Hilda Bergmann
Vom Glöckchen Bim und andere Geschichten
Hilda Bergmann

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Der herabgefallene Stern.

Es ging auf den Herbst zu, die Nächte waren kühl und klar und in mancher von ihnen fielen die Sternschnuppen in einem so lustigen Durcheinander vom Himmel herab, daß die Bäume im Walde die Köpfe schüttelten und die Vögel aus den Nestern guckten. Die alte Dohle aber murmelte: »Mir scheint, mir scheint, heut' brennen die kleinen Engel ein Feuerwerk ab und werfen uns die Raketen auf die Erde herunter.« Die Dohle war ein sehr kluger und gebildeter Vogel und mußte es wissen. Dann steckten die Vögel die Schnäbel wieder in den Flaum, die Bäume schliefen ein und träumten von Feuerwerk und himmlischen Raketen und die Dohle zog sich tiefer in ihr Nest im hohlen Eichbaume zurück.

Einmal aber, in einer besonders schönen Nacht, geschah etwas Unerwartetes: Über dem schwarzen, schweigenden Walde glänzte ein grüner Schein auf, ein Leuchten fuhr durch die Luft und in allen Stimmen des Waldes raunte und rauschte, flüsterte und 116 zwitscherte es: »Ein Stern ist vom Himmel herabgefallen, denkt euch, ein wirklicher und wahrhaftiger Stern.«

»Nein, hat man so etwas je gehört,« sagte das Eichhorn, spitzte die Ohren und setzte sich auf die Hinterbeine.

»Wo ist der herabgefallene Stern?« fragte Ulla, das zierliche, junge Reh, und sah mit großen, schwarzen Augen um sich. Die kleine Rike, ihre Schwester, zitterte am ganzen Leib und flüsterte: »Ich fürchte mich, ich fürchte mich.« Die alten Tannen aber bewegten die Äste und meinten: »In unserem ganzen Leben ist so etwas nicht vorgekommen und wir stehen doch schon an die hundert Jahre hier.«

Sie reckten und streckten sich, um etwas zu sehen, ja sie hätten am liebsten ihre Wurzelfüße aus dem Erdreich gezogen, um den Gast aus dem himmlischen Reiche begrüßen zu können.

Der Stern lag am Wiesenrande und war sehr unglücklich. Er, der gewohnt war, frei wie ein Vogel im Raum zu schweben, mußte jetzt unbeweglich am Boden liegen, ja sogar ein wenig im Erdreich drin stecken. Außerdem hatte er sich beim Sturze zwei Zacken abgebrochen 117 und die andern verbogen und ein Dornstrauch hatte ihm das Gesicht zerkratzt.

»Eine abscheuliche Nachbarschaft für einen Stern,« sagte er mißvergnügt zu sich selbst. »Ich habe mir meine Reise ins Unbekannte und meinen Empfang hier unten ganz anders vorgestellt!«

»Da ist der herabgefallene Stern,« flüsterte es nun aus dem Walde und eine Menge Besucher näherte sich dem fremdartigen Schimmer am Wiesenrand. Da kam das kecke Eichhorn mit dem neugierigen Hasen, da kamen die Rehe Ulla und Rike und ihnen folgten Tag- und Nachtvögel, die Fledermäuse und die Abendfalter. Es war ein Ereignis, wie es sich noch nie zugetragen hatte.

Jetzt wagte das Eichhorn als der mutigste unter den Besuchern eine Ansprache und begann: »Erhabener Stern, großer Himmelsbewohner! Wir haben dich und deinesgleichen bisher nur immer aus der Ferne bewundert und angestaunt. Wir trauen unseren Augen nicht, daß du herabgekommen bist, uns auf unserer Wiese zu besuchen. Nie, soweit die ältesten Leute sich erinnern, hat sich ein ähnliches Wunder begeben. Wir sind beglückt, wir fühlen uns geehrt und wir heißen dich in unserem Kreise von Herzen willkommen!« Das war eine sehr schöne Rede und alles wartete neugierig, was der Stern antworten würde und was er auf der Wiese zu tun gedenke. 118

