Hilda Bergmann
Vom Glöckchen Bim und andere Geschichten
Hilda Bergmann

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Die Geschichte vom blauen Tumpf.

Inmitten von Bergen, Wäldern und grünen Sommerwiesen liegt ein Wasser, blau wie das Auge des Himmels, klar wie die Luft und durchsichtig wie Bergkristall. Die Wolken wandern darüber hin und spiegeln sich in der glänzenden Fläche. Der Wind bläst und wirft hundert kleine Wellen auf; die haben weiße Mützchen aus Schaum auf den Köpfen und spielen fangen wie mutwillige Kinder. Das Schilf am Ufer plaudert und raunt und singt sein uraltes Lied. Nichts auf der Welt kann so schön sein, wie der blaue Tumpf.

So dachte der Wassermann, der im blauen Tumpf wohnte. Tief unten zwischen Algen und Schlingpflanzen hatte er sein Reich. An schönen Abenden stieg er mit seiner silbernen Harfe empor und spielte und sang. 48

»Wir Wasserleute sind die Vornehmsten auf der Welt,« pflegte er hochmütig zu den Wolken des Himmels zu sagen, wenn sie lächelnd vorüberflogen. »Ihr Wolken müßt es ja wissen! Stammt nicht alles Wasser vom Himmel her und kommt als Gnade zur Erde herab? Ist nicht unser blauer Tumpf selbst ein Stück herabgefallenen Himmels?«

Die kleine Wasserjungfer Li, seine Tochter, war anderer Meinung. Sie plauderte und scherzte mit allem, was ihr in die Nähe kam. Der Wind war ihr Freund, das Uferschilf ihr Versteck, die großen gelbgeränderten Schwimmkäfer waren ihre Spielgefährten. Die Wellen schaukelten sie und warfen ihr den glitzernden Schaum ins Gesicht. Die kleine Li tanzte mit ihnen, sie schwamm, spielte, lachte und freute sich.

Eines Tages ließ sich ein Schwarm Wildenten mit lautem Geschrei im Schilfe nieder. Sie kamen aus den wärmeren Ländern in ihre Heimat zurück und freuten sich unbändig auf ihre alten Nester.

»Werdet ihr stille sein!« rauschte das Schilf. »Hier im blauen Tumpf wohnt der Wassermann, der mag es nicht, wenn man so lärmt und schreit.«

Einen Augenblick war es ganz stille unter den Enten. 49 Dann hob der Anführer, ein erfahrener und weitgereister Enterich, den Kopf. Sein Gefieder schillerte grünlich und zum Zeichen seiner Würde trug er blaue Bänder an den Flügeln.

»Ach, der Wassermann!« sagte er, »ich weiß gar nicht, worauf er sich eigentlich so viel einbildet. Die Wasserleute haben doch nicht einmal eine Seele!«

Nach diesen Worten rauschte der Entenschwarm auf und verschwand über dem nächsten Walde.

Erschrocken hatte die kleine Li zugehört. Niemand hatte noch so verächtlich von dem Wassermann gesprochen.

»Was ist das, Seele?« fragte sie am nächsten Tage ihren Vater.

»Seele?« erwiderte der Wassermann erstaunt. »Seele ist ein unnützes und überflüssiges Ding. Schon unsere Urahnen haben es sich abgewöhnt, Seelen zu besitzen. Sie sind höchst unbequem und heutzutage gänzlich unmodern.«

Li gab sich damit nicht zufrieden.

»Was ist das, Seele?« fragte sie des anderen Tags die Wasserfrau, die soeben mit Muhme Unke und Base Kröte beim Kartenspiel saß.

Die Wasserfrau legte die Karten aus der Hand und sah Li erstaunt an.

»Wer hat dir solch einen Unsinn und Aberglauben in den Kopf gesetzt? Seelen gibt es nicht!« Und damit wandte sie sich wieder ihrem Kartenspiele zu.

