekommen war, um in den Ruinen des nahen Italika ungekannte Schätze zu heben, und mit der spanischen Sprache nur schwer zu Rande kam. Wenn man aber von der Balbina und ihren Opernrollen sprach (das ganze Tischgespräch drehte sich eigentlich nur um sie), so verfehlte er nicht, ein 120 entzücktes ›maravilloso‹ oder ›sin comparacion‹ zu stammeln. Falls er den Mut fand, sich zu einer längeren, zusammenhängenden Rede aufzuschwingen, so wurde er immer sehr schnell rot, stolperte über seine eigenen Worte, vor deren Kühnheit er selbst erschrak, und zog sich dann mit einigen französischen Höflichkeitsformeln, die ihm besser von den Lippen gingen, von der Balbina aber durchaus nicht verstanden wurden, in die Gefilde der Schweigsamkeit zurück. – Sonst waren noch ein paar sevillanische Kaufleute, Junggesellen, zugegen. Zwei völlig vertrocknete Engländerinnen, den Bädeker neben sich auf dem Tisch und keines Wortes Spanisch mächtig. Ferner ein Deutscher, Angestellter an der sevillanischen Strassenbahn. Und endlich ein sehr schneidiger Catalane, der für eine Barceloneser Industriefirma Strumpfwirkmaschinen verkaufte. Sein ständiges Fluchwort war ›punyeta sagrada‹ (kein Volk flucht so entsetzlich wie die Catalanen), und er wandte es in doppelter und dreifacher Verstärkung an, wenn es galt, seiner Bewunderung für die Balbina Ausdruck zu geben.

Diese beteiligte sich an der Unterhaltung nur wenig. Sie beschränkte sich im Allgemeinen darauf, hin und wieder ein Scherzwort hinzuwerfen, das die Andern auffingen, als ob es eine goldene Gabe sei, berichtigte oder billigte, meist nur durch ein Kopfnicken oder einen Blick, eine musikalische Meinung, die man äusserte, und beschränkte sich im Übrigen darauf, in Ruhe und mit Anmut ihre Mahlzeit zu verzehren. Ich wurde in die allgemeine Unterhaltung bald mit hineingezogen, an die Balbina jedoch hatte ich nur wenige Worte zu richten Gelegenheit.

Gegen Ende der Mahlzeit äusserte der Catalane, als man 121 gerade wieder von der am Abend bevorstehenden Aufführung der Carmen sprach:

»Wir werden heute Abend in gefährliche Gluten schauen. Verbrennen Sie nicht, Balbina, uns zur Liebe, verbrennen Sie nicht. Die Frau, in deren Kleidern Sie heute Abend stecken werden, ist eine Frau wie eine lodernde Flamme.«

»Nein,« wagte ich einzuwenden »diese Carmen ist eine Frau mit einer Seele wie Eis.«

Der Catalane war erstaunt und schwieg. Auch die Andern hörten meine Meinung mit Verwunderung, ohne sogleich etwas zu entgegnen. Die Balbina richtete ihre Augen auf mich und sagte langsam:

»Sie haben Recht, Herr. Diese Carmen ist eine Frau mit einer Seele wie Eis. So werden Sie sie auch sehen heute Abend. Machen Sie sich gar nicht auf Flammen gefasst, meine Herren. Sie werden frieren.«

»Es freut mich, dass Sie meine Meinung teilen« sagte ich »Ich weiss nun, dass ich heute Abend einige Stunden des Genusses verleben werde.«

Sie schüttelte den Kopf, mit einem lieblichen Lächeln.

»Sie werden vielleicht recht enttäuscht sein« entgegnete sie »Seien Sie versichert, ich bin gar nicht das, was man eine gute Sängerin heisst. Sie haben sicher in Ihrem Vaterland viel bessere gehört. Aber die Carmen – ja, ich glaube doch, dass die Carmen eine Rolle ist, die ich spielen darf –«

»Ohne Flammen, Balbina? Nein, nein, nein, sagen Sie das nicht. Sie werden das auch nicht tun. Wie könnten Sie eine Carmen ohne Flammen spielen?«

»Niemals.« meldete sich der Widerspruch von anderer Seite her »Balbina, Sie wollen ein Mädchen aus Cádix sein?« 122

»Ich bin ein Mädchen aus Cádix, und ich weiss, wie ich die Carmen zu spielen habe.«

»Sie wollen experimentiren.«

»Ich will Ihnen nur das Leben geben.«

»Eine Carmen ohne Gluten? O Balbina!«

»Ich habe nicht behauptet, dass die Carmen eine Frau ohne Gluten sei. Aber diese Gluten führen ihr Leben unter einer Kruste von Eis. Sie brennen viel zu tief innen, als dass sie so leicht an das Tageslicht könnten. Das Eis ist erbarmungslos.«

Ich nickte zustimmend.