»Ach,« antwortete der Stern und es klang so über die Maßen traurig, daß sich die Ankömmlinge erstaunt ansahen. »Wäre ich doch nie herabgekommen! Wäre ich doch in meiner Heimat geblieben! Ich kreiste mit unzähligen Brüdern und Schwestern im Raum. Ich wanderte strahlend durch die Unendlichkeit. Aber mich packte die Neugier, zu sehen, wie es auf der Erde zuginge. Ich wollte gar nicht für immer herabkommen. Ich wollte nur ein bißchen näher zuschauen. So trennte ich mich von meinen Gefährten, kam heran, sah Berge, Wälder, Meere und mit einemmale riß und zog es mich herab und ich stürzte in hartem Anprall nieder. Jetzt liege ich halb im Boden vergraben, habe mir zwei Zacken abgebrochen und die anderen verbogen und weiß nicht, was aus mir werden soll!«

»Die Zacken werden vielleicht wieder nachwachsen,« tröstete die Eidechse den betrübten Stern. »Ich brach mir im Frühjahr das Schwänzchen ab und es ist ganz schön nachgewachsen.«

»Vielleicht könnte man sie auch wieder zurechtbiegen,« meinte Hase Nepomuk. Er hätte für sein Leben gern den schönen Stern getröstet.

»Das ist noch gar nicht das Schlimmste,« entgegnete der Stern. »Das Schlimmste ist, daß ich hier verlöschen muß. Ein gefallener Stern verliert seinen Glanz. Das ist die Strafe, wenn er seine himmlische Heimat verläßt.« In der Tat war der grüne Schimmer, den der Stern ausstrahlte und der an das Licht von vielen Glühwürmchen erinnerte, schon merklich schwächer geworden. »Ich muß hier auskühlen! Ich muß hier sterben!« jammerte der Stern.

Ratlos sahen die Tiere einander an. Es war zu traurig, daß man dem armen, herabgefallenen Sterne nicht helfen konnte.

»Wenn jemand den Stern aus dem Boden heben könnte, dann würde er vielleicht wieder zu fliegen beginnen,« sagte ein feines Stimmchen. Alle sahen sich um, es war Ulla, die größere 119 Rehschwester, die so sprach. Nepomuk wiegte den Kopf: »Wer sollte das zustande bringen?« erwiderte er. »Wer ist stark genug, den Stern in die Luft zu heben?«

»Das könnte nur einer,« entgegnete das Eichhorn. »Nur Nemo, der gewaltige Hirsch. Aber er ist stolz und unnahbar! Niemand wird wagen, ihn darum zu bitten.«

»Er haust im unwegsamen Walddickicht und zeigt sich höchst selten,« krächzte die Dohle. »Seine Hufe sind wie von Eisen, sein Geweih gleicht einer Krone. Ja, wenn Nemo kommen und dem armen Stern helfen wollte!«

»Ich will ihn darum bitten,« sagte Ulla mit klarer Stimme. »Ich bin sicher, er wird mit mir kommen. Wer begleitet mich?« Ein leises Gemurmel lief durch die Versammlung, aber niemand meldete sich. Nur Rike, die ängstliche, kleine Schwester, lief mit, als Ulla mit ein paar raschen Sprüngen über die Wiese setzte.

Um den verblassenden Stern scharten sich in achtungsvoller Entfernung alle Tiere. Stunde um Stunde rann schweigend hin, der Stern ward blässer und blässer und seufzte manchmal tief auf: »Wenn doch Nemo käme, wenn doch Nemo bald käme!«

Unterdessen liefen die beiden Rehe auf verborgenen Waldpfaden der Schlucht entgegen, in welcher der Edelhirsch wohnte. Sie fühlten nicht wenig Angst in ihren Herzen. »Aber was hilft es,« sagte die vernünftige Ulla. »Er ist der einzige, der den armen Stern wieder in die Höhe heben kann.« »Wenn er uns nur nicht mit dem Geweih aufspießt,« jammerte Rike. »Ich fürchte mich so sehr vor Nemo.«

