Hilda Bergmann
Vom Glöckchen Bim und andere Geschichten
Hilda Bergmann

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Prinz Fressiselwa und Prinzessin Issidusi.

Vor Zeiten lebte ein König und eine Königin, die hatten einen einzigen Sohn, der Fressiselwa hieß. Der war groß, dick und gefräßig über die Maßen und tat den ganzen, lieben Tag nichts anderes als essen und trinken. Wenn er mit einer Mahlzeit fertig war, fing er gleich wieder mit der nächsten an. Aß er aber gerade nicht, dann dachte er wenigstens ans Essen und wollte von keiner Arbeit hören. Hatte er zum Frühstück schon gebratene Hühner und gefüllte Täubchen mitsamt einem Berg von Butterbroten verzehrt, so ließ er sich den Koch kommen und fragte ihn, was es zum Gabelfrühstück Gutes gäbe. Und war er mit diesem fertig, so schrie er nach dem Mittagessen, als hätte er acht Tage gefastet, und verschlang soviel wie sieben Scheunendrescher zusammen.

So ging es tagaus und tagein von früh bis in die Nacht und dann schnarchte Prinz Fressiselwa, daß die Decke zitterte und das ganze Schloß dröhnte. Kein Wunder, daß er von diesem Leben so dick und unförmig wurde, daß er durch keine Türe mehr ging und alle Eingänge vergrößert werden mußten, um den 80 Freßsack durchzulassen. Schließlich mußte sogar ein großes Tor in die Schloßmauer gebrochen werden, damit Prinz Fressiselwa ungehindert aus- und eingehen könne.

Der König war über den ungeratenen Sohn sehr unglücklich und wußte nicht, was mit ihm beginnen. Denn wie sollte etwas Gescheites aus einem Menschen werden, der nicht lernen und nicht arbeiten, nur ununterbrochen essen wollte. Die Königin aber, deren Liebling der Prinz von kleinauf war, sagte. »Das arme Kind wird noch soviel arbeiten müssen, wenn es einmal König ist, daß man es jetzt ordentlich essen lassen sollte.«

»Wenn das so fortgeht, wird der Prinz eines Tages platzen und dann ist alles zu Ende!« sagte der Leibarzt kopfschüttelnd. 81 »Man muß ihn zerstreuen, man muß ihn auf andere Gedanken bringen, sonst ißt und trinkt er sich noch zu Tode!«

Aber das war leichter gesagt als getan. Brachte man dem Prinzen nicht genug zu essen, so holte er sich aus der Küche, was ihm schmeckte, und war der König streng, so gab ihm die Königin heimlich, was er wollte. Als der Prinz eines Abends wieder ein ganzes Spanferkel vom Spieß genommen und aufgegessen hatte, ließ der König seine Räte zu sich kommen und trug ihnen die Sache vor.

»Ihr werdet meinen Kummer verstehen,« sagte er. »Wie kann ein Mensch König werden, der nichts kann, weiß und versteht, als zu essen!« Die Räte nickten mit ernsten Gesichtern und dachten lange und angestrengt nach. Endlich sagte der eine: »Großmächtiger König, wie wäre es, wenn wir den Prinzen eine Weltreise machen ließen? Bedenkt die vielen Eindrücke, die man auf Reisen hat, die schönen Gegenden, die man sieht, die Abenteuer, die man erlebt.«

»Gut gesprochen!« sagte der König. »Morgen muß Prinz Fressiselwa eine Reise um die Erde antreten.«

So geschah es auch. Man suchte zuvor noch im ganzen Lande ein Roß, das stark genug wäre, den Prinzen in die weite Welt zu tragen, und fand endlich einen Ackerschimmel, der imstande war, die ungeheure Last zu schleppen. Den schirrte und zäumte man mit königlichem Prunke, setzte den Prinzen darauf, gab ihm ein Gefolge von edlen Rittern mit und schickte ihn also auf Reisen, damit er von seiner Freßsucht geheilt würde.

