Hilda Bergmann
Vom Glöckchen Bim und andere Geschichten
Hilda Bergmann

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Vom Glöckchen Bim,
das nicht Bam sagen konnte.

Im Himmelreich war Konzert angesagt und der Erzengel des himmlischen Glockenspiels hielt Generalprobe ab. Da hingen die vielen Himmelsglocken und Glöckchen von der Decke herab, die großen aus Erz und die kleinen aus Gold und Silber, und sangen mit tiefen oder hellen Stimmen ihr Bim‑Bam, Bim‑Bam, laut und leise, langsam oder schnell, wie es ihre Art war, aber alle so, daß es schön zusammenklang und herrlich durch die weiten Himmelsräume hallte.

»Aufgepaßt!« sagte soeben der Erzengel mit den großen weißen Flügeln, die er auf- und zuklappte wie ein Schmetterling. »Wir wiederholen das Glockenspiel noch einmal. Daß ihr mir alle schön und deutlich Bim‑Bam singt, hört ihr?«

Die kleinen, dicken Engelknaben, deren jeder eine Glocke zu schwingen hatte, legten sich aus Leibeskräften ins Zeug und ein Geläute hub an, wie es auch im Himmel nur bei ganz feierlichen 8 Anlässen zu hören ist. Aber dem feinen Ohre des Erzengels entging es doch nicht, daß irgend etwas nicht ganz in Ordnung war. Er kam zu der Stelle, wo die kleinen Silberglocken hingen, und beugte sich zu einer von ihnen.

»Sing' noch einmal,« befahl er einer ganz kleinen, schüchternen Glocke. Die anderen stellten ihr Geläute ein und sahen neugierig hin.

»Bim«, sang das Glöckchen hell und deutlich, aber nichts weiter.

»Wo bleibt denn das Bam?« fragte der Erzengel und wartete. Aber das Bam kam nicht, der Glockenengel mochte das Glöckchen schwingen und anstoßen, soviel er wollte. Vielleicht blieb es der Glocke vor Aufregung in der Kehle stecken, denn es war ja keine Kleinigkeit, vor so vielen Zuhörern öffentlich Bam sagen zu sollen. Vielleicht war sie eigensinnig und hatte es sich in den Kopf gesetzt, nur Bim zu sagen. Jedenfalls war das Bam nicht aus ihr herauszubringen, nicht mit guten und nicht mit strengen Worten. Die Nachbarglocken stießen einander an und begannen zu kichern. Der große Erzengel aber machte ein sehr trauriges Gesicht.

»Höre,« sagte er, »du verdirbst das ganze himmlische Glockenspiel, wenn du nicht Bim‑Bam läutest wie alle anderen Glocken. Ich will es noch ein allerletztes Mal mit dir versuchen. Wenn du dann nicht ordentlich läutest, wirst du aus dem Himmelreich fortgeschickt. Unfolgsame Glöckchen können wir hier nicht brauchen.«

Er gab das Zeichen, alle Glocken fielen ein und klangen. Der kleine Glockenengel des Glöckchens Bim war vor Schreck über die Worte des Erzengels ganz blaß geworden und bat: »Sage doch Bam, kleine Glocke, sage doch Bam!«

Nun glaubt ihr wohl, daß sich das Glöckchen endlich dazu entschlossen hätte? »Bim«, läutete es mit seinem Stimmchen, immer 9 wieder nur Bim. Und dem Erzengel des himmlischen Glockenspieles blieb gar nichts anderes übrig, als eine große Schere zu nehmen und den Faden abzuschneiden, mit dem das Glöckchen Bim an der Decke befestigt war. »Bim«, sagte es noch einmal ganz kläglich und erschrocken, aber da fiel es auch schon tiefer und immer tiefer durch Wolkenschichten und Nebelballen, bis es unten auf der Erde anlangte.