Ullas feines Ohr vernahm ein Geräusch wie von brechenden Zweigen. Angewurzelt blieb sie stehen. Im schwachen Sternenlichte näherte sich eine große, dunkle Gestalt; die Rehe erkannten die Umrisse und das Geweih eines riesigen Hirsches. 120

»Was wollt ihr hier?« fragte eine strenge Stimme. »Um diese Zeit haben junge Rehe zu schlafen und nicht in den Wäldern herumzulaufen! Verstanden?«

Rike verbarg sich ängstlich hinter der Schwester. Ulla aber hob den Kopf und sagte mit einer Stimme, die ein ganz klein wenig bebte: »Ein Stern ist vom Himmel gefallen, ein wunderschöner Stern. Drüben am Wiesenrand liegt er und ist sehr traurig, weil seine Zacken verbogen sind und weil sein Licht verlöschen muß, wenn ihm niemand in die Höhe hilft. Und das kannst nur du tun mit deinem großen, starken Geweih.«

»So, so,« sagte der Hirsch und seine Stimme klang ein wenig freundlicher. »Ein Stern ist also vom Himmel gefallen?«

Jetzt wurde auch die kleine Rike mutiger. »Ein so schöner Stern mit grünem Schein!« sagte sie hinter dem Rücken ihrer Schwester hervor. »Und er möchte so gerne wieder fliegen!«

»Wenn ihr mir den Weg zeigen wollt, komme ich mit euch,« entgegnete Nemo. »Ich habe Sterne bisher immer nur am Himmel gesehen. Nie während meines ganzen Lebens ist einer auf die Erde gefallen. Ich will ihm gerne helfen, wenn ich kann!« Und zu dritt eilten der Hirsch und die beiden Rehe durch Jungholz und Hochwald nach der Wiese.

Es war schon dämmerig geworden und die ersten Vogelrufe kamen verschlafen aus den Zweigen. Witternd hob der Hirsch den Kopf in die Höhe, dann trat er mit raschen Schritten ins Freie. Am Waldrand kauerten die Tiere und murmelten bei seinem Anblick: »Nemo kommt, der stolze, gewaltige Nemo.« Alles wich zur Seite. »Wo ist der Stern, der vom Himmel gefallen ist?« fragte der Hirsch und die beiden Rehe streckten die Köpfe vor und suchten nach der Stelle, wo sie den Stern verlassen hatten. Aber kein Leuchten, kein Fünkchen Glanz war mehr zu erblicken. 121

»Er ist erloschen, noch ehe der Morgen anbrach,« sagte das Eichhorn mit leiser Stimme und wischte sich eine Träne aus den Augen. »Der arme, schöne Stern!«

Nemo trat näher; mit einer einzigen Bewegung seines mächtigen Hauptes stemmte er einen dunklen Gegenstand mit abgebrochenen und verbogenen Zacken aus der Erde. Schweigend ließ er dann das schwärzliche Ding wieder zu Boden fallen, wandte sich und ging mit gelassenen Schritten in den Wald zurück. Betrübt folgten ihm die beiden Rehe.

»Sterne gehören eben an den Himmel und nicht auf die Erde,« erklärte das Eichhorn und wandte sich zum Gehen. »Oben strahlen sie als die hellen Laternen der Nacht. Hier unten müssen sie sterben und verlöschen. Ich gehe auf meinen heimatlichen Baum zurück und hole mir ein paar Haselnüsse zum Frühstück.« 122

Langsam zerstreuten sich die Tiere. Der Morgenwind fuhr durch die Zweige und blätterte etwas Laub herab. Es fiel auf den Stern und deckte ihn zu. Die Sonne kam mit ihrem goldenen Gesicht über den Horizont; ihre Strahlen schlüpften durch Grashalme und Laub und liebkosten den erkalteten Stern. »Er war ein Himmelsbewohner; er wanderte leuchtend durch viele Nächte,« sagten die Sonnenstrahlen. »Armer, schöner, erloschener Stern!« 123

 


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