»Jetzt wird er es sich abgewöhnen, den ganzen Tag zu essen!« sagte der König grimmig und sah dem Davonreisenden nach. »Jetzt wird er seine Augen aufmachen und etwas lernen und als anderer Mensch zurückkommen!« Die Königin aber schluchzte in ihr Taschentüchlein: »Wenn er nur nicht Hunger leidet! Wer weiß, wie in der weiten Welt draußen gekocht wird!« 82

Die Jahre vergingen und eines Tages kehrte die kleine Karawane des Prinzen von der Reise um die Welt zurück. Aber wenn der König gehofft hatte, der Prinz werde als ein anderer zurückkehren, so war er im Irrtum. Ebenso unförmig, ebenso dick und gefräßig kehrte Fressiselwa von seiner Reise in die weite Welt zurück. Beinahe ertrug das schwere Roß seinen Herrn nicht mehr. Kaum hatte sich der Prinz mühsam aus dem Sattel gehoben, so ging er auch schon in die Küche und rief: »Koch, meine Leibgerichte her und daß du mir nicht zu wenig schickst, denn ich habe von meiner Reise großen Hunger mitgebracht!«

»Was hast du in der weiten Welt gesehen?« fragte der König, als man beim Mahle saß. Aber der Prinz wußte nichts von Gebirgen und Meeren zu sagen und hatte kaum die Namen der Städte behalten, durch die er gekommen war. Dafür wußte er von Süd und Nord, von Ost und West die Leibgerichte der fremden Völkerschaften herzuzählen, hatte sich die Bereitungsart der Speisen und die Namen der Getränke gemerkt und berichtete, was er an diesem oder jenem Orte verzehrt und wie es ihm geschmeckt hatte.

Als der König dies vernahm, wurde er rot vor Ärger. Abermals rief er seine Räte zusammen und sagte:

»Ihr seht, der Prinz ist ebenso dick, dumm und gefräßig von der Reise zurückgekommen, wie er auszog. Er will nichts arbeiten, er will keine Bewegung machen, er will nur essen. Hat man jemals schon einen so ungeratenen Prinzen gesehen?«

Wieder schüttelten die Räte die Köpfe und dachten lange und angestrengt nach. Endlich meldete sich der Kanzler des Königs zum Wort. »Der Prinz soll heiraten,« sagte er mit seiner hohen Fistelstimme. »Eine lustige, kleine Frau wird einen anderen Menschen aus ihm machen.«

Wieder nickte der König mit dem Kopf. »Das ist alles gut und schön,« sagte er. »Aber wen soll er heiraten? Die 83 benachbarten Prinzessinnen lachen ihn ja alle aus. Wer wird denn den Vielfraß heiraten wollen?«

»Auch daran habe ich gedacht,« sagte der Kanzler. »An der Grenze unseres Königreiches ist ein tiefer, finsterer Wald. Sieben Tage und sieben Nächte braucht man, um ihn zu durchreiten. Aber jenseits des großen Waldes ist eine heitere Landschaft und dort steht das Blumenschloß der Prinzessin Issidusi. Das ist die reizendste und zierlichste kleine Prinzessin, die es weit und breit gibt. Sie hat eine allerliebste Stimme, sie spielt die Harfe, daß es ein Vergnügen ist, und sie kann tanzen, daß einem Hören und Sehen vergehn. Ich bin sicher, wenn irgend jemand, so gewöhnt sie unserem Prinzen das viele Essen ab und macht einen vernünftigen Menschen aus ihm.«

Die Räte murmelten Zustimmung und auch der König war mit dem Vorschlage einverstanden. Man schickte um den Prinzen und teilte ihm mit, daß er durch den tiefen, finsteren Wald reiten und um die Hand der reizenden Prinzessin Issidusi jenseits des Waldes anhalten müsse. Als der Prinz von der Schönheit der Prinzessin hörte, war er ganz einverstanden und ließ seinen Schimmel satteln, um gleich loszureiten. Nur die Königin war außer sich und rief: »Sieben Tage und sieben Nächte soll er durch den tiefen, finstern Wald reiten! Da wird er ja schwach und mager werden! Am Ende wird er sich verirren und in dem schrecklichen Walde umkommen!« Aber Prinz Fressiselwa lachte, daß alles dröhnte.