»Und daran stirbt sie, an diesem Eis« sagte ich.

Die Balbina schien erstaunt.

»Ja, daran stirbt sie« wiederholte sie in schleppendem Ton.

Die Mahlzeit war zu Ende. Die Engländerinnen und einer der jungen sevillanischen Kaufleute hatten sich schon vor einer Weile erhoben und verabschiedet. Nun stand auch die Balbina auf und sprach, über die Tafel hin nickend, einige freundliche Adios.

Wie erstaunt war ich, als sie sich dann zu mir wandte, mir die Hand reichte und fragte:

»Werden Sie heut Abend in das Theater kommen?«

Ich ergriff ihre matte Hand und drückte sie.

»Ja« erwiderte ich »Ich muss doch sehen, wie die Carmen an ihrem eisigen Herzen stirbt.«

Als sie hinaus war, bildete wieder nur sie das Thema der Unterhaltung.

»Welch eine merkwürdige Frau« sagte der Catalane »Man wird nicht klug aus ihr.« 123 »Haben Sie gefühlt, mit welchem Ernst sie von dem eisigen Herzen der Carmen sprach?«

Der Valencianer, der nicht abliess von den Früchten zu essen, wandte sich an mich:

»Sie sind ein Glückspilz. Wem von uns hat sie jemals die Hand gereicht?«

»Es bereitete ihr offenbar Freude, dass unsere Ansicht über das Wesen der Carmen die gleiche war« sagte ich.

»Welch eine vertrackte Ansicht« schüttelte der Catalane den Kopf.

Der Valencianer pfiff:

»Die Liebe von Zigeunern stammt,
Sie fragt nach Rechten nicht, Gesetz noch Macht –«

»Ich bin begierig, wie sie das singen wird heut Abend.«

»Kalt wie Eis« lachte der Catalane.

Damit standen auch wir Letzten von der Tafel auf und gingen auseinander.

Ich begab mich in den Garten, in dem noch immer die winterliche Sonne lag. In der einen Ecke des Gartens, unter einer jetzt freilich unbelaubten Glorieta, sah ich die beiden eingeschnurrten Engländerinnen sitzen. Sie hatten sich den Kaffee dort serviren lassen. Ich promenirte eine Weile auf den hellen Kieswegen des Gartens umher, betrachtete diese und jene Blüte und dachte dabei an eine weiche Hand und an die Linien zweier Augenbrauen, wie sie nur die Mädchen aus Cádix haben.

Dann setzte ich mich auf die hochlehnige Marmorbank, die nahe dem Springbrunnen stand, und liess mich von den 124 sich weit über mich hinneigenden Zweigen des Gardenienbusches beschatten. Wie schön die roten Blüten über mir in dem dunkelgrünen Laubwerk leuchteten. Und wie der lichtblaue Himmel hier und da durch die Zweige hindurchschien. Es war eine Vereinigung von Farbentönen, die mich in ihrer Kraft und kontrastirenden Üppigkeit entzückte. Ich gab mich diesem schönen Bild eine Weile hin, dann begannen sich allmählich die Farben zu vermischen, und ich fing wieder an von den weichen Händen und tiefen Augen der Balbina zu träumen. Ich dachte, wie hold es sei, wenn sie jetzt neben mir sässe. Wenn ich ihr sagen könnte, wie schön sie sei, wie märchenhaft schön, und wie sie mich glücklich gemacht hätte durch die Gabe ihrer Hand. Wenn ich ihr sagen könnte, wie ich sie liebe, wie ich sie geliebt hätte seit dem ersten Augenblick, da ich sie gesehen, und wenn ich dann ihre Hände nehmen könnte, diese weichen, wundermatten Hände, die sie mir lächelnd lassen würde, und wenn sie sich dann glücklich zu mir neigen würde und ich würde den Arm um ihr Leibchen legen, aber in der Nacht müsste es sein und die Sterne glänzen . . . . .