Traurig schlich Li hinaus und schwamm ins Schilf. Die Wellen wollten mit ihr spielen, aber Li hatte keine Lust. Sie mußte immer daran denken, was eine Seele sei und warum ihr niemand etwas darüber sagen könne. Sie klagte dem Wind ihr Leid und dieser flüsterte: »Komm' morgen früh wieder hierher! Vielleicht kann ich dir dann eine Seele zeigen.« 50

Aber am nächsten Morgen sagte die Wasserfrau: »Geschwind, Li, ziehe dein allerschönstes Kleid an, das wasserblaue mit den Silberflittern! Und vergiß auch nicht, die Krone aus Wellenschaum auf den Kopf zu setzen. Wir bekommen heute einen vornehmen Besuch.«

Besuche waren keine sehr häufige Sache im blauen Tumpf. Deshalb war Li sehr neugierig und aufgeregt. Sie sah, daß der Wassermann seine silberne Harfe stimmte, was nur bei besonderen Gelegenheiten vorkam, und daß die Wasserfrau mit einem Heere flinker Wasserspinnen die Wohnung gründlich säuberte und putzte. Li zog also das wasserblaue Kleid an, kämmte ihre langen, blonden Haare und wartete auf den vornehmen Gast.

»Gewiß,« dachte sie bei sich, »wird der mir sagen können, was es mit der Seele für eine Bewandtnis hat.«

Endlich kam der Wassermann und brachte den erwarteten Besuch. Es war ein entfernter Vetter, ein junger Wassermann mit runden, kalten Fischaugen, deren Farbe wechselte wie die des Wassers. Er war sehr freundlich mit der kleinen Li und nannte sie Libelle, was soviel heißen wollte, als »Schöne Li«. Aber von einer Seele hatte auch er niemals vernommen.

Beim Abschied fragte der junge Wassermann, ob Fräulein Libelle nicht mit ihm in das unermeßliche Meer ziehen und seine Frau werden wolle. Er erzählte von den Perlen, die in den Muscheln verborgen wüchsen, er sprach von den Wellen, die so groß seien, wie hierzulande die Häuser, und von den Schiffen, welche die blaue Oberfläche des Wassers durchpflügten. Dann schilderte er das Toben der Stürme und der Brandung und erzählte von den Delphinen, die in den Fluten spielten. Es würde Li gewiß dort gefallen. 51

»Zuerst muß ich eine Seele gefunden haben,« dachte Libelle bei sich und bat den fremden Wassermann um Bedenkzeit.

Der nächste Morgen glitzerte mit hundert Sonnenlichtern auf dem blauen Tumpf. Li schwamm ins Schilf zu ihrem guten Freunde, dem Wind.

»Sieh auf die Wiese hin,« flüsterte dieser ihr ins Ohr. Li gehorchte. Die Wiese jenseits des Wassers lag über und über gelb von blühenden Trollblumen da. Alle hatten ihre Kelche geöffnet, leise schaukelten sie im Windhauche. Aus jeder der gelben Blüten stieg ein zartes Wesen mit Schmetterlingsflügeln und schwebte über seiner Blume. Die Wiese erglänzte von dem tausendfachen Schwingenschlag.

»Siehst du die Blumenseelen?« fragte der Wind. »Jede Blüte hat ihre eigene, kleine Seele. Sie freut sich, wenn die Sonne scheint und der Tag schön ist. Sie trauert, wenn unverständige Menschen ihre Blume vom Stengel reißen und verdorren lassen. Die kleine Blumenseele kennt das Glück, die Sehnsucht und den Schmerz. Sieh nur, kleine Libelle, wie schön die Seelen der goldfarbenen Blumen sind.«

»Ich will auch eine Seele haben, lieber Wind, du mußt mir eine verschaffen!« bettelte Libelle. Aber der Wind war schon wieder weiter geflogen und hörte sie nicht mehr, die kleinen Blumenseelen regten ihre Flügel und schwiegen.

Libelle dachte nach:

»Ich will auf die Wanderschaft gehen und mir selber eine Seele suchen, es muß doch möglich sein, irgendwo auf der Erde eine Seele zu bekommen.«

Sie stieg also aus dem Wasser, band ihre feuchten Haare in zwei Zöpfe, schürzte das wasserblaue Kleid hoch auf und machte sich auf den Weg.

»Ach, liebe Trollblumen, habt ihr vielleicht eine Seele zu verschenken?« fragte sie. Die gelben Blumen schüttelten aber die Köpfe. 52

»Kleine Wasserjungfer, unsere Seelen können wir dir nicht geben. Was sollten wir denn ohne Seele beginnen?«

Die gleiche Antwort gaben auch die Hahnenfüße, die Margeriten und alle Blumen und Gräser auf der blühenden Wiese.