»Das laß nur meine Sorge sein, liebe Mutter,« sagte er. »Ich nehme mir schon soviel Eßvorrat mit, daß mir nichts geschehen kann.«

Er bepackte seinen Schimmel vorn und hinten mit den leckersten Dingen, die er in der Vorratskammer des Schlosses finden konnte. Da sah man einen ganzen Schinken vom Sattel hängen, Würste, Speckseiten und Weißbrote fehlten auch nicht und der arme Schimmel war so beladen, daß der Prinz ihn gar nicht besteigen 84 konnte, sondern zu Fuß neben ihm einherschritt in den tiefen, finstern Wald.

Am ersten Tage ging alles gut. Der Weg war schön gebahnt, die Sonne schien hell und warm und der Prinz ging vergnügt unter den großen Tannen und Fichten dahin, die mit ihren grauen Flechtenbärten aussahen wie die alten, ehrwürdigen Räte seines Vaters. Es zeigte sich, daß der Wald in der Nähe gar nicht so unheimlich war, als man draußen glaubte. Der Boden war mit Moos bedeckt, in der Erde steckten die drolligsten roten, gelben und weißen Pilze, die Sonnenstrahlen malten lustige Ringe und tanzende Kreise ins Dunkel und die Vögel schmetterten und jubilierten, daß es ein Vergnügen war zuzuhören. Aus hundert Blumenkelchen leuchtete der Sommer.

Prinz Fressiselwa hatte keine Augen für die Schönheit des Waldes. Was nicht zu essen war, interessierte ihn nicht, mochte es noch so lieblich aussehen oder klingen. Wenn er jetzt vor sich 85 hin schmunzelte und die Augen aufmerksam durch die grüne Wildnis schweifen ließ, so geschah dies nicht aus Liebe zum Walde und zu seinen Bewohnern, sondern weil Prinz Fressiselwa in der Magengegend ein gelindes Prickeln spürte und sich dachte. »Jetzt suche ich mir ein recht schönes Plätzchen, um meine Vorräte auszupacken und ein Mahl einzunehmen!«

Der Platz war bald gefunden. Am Rande einer Lichtung breitete eine riesige Eiche ihre Äste über kurzes Gras, ein Bächlein lief eilfertig vorüber. Prinz Fressiselwa packte seine Vorräte aus, ließ den braven Schimmel auf der Lichtung grasen und labte sich nach Herzenslust an kaltem Braten und an Wein, den er im Bächlein sorgfältig kühlte. Dann drehte er sich auf die Seite und bald scholl sein Schnarchen wie das Geräusch einer ungeheuern Säge durch den Mittagswald. Der Prinz schlief bis zur nächsten Mahlzeit und dann wieder bis zum kommenden Morgen, endlich bestieg er den erleichterten Schimmel und setzte seine Reise fort.

Auf diese Weise verbrachte Fressiselwa den nächsten und den übernächsten Tag mit Reiten, Essen, Trinken und Schlafen und kam so immer tiefer in den dichten Wald hinein. Am vierten Morgen aber merkte er mit Unbehagen, daß die Vorräte auf dem Rücken seines Schimmels zusammengeschmolzen waren, und am fünften Tag besaß er nur noch eine Schweinskeule und einen Wecken Brot. Der Wald wurde immer düsterer und undurchdringlicher, Felsen legten sich breit in den Weg, Brombeersträucher hakten sich mit ihren Dornen in die Kleider und das Unterholz wurde so unwegsam, daß Roß und Reiter alle Augenblicke stecken blieben. Die gute Laune des Prinzen schwand und nur der Gedanke an die Prinzessin Issidusi ließ ihn in der Wildnis ausharren. Sein Magen knurrte in allen Tonarten und Fressiselwa dachte wehmütig an die königliche Küche und die guten Sachen, die darin geschmort und gebacken wurden; fast kam ihn das Weinen darüber an, daß er so hungrig im Walde umherirren mußte. Zum Glück waren 86 alle Holzschläge und Lichtungen mit Erdbeeren und Himbeeren bedeckt und Fressiselwa stieg vom Pferde und sättigte sich in mühsamem Bücken mit den Früchten. So verging der fünfte und der sechste Tag und am Morgen des siebenten sagte Prinz Fressiselwa: »Nun ist es aber höchste Zeit, daß ich das Blumenschloß der Prinzessin Issidusi erblicke, länger halte ich das Fasten nimmer aus.«