Die Träume waren einfältig, und schliesslich lachte ich darüber. Ich hatte schon die Augen geschlossen, da ich sehr müde war, und war nahe daran, in die wirklichen Träume des Schlafes hinüber zu dämmern. Da hörte ich auf dem Kies knirschende Schritte sich nähern, so dass ich emporfuhr. Die beiden Engländerinnen schritten steif an mir vorüber. Ich grüsste und sie senkten dankend ihre fleischlosen Häupter. Darauf stand ich auf, pflückte eine Gardenie aus den Zweigen über mir und begab mich in das Hôtelgebäude zurück. Ich liess mir den Kaffee auf mein 125 Zimmer bringen und erledigte einige Briefschaften. Dann streckte ich mich auf das Sofa hin, um ein wenig zu ruhen. Ich meinte ein paar Stunden schlafen zu können, aber es wollte nicht gehen. Es stiegen allerlei durcheinanderfliessende Vorstellungen herauf, die einander jagten und mich keinen Schlaf finden liessen. Ich sah die schöne Balbina bei Tisch mir gegenüber sitzen, sah mich auf der Marmorbank im Garten, die leuchtenden Gardenienblüten und den blauen Himmel über mir, meinte die Hand der Balbina in der meinigen zu fühlen und hörte dazwischen den Catalanen mit heiserer Stimme singen:

»Die Liebe von Zigeunern stammt,
Sie fragt nach Rechten nicht, Gesetz noch Macht –«

Als ich mich nach einigen Stunden erhob, fühlte ich mich müder als zuvor, ärgerte mich über meine nervösen Gedanken und beschloss einen Spazirgang ins Freie zu machen, den Guadalquivir entlang. Ich ging also die Calle de Alfonso XII hinunter und bog dann rechts in die enge Calle de San Vicente ein. Als ich dort einmal den Blick die Gebäude hinauf richtete, blieb mein Auge verwundert an einem Balkon hängen, der einem der nächsten Häuser gehörte. Auf dem Balkon stand an der Seite eines bildhübschen jungen Menschen Doña Balbina. Sie schauten beide die Strasse hinab und plauderten. Sie hatte jetzt eine grauseidene Taille an und ein rotes Tuch um den Hals. Zwischen den Lippen hielt sie eine weisse Rosenblüte, die Nelke hinter dem Ohr war verschwunden. Als ich ziemlich unterhalb des Balkons angelangt war, grüsste ich hinauf. Sie nickte und liess die Rosenblüte niederfallen. War es 126 Absicht oder war es Zufall? Die Rose lag zu meinen Füssen. Ich nahm sie auf und behielt sie in der Hand. Im Weitergehen grüsste ich dankend zur Balbina empor. Sie nickte wieder, ernst und bleich. Der junge Mensch war von ihrer Seite verschwunden. Am Ende der Strasse wandte ich mich nochmals um. Nun war auch sie in die Zimmer des Hauses eingetreten.

Eine weisse, duftende Rose in der Hand, schlenderte ich weiter. Wenn ich den Duft der Blüte einsog, dachte ich daran, dass dieser selbe Duft soeben noch die Freude der Balbina gewesen war. Ich fing wieder an nachzusinnen über sie. Wie kam sie auf diesen Balkon der Calle de San Vicente, und wer war der junge Mensch neben ihr gewesen? Dann traten mir wieder die zwei Toreros in den Sinn, mit denen sie am Vormittag im Café America gewesen war. Welche Beziehungen bestanden zwischen ihr und diesen Männern?

Meine Gedankenläufe verirrten sich. Nein: ein gewöhnlicher Mensch war diese Balbina nicht. Aber was, was war sie? War sie glücklich, war sie es nicht? Ich kam zu keiner Gewissheit. Nur dass sie schön sei, betörend schön, und blass und schlank und dass sie zarte, leise Hände habe, und dass ich sie liebe, das wusste ich.