»Vielleicht gelingt es mir bei den Schmetterlingen,« dachte Li. »Sie haben gewiß irgendwo eine überflüssige Seele.« Aber weder die Kohlweißlinge, die glücklich gegen Himmel flogen, noch die kleinen Bläulinge oder die bunten Pfauenaugen hatten eine Seele zu verschenken.

Die Riesenfichte am Waldrand sagte: »Meine Seele ist mit mir geboren und gewachsen, sie wird um so freier und größer, je freier und größer ich bin. Wie könnte ich mich von ihr trennen! Aber einen guten Rat will ich dir geben, kleine Libelle. Geh zur Bergmuhme, hoch oben am Rande des Schneefeldes im Gebirge. Sie ist so alt wie der Berg, auf welchem sie wohnt. Sie ist so erfahren, daß sie für alles einen Ausweg weiß. Sie ist das einzige Wesen, das dir sagen kann, wie man zu einer Seele kommt.«

Die Bergmuhme saß vor ihrem Hause und spann. Sie war uralt, ihr Gesicht verwittert wie das Gestein der Felsen; ihr Haar hatte die Farbe des Schneefeldes hinter ihrem Haus; ihre Augen waren grünlichblau wie Gletschereis.

»Ei, eine kleine Wasserjungfer!« sagte die Bergmuhme, als sie Libelle erblickte. »Was führt dich hierher ins Gebirge unter Schnee und Eis?«

»Ich suche eine Seele,« entgegnete Libelle. »Aber niemand will mir eine geben. Endlich schickte mich die große Fichte zu dir. Du seiest das einzige Wesen, das mir zu einer Seele verhelfen könnte.«

»Hm, hm,« sagte die Bergmuhme und schnupfte aus einer großen Tabakdose. »Wozu brauchst du denn eine Seele, mein Töchterchen? Solange ich denken kann, schwimmen die Wasserleute ohne Seele herum und sind kühl, klar und zufrieden. Kennen 53 nicht Leid und Betrübnis, nicht Sehnsucht noch Glück. Was wolltest du denn mit einer Seele beginnen, mein Töchterchen?«

»Ich will Sehnsucht, Glück und Leid empfinden!« erwiderte Libelle. »Ich will eine Seele haben. Die kluge Wildente sagte, daß eine Seele das Allerkostbarste und Wertvollste auf der Welt sei. Ich habe mir vorgenommen, nicht eher zu rasten, als bis ich eine Seele habe.« 54

»Wollen sehen, mein Töchterchen,« sagte die Alte und nieste heftig. »So einfach ist die Sache nicht! Man muß lange warten und suchen, bis man eine freie Seele findet. Aber wenn du drei Jahre bei mir bleiben und mir bei meiner Arbeit helfen willst, dann sollst du drei Wünsche frei haben, die alle in Erfüllung gehen. Willst du dann eine Seele haben, so sollst du sie bekommen.«

»Was für eine Arbeit?« fragte Libelle ängstlich, denn sie hatte ja nichts gelernt.

Die Alte zeigte auf ein Spinnrad, das neben ihr stand. »Ich spinne den Glanz des Morgens und die blauen Schleier des Abends. Ich spinne die Farben der Tageszeiten und den Kreislauf des Jahres. Es ist eine schöne und wichtige Arbeit, bei der du mir helfen sollst.«

»Ich will es versuchen,« sagte die kleine Libelle und blieb bei der Bergmuhme. Sie lernte das Garn zupfen und um den Rocken binden, sie lernte den Faden drehen und glätten. Im ersten Jahre spann sie den weißen Morgennebel und den schwarzen Samtmantel der Nacht. Im zweiten Jahre durfte sie die Abendröte spinnen und das Leuchten der hohen Berge. Aber im dritten Jahre, als sie schon ganz geschickt geworden war, spann Libelle das Hochzeitskleid des Frühlings aus Anemonen und Narzissen, sie spann des Sommers grünen, wehenden Laubmantel und die buntscheckige, purpurne und goldene Schleppe für den Herbst. Als Libelle dann noch aus dem allerfeinsten Garn die leichte, weiße Daunendecke des Winters gesponnen hatte, nickte die uralte Bergmuhme zufrieden mit dem Kopfe.

»Hast mir brav geholfen, mein Töchterchen,« sagte sie. »Darfst jetzt deine drei Wünsche tun, die dir alle erfüllt werden sollen. Aber sei klug und vorsichtig, damit du nichts Törichtes verlangst.«

Libelle lächelte. Hatte sie nicht drei Jahre lang Tag und Nacht an ihre drei Wünsche gedacht? 55

»Erstens möchte ich schön sein, wunderschön,« sagte sie mit glänzenden Augen. Die Bergmuhme schüttelte den Kopf.