Wirklich lichtete sich endlich der Wald, die Tannen und Fichten traten beiseite und man sah auf eine schöne Au hinaus, in deren Mitte das berühmte Blumenschloß der Prinzessin stand. Jetzt verstand der Prinz auch, warum es diesen Namen führte. Seine Wände bestanden aus Rosenhecken, sein Dach war aus roten Rosenblättern gefügt, seine Wälle und Zinnen waren hohe Lilienstengel und die Zufahrt schützten zwei Reihen kriegerischer Schwertlilien, die ihre scharfen Lanzen allen Eindringlingen entgegenhielten. Vor dem Schlosse standen als Ehrenwache der Rittersporn in seiner blauen Uniform und der Eisenhut mit seiner Sturmhaube und hüteten den Zutritt zu der schönen Prinzessin.

Als Fressiselwa das Schloß erreicht hatte, war es Abend geworden und alle Blumen hatten ihre Kelche fest geschlossen.

»He, holla, aufgemacht!« rief Fressiselwa mit lauter Stimme und stieg von seinem Gaule. Aber niemand antwortete, alles schlief, nur die Schwertlilien hielten dem Prinzen ihre Waffen entgegen und der Rittersporn sprang hervor und sprach:

»Mit Schwert und mit Sporn,
mit Sturmhut und Dorn
so schützen wir Ritter
das Schloß und das Gitter,
drum ziehe vorbei,
wer immer es sei.« 87

Da blieb Fressiselwa nichts übrig, als mit klapperndem Magen im Freien zu bleiben, sein Roß an einen Baum zu binden und sich auf das Gras zum Schlaf hinzulegen.

Am nächsten Morgen sagte Prinzessin Issidusi zu ihrer Kammerfrau: »Wie schlecht ich heute nacht geschlafen habe! Es muß ein entsetzlicher Sturm draußen gewesen sein, denn es dröhnte und krachte, als sollte die Welt untergehen. Dabei regte sich doch kein Blättlein an den Rosenhecken und im Garten. Hat mir vielleicht alles nur geträumt?«

»Ich hatte auch einen bösen Traum,« entgegnete die Kammerfrau, während sie der Prinzessin die langen Haare kämmte und ihr die goldenen Schühlein anzog. »Mir träumte, ein ungeschlachter Riese käme vor unser Schloß, der war so groß und schwer, daß unter ihm die Erde zitterte und der Boden bebte. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat!«

In diesem Augenblicke kam der wachehaltende Rittersporn herein, verneigte sich und sprach:

»Erlauchte Issidusi, ein fremder Prinz ist angekommen, der ist groß wie ein Berg und hat die ganze Nacht vor unserem Schlosse so laut geschnarcht, daß alle Fensterscheiben gesprungen sind.«

»Was will der fremde Prinz bei uns?« fragte Prinzessin Issidusi neugierig.

»Er sagt, der Ruf deiner Schönheit sei bis in sein Königreich gedrungen und er könne nicht mehr essen und nicht mehr schlafen, bevor er dich gesehen habe.«

»So führe ihn herein,« sagte die Prinzessin. »Ich bin gespannt, diesen Riesen von einem Menschen zu sehen.«

Da gaben die Schwertlilien den Weg frei und steckten ihre Lanzen ein, die Rosenhecken zogen ihre Dornen zurück und der Rittersporn führte den Prinzen in das Blumenschloß der Prinzessin Issidusi. Weil hier aber alles für kleine und zierliche Leute 88 bestimmt war, blieb der dicke Prinz überall hängen und stecken, trat ein paar Schwertlilien nieder, riß große Löcher in die Rosenwände, so daß hinter ihm ein unwilliges Gemurmel einherlief, bis er endlich vor der Prinzessin anlangte und sie mit einer tiefen Verbeugung begrüßte.