Ich erging mich am Ufer des Guadalquivir, sah am Hafen den Schiffern zu, hörte auf ihre vereinzelten Lieder, und steuerte endlich, als die Sonne ihrem Untergang nahe war, der schlanken Giralda zu, um die Aussicht von der Höhe des Turmes zu geniessen. Oben befand ich mich zu meiner Freude allein. Die Sonne war gerade im Begriff, hinter 127 dem Horizont hinabzutauchen, und nun breitete sich ein Bild zu meinen Füssen aus, so reich und schön und wunderbar, dass es schien, aus einem alten Märchen genommen zu sein. Die weite Stadt, deren Leben eintönig rauschend zu mir empordrang, lag eingehüllt in einen rotgoldigen Duft, und hier und da blitzten die Türme der Kirchen in den versinkenden Strahlen auf. Einzelne Rufe hoben sich klarer aus dem Getöse ab, und irgendwo in der Nähe wurde getanzt, denn der Takt klatschender Hände und das Geklapper der Kastagnetten war deutlich zu vernehmen. Am Hafen ragten die Masten und Segel, rosig beschienen, in die abendliche Luft, und weiter nach Westen zu, ausserhalb der Stadt, brachen sich die Lichter der sinkenden Sonne im Guadalquivir, so dass es aussah, als wandere dort ein Strom flüssigen Goldes durch die andalusischen Felder dem Meere zu. Im Norden breiteten sich die Hügel, die der Sierra de Aracena vorgelagert sind, aus, mit hellen Dörfern und lachenden Gärten geschmückt. Einzelne Ventas lagen verstreut durch das ganze Land, und weit hinter einem goldig blauen Hügel troff die blutende Sonne zu Grabe, langsam, eine mächtige Kugel. Je tiefer sie sank, desto stiller wurde das Rot der Strahlen, die durch die Landschaft flogen, und als sie endlich ganz hinabgeglitten war und nur noch ihr Abglanz am Horizonte stand, fingen auf den Türmen Sevillas die Abendglocken zu klingen an, erst hier, dann da, dann allenthalben. Bald darauf brach die Dämmerung herein, die Töne der Farben mischten sich und wurden trübe, und ein kühler Wind machte sich auf, der die Nacht ankündete. Mein Auge umfing noch einmal 128 das schöne Bild, die Stadt und die Felder und die Gärten, bis zu dem fern dunkelnden Gebirge hin, dann schritt ich wieder hinunter zur Stadt, wo man eben die Lichter anzuzünden im Begriffe war. Denn ist die Sonne in jenen Gebieten einmal hinab, so ist auch die Dunkelheit schnell hereingebrochen. Die sachten Übergänge, die dem Norden zu eigen sind, giebt es dort nicht. Dem Winter folgt der Sommer schnell auf den Füssen, und dem Tage die Nacht. Frühling und Dämmerung sind bald zerronnen, und auch die Menschen sind so: aus den schlummernden Kindern blühen schnell die wissenden Männer und Frauen heraus, und es fehlt der liebliche Frühling in ihren Tagen.

Der Hausmann des Hôtels hatte mir ein Billet für eine Prosceniumsloge im Teatro San Fernando besorgt. Der Beginn der Vorstellung war für 9 Uhr angesagt. Als ich die im Parterre gelegene Loge zu dieser Stunde betrat, lag das Theater noch ziemlich leer, nur auf den oberen Rängen war Leben. Auch die Musiker stellten sich erst allmählich ein, begannen ihre Instrumente zu stimmen und die Noten aufzuschlagen. Es war halb zehn vorüber, als der Kapellmeister erschien. Man zischte Ruhe, die Ouverture begann, dann öffnete sich die Scene, und das Spiel nahm seinen Anfang. Ich verlangte nach dem Augenblick, wo Carmen erscheinen musste. Endlich kündete die Musik sie an. Sie kam über eine Brücke aus dem Hintergrund daher, ruhig, in stolzer Haltung, eine Nelke im Mund.