Hier war strenger Winter und Schnee bedeckte Wiesen und Wald. Das Glöckchen Bim fiel gerade in eine große Schneewehe hinein und versank darin. Oh war es finster, eng und kalt in diesem Bettlein aus Schnee, ganz anders als in den schönen, blauen Himmelshallen, aus denen das Glöckchen stammte und die es sich durch seinen Eigensinn verscherzt hatte. Im Schnee konnte es beim besten Willen nicht schwingen und läuten, wenn es sich noch so sehr bemühte. Jetzt kam großes Heimweh und Bangen über das Glöckchen Bim und es fing zu weinen und zu schluchzen an, so herzbrechend, wie noch nie eine himmlische Glocke geschluchzt hatte.

»Hätte ich doch nur Bam gesagt!« wiederholte es immer wieder bei sich. »Es ist mir ja schon auf der Zunge gesessen! Ich hätte mich ja nur noch ein bißchen anstrengen müssen! Aber da sahen mich die anderen Glocken so neugierig und spöttisch an, daß ich es nicht tun konnte. Und jetzt bin ich hier und komme nie wieder in den Himmel!«

Weil das Glöckchen aber ein himmlisches Stimmchen hatte, so klang auch sein Weinen und Schluchzen so süß, daß es durch das Erdreich drang, in dem die Blumen und Tiere schliefen und auf das Ende des Winters warteten. Auch der Maulwurf schlief in seinem Bau und legte sich eben auf die andere Seite, als er das seine Tönen vernahm. 10

»Ich glaube, ich höre den Frühling läuten!« rief er und sprang aus dem Bett. »Ich muß gleich nachschauen gehen, ob die liebe Sonne schon scheint!«

Er lief so schnell er konnte die finsteren Gänge entlang bis zu der Stelle, von der das Klingen kam. Hier gab es zwar keinen Weg mehr, aber der Maulwurf, nicht faul, machte sich selbst einen mit Schnauze und Füßen und grub sich bis zu der Schneewehe durch, in der das Glöckchen Bim steckte und weinte.

»Brrrr, da ist ja alles kalt und voll Schnee,« sagte der Maulwurf und schüttelte sich. Aber er hatte einen schönen, dicken Pelz an und das Weinen des Glöckchens machte ihn neugierig. Er grub sich durch den Schnee durch, bis er an etwas Hartes stieß, und konnte nun verstehen, wie es klagte: »Ach, hätte ich nur Bam gesagt!«

»Merkwürdig,« sagte der Maulwurf, »da weint etwas und es klingt doch wie Frühlingsgeläute. Die ganze Zeit muß ich an Sonne und blauen Himmel, an summende Bienen und an schöne, dicke Engerlinge denken, wie ich sie im Frühjahr finde. Jetzt will ich einmal sehen, was so läutet.«

Er scharrte den Schnee weg und vor ihm lag das kleine Himmelsglöckchen und zitterte. Im Himmelreiche hatte es ja niemals einen Maulwurf gesehen und es fürchtete sich nicht wenig vor der Schnauze, den Grabfüßen und den kleinen, schwarzen, halbverborgenen Äuglein, mit denen er es anblickte.

»Halloh,« sagte der Maulwurf jetzt, »wer ist denn das, der im Schnee sitzt und jammert?«

»Ich bin das Glöckchen Bim,« kam es ganz ängstlich zurück, denn der Maulwurf beschnupperte es jetzt von allen Seiten. »Ich bin heute vom Himmel gefallen und friere!«

»Vom Himmel gefallen?« wunderte sich der Maulwurf. »Ich habe schon gehört, daß Regentropfen vom Himmel fallen, auch 11 Schneeflocken und manchmal sogar Hagelkörner, sagt meine Base, die Feldmaus. Aber daß auch Glocken vom Himmel fallen können, das habe ich nicht gewußt!« Und der Maulwurf schüttelte nachdenklich seinen Kopf.

»Aber was wollen Sie jetzt beginnen?« fragte er dann. »Hier im Schnee können Sie doch nicht bleiben, es kann noch Wochen dauern, ehe er wegschmilzt; und so ein Schneehaufen ist auch nicht der angenehmste Aufenthalt. Brrr, mich schüttelt's schon trotz meines warmen Pelzes.«

Da begann das Glöckchen Bim wieder zu weinen, so arm und verlassen kam es sich vor.