Jetzt sah Prinz Fressiselwa, der sich bisher um nichts als ums Essen gekümmert hatte, daß er in seinem ganzen Leben noch nichts so Liebliches erblickt hatte, als es Issidusi war. Sie hatte freundliche, blaue Augen, sie hatte langes, blondes Haar und ihre Stimme läutete wie ein feines silbernes Glöckchen. Jetzt klatschte sie in die Hände und sagte.

»Oh, ein Menschenberg, wirklich ein Menschenberg! Noch nie habe ich so etwas gesehen!«

Zum ersten Male schämte sich der Prinz seines unförmigen Aussehens und um alles in der Welt hätte er der kleinen Prinzessin gefallen mögen. Er tat einen Kniefall vor ihr, bei dem das Schloß in seinen Grundmauern erzitterte, so daß die Prinzessin ihn bat, nur schleunig wieder aufzustehen. Dann fragte sie Fressiselwa nach seiner Heimat, seinem Königreiche, seinen Eltern und dem Zwecke seiner Reise, worauf der Prinz erzählte, weshalb er gekommen sei.

»Da du eine so weite Reise gemacht hast, lieber Prinz, ist es nur billig, wenn wir dich nach Kräften ehren. Wenn es dir recht ist, wollen wir auf die Wiese vor das Schloß gehen und ein Ball- und Reifenspiel veranstalten, wie du es gewiß kennst und geübt hast.«

Dem Prinzen wurde es bei diesen Worten angst und bange, denn er war viel zu faul gewesen, um seine Glieder jemals im Ballspiele zu bewegen. Die Prinzessin klatschte in die Hände; da traten ihre Gespielinnen herein, brachten goldene Bälle und silberne Reifen und alle liefen fröhlich auf die Wiese. Nur Prinz Fressiselwa stand hilflos und ungeschickt inmitten der Schar zierlicher Mädchen, die einander die Bälle zuwarfen und die Reifen 89 zuschleuderten. Jetzt bedauerte er von Herzen, daß er niemals ein Ballgerät in die Hand genommen hatte, aber es war zu spät. Die Mädchen kicherten und lachten, als sie den dicken Prinzen sich vergeblich bemühen sahen. Er war täppisch wie ein Bär und wenn er einen Ball im Fluge fangen wollte, fiel er hin und konnte sich kaum erheben.

Die Prinzessin runzelte die Stirn und sagte: »Wenn es dir lieber ist, edler Prinz, so wollen wir uns in den Musiksaal begeben und fröhliche Lieder singen.«

Sie ging in eine weite Halle, deren Bogenfenster geöffnet waren und den Blick auf die Landschaft freiließen. An den Wänden hingen Instrumente aller Art: Lauten und Harfen, Flöten und Geigen. Eines der Mädchen reichte Issidusi eine silberne Harfe und die Prinzessin begann zu spielen und ein Lied dazu zu singen, so schön, daß die Vöglein vor den Fenstern aufhörten zu zwitschern, der Wind nicht mehr wehte, die Baumblätter nicht mehr rauschten und alles den Atem anhielt. Die Rosen vor den Fenstern aber hatten Tränen von Tau in den Augen. Auch Fressiselwa gefiel das Spiel und der Gesang. Aber seine Gedanken verirrten sich zu seinem geliebten Essen und er ertappte sich dabei, daß er mit offenen Augen von einer reichbesetzten Frühstückstafel und allerlei guten und schmackhaften Dingen träumte. So erschrak er denn, als ihm die Prinzessin mit einem wunderlieblichen Lächeln die Harfe reichte und ihn bat, nun seinerseits ein Liedchen zum besten zu geben, wie es in seiner Heimat gesungen werde und wie es ihm geläufig sein müsse.