Ihre Stimme war nicht gross, aber glockenrein. Am besten gelangen ihr die tiefen Töne. Für die Höhe war sie nicht sehr geschaffen, da klang die Stimme zuweilen eckig. Das Lied »Draussen am Wall von Sevilla« sang sie 129 verführerisch, halb träumend und melancholisch, beinahe wie ein Kind. Als sie mit »Die Liebe von Zigeunern stammt« die sevillanischen Männer zu verwirren suchte, musste ich denken, dass jetzt irgendwo in einer der Logen ein dicker Valencianer die Ohren spitze und summend das Haupt zum Takt bewege. Ganz aussergewöhnlich brachte die Balbina den Satz:

Lasst sehn, was für mich übrig blieb?
Carreau – Pique – der Tod!

zum Vortrag, müde, leidenschaftslos, mit grossen Augen und in einem Tremolo, das schon die grauen Schatten der Zukunft ahnen liess.

Ihr Spiel war so, wie es aus ihren kurzen Äusserungen bei Tisch zu erwarten war. Sie bewahrte immer etwas Königliches in ihrer Haltung, und ihre Bewegungen waren gemessen, ja kalt. Sie liess sich nie zu einem übereilten Ausbruch der Leidenschaft hinreissen, nur ein nervöses Auftreten der kleinen weissbeschuhten Füsse oder ein krampfhaftes Ballen der Hände liess mitunter ihre Erregung erkennen. Ihre Kleider waren einfach und hoben noch die Schlankheit ihrer Figur. In dem unordentlichen Haar hatte sie einige rote Blüten. Als im dritten Akt, in der Gebirgsscene, der unglückliche José, für den sie nichts mehr empfindet, vor ihr niederkniet und sie in den heiligsten Tönen seiner Liebe um Gnade anfleht, drehte sie sich langsam, langsam ein Cigarettchen in ihren weissen Fingern und setzte es in Brand.

Die Wiedergabe der Todesfurcht im letzten Akt war wohl der Gipfelpunkt ihrer Leistung. Das Publikum war begeistert und überhäufte sie mit Beifall. Es war zu bemerken, dass sie am Schluss völlig erschöpft war. Ihr Lächeln, 130 als sie dem Publikum, das sie immer wieder vor die Rampe rief, dankte, war müde, ihre Lippen fahl und die Augen glanzlos. Einmal nickte sie in meine Loge hinüber, aber wie abwesend. Dann senkte sich der Vorhang zum letztenmal. Das Publikum drängte hinaus. Das Spiel war zu Ende.

Ich ging langsam meines Weges durch die Nacht. Die Lieder der Balbina wollten mir nicht aus dem Ohr, und die Bewegungen ihres Körpers tauchten immer wieder vor mir auf. Es war noch lebhaft in den Strassen Sevillas. Aus den Bodegas kamen Guitarrenklänge und ab und zu das Kastagnettengeklapper und Händeklatschen zu einem Tanz. Der Mond schien, aber er fand nur selten die engen Gassen hinab. Ich ging gemächlich dem Hôtel zu, begab mich sofort auf mein Zimmer, zündete eine Lampe an und machte es mir bequem. Ich legte mich auf den Divan und dachte an die Vorstellung im Teatro San Fernando zurück. Scene für Scene zog wieder an mir vorüber, und ich suchte mir jede Bewegung, jeden Blick der Balbina von neuem vorzustellen. So blieb ich grübelnd und rückerinnernd bis tief in die Nacht hinein. Endlich konnte ich den Luftzug, der von dem etwas geöffneten Fenster herkam, nicht mehr ertragen. Ich erhob mich, wankte, schon halb im Traum, hinüber und schloss das Fenster. Dabei warf ich einen Blick in den Garten hinab, wo das Mondlicht in den Zweigen und auf den Wegen lag. Der Springbrunnen ging, und die hellen Tropfen des Wassers fielen glitzernd in das steinerne Becken zurück. Es kam mir vor, als sässe jemand auf der Marmorbank, die in märchenhaftem Glanz dalag. Aber ich achtete nicht weiter darauf, ich hatte nicht mehr die Energie, meine erschlafften Gedanken zu sammeln. Eine bleierne Müdigkeit lastete auf 131 mir. Ich hatte während der Fahrt von Granáda her in der vergangenen Nacht kein Auge geschlossen, nun verlangte die Natur ihr Recht. Mir war noch, als hörte ich, da ich das Fenster schloss, die Türme der Stadt eine Morgenstunde anschlagen, doch kam es mir nicht mehr zum Bewusstsein, welche. Ich tappte mich nach dem Divan zurück, sank auf ihn nieder, und nicht lange, so schlief ich.