»Ach hätte ich doch nur Bam gesagt!« rief es und als der Maulwurf wissen wollte, was das zu bedeuten hätte, erzählte es ihm die ganze Geschichte von seinem Ungehorsam und der Strafe, die es dafür zu erleiden hatte.

Der Maulwurf hatte ein gutes Herz und das Glöckchen tat ihm leid.

»Ich habe eine Idee!« sagte er und sprang auf. »Nebenan in der Erde wohnt eine Waldelfe, die hier ihr Winterquartier hat. Sie richtet alles fürs Frühjahr her und hat den ganzen Winter über fleißig zu arbeiten. Bedenken Sie nur, was es heißt, allen Blumen bunte Kleidchen zu schneidern und mit den verschiedenen Farben zu bemalen! Und wie alles der Reihe nach gehen muß, die Anemonen und die Himmelschlüssel zuerst und das andere Blumenvolk nachher. Ja, sie hat eine Menge zu tun, die Waldelfe Traumseele. Zu der will ich Sie hinführen und fragen, ob sie nicht eine Stellung und eine Unterkunft für ein kleines Himmelsglöckchen hat. Sie wird da besser Bescheid wissen, als ich alter Maulwurf.« Der Maulwurf bürstete also Erde und Staub aus seinem Pelze und machte sich mit dem Glöckchen auf den Weg.

»Wenn mich meine Glockenschwestern jetzt sehen könnten!« dachte Bim, als sie so hinter dem Maulwurf durch die engen 12 Gänge tappte und alle Augenblicke stolperte. »Was würden die wohl dazu sagen!«

Aber der Maulwurf tröstete sie und sagte: »Es wird alles wieder gut werden, kleines Glöckchen! Nur den Kopf nicht hängen lassen und den Mut nicht verlieren! Wir werden es schon machen, daß Sie wieder vergnügt sind und nach Herzenslust läuten. Denn Glocken sind zum Läuten da, so wie Maulwürfe zum Graben, das verstehe ich wohl.«

Er hatte wirklich ein gutes Herz, der Maulwurf, und er hätte für sein Leben gern das betrübte Glöckchen lachen gehört.

»Halten Sie sich nur fest an mich an,« sagte er. »Wir sind gleich bei der Waldelfe.«

Jetzt kam ihnen ein heller Schein entgegen und sie gelangten zur Blumenwerkstatt der Waldelfe. Da sah es lustig und bunt genug aus. Eine Menge angefangener, bemalter und unbemalter 13 Blumen stand und lag herum, Farbtöpfe und Pinsel waren auch da und die Elfe saß und bemalte gerade eine Schlüsselblume mit der schönsten, goldgelben Farbe, die sie hatte.

»Ja, wen bringst du mir denn da?« sagte sie voll Erstaunen, als der Maulwurf mit dem Glöckchen Bim eintrat, und legte den Pinsel aus der Hand.

»Das ist ein Glöckchen, das ich im Schnee gefunden habe,« sagte der Maulwurf. »Es ist das feinste und zarteste, das ich je sah, denn es kommt geradenwegs vom Himmel herunter. Hast du keine Verwendung für jemanden, der so schön klingen und läuten kann?«

»Ein Glöckchen, das du im Schnee gefunden hast?« wiederholte die Waldelfe und sah sich Bim genauer an. »Das ist zu merkwürdig. Wie kam es denn auf die Erde herunter und in den Schnee?«

Der Maulwurf schob jetzt das Glöckchen vor und dieses mußte mit viel Beschämung seine ganze Geschichte erzählen, wie es nicht Bam sagen konnte und aus dem Himmelreiche weggeschickt wurde.