»Bist doch jung, mein Töchterchen, und jung ist der Teufel schön,« sagte sie. »Aber dein Wunsch soll erfüllt werden.«

»Zweitens möchte ich Flügel haben und fliegen können, wohin es mich zieht,« setzte Libelle fort.

Abermals schüttelte die Bergmuhme bedenklich den Kopf. »Sollst Flügel bekommen, Wasserjüngferchen, schöne, glänzende, funkelnagelneue Flügel, aber sieh dich vor, daß du das Wichtigste nicht vergißt. Zwei Wünsche sind dahin, du hast nur einen einzigen noch frei.«

Triumphierend hob Libelle den Kopf. »Und drittens wünsche ich mir eine Seele!«

»Sollst eine Seele haben, Libellchen, sollst eine haben,« nickte die Alte. »Aber leider hast du etwas Wichtiges vergessen! Hast ja nicht gesagt, was für eine Seele es sein soll! Hast dir ja keine besonders schöne Seele gewünscht! Jetzt kann ich dir nur eine ganz gewöhnliche Feld-, Wald- und Wiesenseele geben. Warum hast du dir auch keine schöne Seele gewünscht?«

Betroffen stand Libelle da und sah die Bergmuhme an. Nein, sie war wirklich zu töricht gewesen, daß sie sich keine schöne Seele gewünscht hatte. Aber dann faßte sie sich und sagte:

»Wenn's nur eine Seele ist, Bergmuhme! Besser eine gewöhnliche Feld-, Wald- und Wiesenseele, als gar keine!«

Die Alte streckte ihren Finger aus. Da wurde Libelle kleiner, bekam einen grüngoldenen, gestreckten Leib und vier glashelle, durchsichtige Flügel. Sie fühlte sich leichter werden, die Flügel bewegten sich und hoben sie hoch hinaus in die warme, durchsonnte Luft.

»Ich kann fliegen!« jauchzte Libelle. »Ich bin schön, ich kann fliegen und ich habe eine Seele bekommen.« 56

Sie hob sich empor und nahm den Weg zu ihrer Heimat, den blauen Tumpf. Auf der Uferwiese standen die Trollblumen und blühten, es war Frühling wie vor drei Jahren. Wieder schwebten die Blumenseelen über den Kelchen. Wieder tanzten die Schmetterlinge von Blume zu Blume. Pfeilschnell schoß die Libelle heran. Sie glitzerte und leuchtete, ihre neuen, glashellen Flügel strahlten.

»Wer ist die schöne Fremde?« fragten die Trollblumen.

»Das ist ja eine fliegende Kostbarkeit,« murmelten die Kohlweißlinge.

»Sie ist das Glänzendste auf der ganzen Wiese,« raschelte das Gras. Glücklich flog die Libelle dahin. Die Luft trug sie so wie früher die Wellen des blauen Tumpfs.

»Seht doch den merkwürdigen, neuen Schmetterling!« sagten die Wildenten, die gerade wieder im Schilfe rasteten. 57

Neugierig kamen die vielen kleinen Wellen herbeigelaufen und warfen ihre weißen Schaummützchen an den Strand. Neugierig sahen die flinken Wasserspinnen und die schwarzgelben Schwimmkäfer auf die Libelle.

»Komm zu uns, bleibe bei uns,« riefen und baten sie. »Nirgends in der Welt kann es so schön sein als beim blauen Tumpf.«

Das fand Libelle auch. Sie blieb in ihrer alten Heimat. Den ganzen Sommer lang fliegt sie mit ihren hellen Flügeln pfeilgeschwind durch die Luft. Sie rastet im Schilf und hört sein uraltes Lied. Sie gleitet über den Wasserspiegel und sieht, wie die Wellen fangen spielen. Manchmal tauchen Wassermann und Wasserfrau aus der Tiefe und verschwinden wieder in der unergründlichen Flut.

Jetzt weiß die kleine Libelle, was eine Seele ist. Sie kennt Sehnsucht, Glück und Leid. Sie hat zwar nur eine ganz gewöhnliche Feld-, Wald- und Wiesenseele, aber sie ist dennoch zufrieden.

 


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