Es war kein erquickender Schlaf. Das Bild der Balbina trat mit in ihn hinüber, und bald begann sich ein Traumgesicht zu gestalten, so lebhaft und klar, dass ich noch heute behaupten möchte, es wäre Wahrheit gewesen. Zum mindesten habe ich niemals einen so klaren Traum gehabt, und keiner ist mir so in allen Einzelheiten im Gedächtnis geblieben. Mir ist noch heute, als höre ich die Worte der Balbina in jener Nacht und fühle ihr Herz an meinem schlagen. Und oft frage ich mich: war es auch wirklich nur ein Traum?

Wir sassen beide im Garten auf der Marmorbank, es war eine Nacht voll Blüten und Sternen. Die Balbina hatte das Kleid der Carmen an, so wie sie es im letzten Akt getragen hatte, aus weisser Seide, und weisse Schuhchen an den zierlichen Füssen und über dem nächtlichen Haar eine weisse Mantilla. Ich hatte ihr eine Fülle von Gardenien aus den Zweigen über uns gepflückt und ihr an die Brust gesteckt, wo sie die Mantilla zusammen hielten. Ich sehe noch das Blutrot der Gardenien auf der weissen Seide und die grünen Blätter dazu. Der Mond kam über die Mauer des Gartens und stieg langsam in die Wedel einer Palme empor. Die Sterne funkelten und die Fontaine vor uns schoss silberne Perlen in dem bleichen Licht, und Düfte schwebten ringsum, so schwer, dass sie die Sinne verwirren 132 wollten. Ich hatte den Arm um die junge Brust der Balbina gelegt, und ihre Wange lehnte an meiner. Wir sassen schweigend, lauschten wie im Traum der lieblichen Stille der Nacht und sahen dem Spiel des plätschernden Wassers zu. Die Augen der Balbina schimmerten süss gleich den Sternen, die an dem südlichen Himmel standen.

Als ich am Morgen erwachte, war es heller Tag. Der Kopf war mir benommen, die Glieder wie zerschlagen. Die nächtliche Lage auf dem Divan war gerade keine bequeme gewesen. Ich begab mich deshalb noch nachträglich zu Bett und blieb bis Mittag liegen. An Schlaf war freilich nicht zu denken, das Traumbild der vergangenen Nacht liess mich nicht los. Es war mir immer, als müsste es Wahrheit gewesen sein und schien mir unfassbar, dass ich auf dem Divan erwacht war und nicht im Garten auf der Marmorbank unter den Blüten des Gardenienbaumes.

Als man zum Mittagessen läutete, erhob ich mich und ging hinab. Da ich in den Speisesaal trat, schweifte mein Auge zuerst nach dem Platz der Balbina hinüber. Er war leer. Die Unterhaltung bei Tisch schien aussergewöhnlich lebhaft zu sein. Ich nahm wieder dort Platz, wo ich am Tage zuvor gesessen hatte.

»Nun,« fragte ich »wo ist denn unsere Carmen heute?«

Man sah mich erstaunt an.

»Aber verehrter Freund –«

»Er weiss es noch nicht.«

»Was ist denn geschehen?« fragte ich.

»Lösen Sie uns das Rätsel, wenn Sie können. Die Balbina ist tot.«

»Die Balbina ist tot?!« 133

»Man hat sie heute Morgen im Garten gefunden, auf der Marmorbank neben dem Springbrunnen, wissen Sie. Sie hatte noch das Kostüm der Carmen von gestern Abend an, in weisser Seide, und eine weisse Mantilla über dem Haar. Auf der Brust trug sie einen Strauss roter Gardenien. Und der Springbrunnen ging.«

»Der Arzt meint, der Schlag habe sie gerührt.«

»Sie war immer ein Rätsel, gerade wie ihr Tod.«

Der Valencianer, indem er ein Huhn zerlegte, wiegte seinen dicken Schädel hin und her und fing zu summen an:

Die Liebe von Zigeunern stammt,
Sie fragt nach Rechten nicht, Gesetz noch Macht – etc. etc. 134


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