»Das ist sehr ungewöhnlich und seltsam,« entgegnete die Elfe. »Ich glaube, wenn ich das Glück gehabt hätte, als Himmelsglocke auf die Welt zu kommen, ich hätte den ganzen lieben Tag nichts anderes getan, als Bim‑Bam gesungen.« Und die Elfe begann mit ihrer feinen Stimme zu singen: »Bim‑Bam, Bim‑Bam, Bim‑Bam.« War es nun das Beispiel oder hatte das Glöckchen Bim es inzwischen wirklich gelernt: mit einem Male läutete es aus allen Kräften seiner kleinen Seele: »Bim‑Bam, Bim‑Bam, Bim‑Bam.« Das klang wirklich wie im hohen Himmelssaale und der Maulwurf wischte sich vor Rührung eine Träne aus den Augen. Also hatte das Glöckchen Bim tief drinnen in der Erde bei der Waldelfe und dem Maulwurf Bam sagen gelernt.

»Das klingt ja, als wäre der Frühling schon auf die Erde gekommen,« sagte nun auch die Elfe Traumseele. »Wahrhaftig, ich 14 habe noch nie etwas so Schönes gehört.« »Weißt du was, kleines Himmelsglöckchen, bleibe immer bei mir in meinem unterirdischen Reich und läute mir alle Tage etwas vor!« bat der Maulwurf. Aber auch andere Stimmen meldeten sich, denn das Läuten des Glöckchens Bim hatte eine Menge Leute aufgeweckt, die in der Erde ihren Winterschlaf hielten.

»Guten Tag, guten Tag,« rief eine Grille und kam aus ihrem Schlupfloch. »Ist es vielleicht schon Zeit, aufzustehen und die Geige zu stimmen?« Auch ein Käfer stolperte herbei und fragte, ob man nach ihm gerufen hätte, und der Igel, der unweit von der Waldelfe in seinem Winterquartier schnarchte, wachte auf und horchte auf das süße Geläut.

»Jetzt weiß ich, wozu du zu brauchen bist, kleine Bim,« sagte die Waldelfe und klatschte in die Hände. »Einen besseren Frühlingsboten und Lebenswecker als dich kann es ja gar nicht geben. Wenn du dich auf die Erde stellst und läutest, dann muß alt und jung aufwachen und den Winterschlaf abtun. Ich mache dir ein paar schöne, grüne Blätter und einen schlanken Stengel und du wirst sehen, wie gut sich's dann läuten läßt. Und weil dich der Maulwurf im Schnee gefunden hat, sollst du Schneeglöckchen heißen.«

Die Elfe nahm eine Schere und schnitt zwei grüne Blätter zurecht, gab einen Stengel dazu und dem Ganzen eine Wurzel, damit das Schneeglöckchen auch fest in der Erde stehen könnte. Endlich hing sie das Glöckchen Bim ganz oben an dem Stiele auf, damit es bei jedem Windhauche schwingen und läuten könne. Zum Schlusse malte sie ihm noch ein paar gelbe Tüpfelchen auf sein silbernes Kleid und sagte: »Stecke den Kopf nur ganz vorsichtig durch die Erde und warte, bis der Schnee oben zu schmelzen beginnt. Dann kommst du hervor und läutest den Frühling ein.«

Das wollte das Glöckchen Bim gerne tun. Wenn es schon nicht mehr in den Himmel zurückkommen konnte, denn dazu hätten 15 ja Flügel gehört, so war es doch schön, Frühlingsbote zu sein. Es schob sich langsam durch die schwarze Erde. Es steckte die grünen Blattspitzen vorsichtig zwischen den Schollen hervor. Und als es merkte, daß der Schnee weggeschmolzen war, kam es ganz zum Vorschein und läutete aus allen Kräften: »Bim‑Bam, Bim‑Bam,« ganz wie es sich für eine ordentliche Glocke gehört.

Das hörten die Schmetterlinge in ihren Verstecken und die Käfer, die Bienen erwachten und die Hummeln begannen zu brummen, die Grasspitzen streckten sich hervor und alles Lebendige regte sich. Immer lauter sang und läutete es: »Bim‑Bam, Bim‑Bam, der Frühling ist gekommen.« Das Glöckchen konnte gar nicht mehr begreifen, warum es einmal nicht hatte Bam sagen wollen. Seither kommt das Schneeglöckchen alle Jahre hervor, wenn der Schnee schmilzt. Es ist die erste Blume, die den Frühling verkündet. Und es freut sich immer wieder, daß es nun endlich Bam sagen kann.

 


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