Da stand Prinz Fressiselwa mit der silbernen Harfe in der Hand und wußte nicht, wie man die Akkorde greifen müsse, geschweige denn, wie man ein Lied singe und sich anmutig dazu begleite. In seinem ganzen Leben war es ihm nicht so ungemütlich zumute gewesen wie jetzt. Wohl hatte ihm sein Vater die allerbesten Lehrmeister gehalten, aber weil der Prinz von nichts anderem 90 wissen wollte als vom Essen, waren sie unverrichteter Dinge fortgezogen. Jetzt hätte Fressiselwa sein halbes Königreich dafür gegeben, hätte er ein Liedchen singen können. Aber er mußte gestehen, daß er nichts konnte, nicht singen und nicht spielen. Am liebsten wäre er in den Erdboden versunken.

Die Prinzessin reichte die Harfe einer ihrer Gefährtinnen und während diese spielte, begann Issidusi zu tanzen. Das war so lieblich anzusehen wie der Tanz von Elfen auf einer Mondscheinwiese. Nach und nach nahmen auch die anderen Mädchen an dem Tanze teil und die Prinzessin führte den Reigen an.

Den ungeschlachten Prinzen zum Tanze aufzufordern, mochte der Prinzessin doch zu gewagt erscheinen. Als der Reigen zu Ende war, sagte Issidusi: »Nun, edler Prinz, wollen wir in den Speisesaal gehen und einen kleinen Imbiß zu uns nehmen!«

Wer war froher als Fressiselwa! »Endlich etwas, wo ich meinen Mann stellen kann!« dachte er. »Die sollen staunen, wie ich essen werde.« Er sah sich nach dem Fasten der letzten Tage vor einer leckeren Mahlzeit und gedachte, ihr alle Ehre anzutun. Aber wie erschrak er! Die Tafel war zwar aufs zierlichste gedeckt und bekränzt, aber von den Genüssen, die er erwartete, fand er keine Spur, nur Honig in Fingerhutkelchen, Blütentau, Erdbeerschaum und Roseneingemachtes. Das war für seinen Magen und Hunger freilich wie ein Tropfen auf einen heißen Stein. Issidusi sagte nun: 91

»Lieber Prinz, wir haben dir gezeigt, was wir können und üben. Jetzt ist die Reihe an dir, uns Mädchen zu berichten, was du daheim gelernt und betrieben hast, in welcher Kunst du tüchtig bist und womit du dich beschäftigst. Gewiß wirst du uns von Dingen erzählen, die wir nicht kennen und verstehen; gewiß hast du viel Fleiß und Eifer auf deine Arbeiten verwendet. Erzähle nun, wir wollen gerne von dir lernen!«

Jetzt brach dem dicken Prinzen der Angstschweiß aus allen Poren und er verwünschte den Ritt zu der wunderschönen Prinzessin Issidusi. Er mußte ihr ja bekennen, daß er gar nichts gelernt hatte, gar nichts konnte, wußte und verstand, ja, daß er seine ganze Zeit bisher zu nichts anderem verwendet hatte als zum Essen und zum Schlafen.

Durch das Gemach flatterte das helle Gelächter der Mädchen, denen es unglaublich vorkam, daß ein Prinz nichts gelernt habe als zu essen. Aber das Lachen verstummte bald, denn Prinzessin Issidusi lachte nicht, sie sah den Prinzen lange traurig an und sprach:

»Du armer, armer Mensch, da hast du ja keine Ahnung, was das Leben schön und wertvoll macht!« Damit wandte sie sich ab und verließ das Zimmer.

Prinz Fressiselwa stand einen Augenblick wie vom Donner gerührt auf seinem Platze, dann drehte er sich auf seinem Absatz um und ging langsam die Treppe hinunter, zum Schlosse hinaus, an den Schwertlilien vorbei und zu seinem Schimmel, der auf der Wiese graste. Den bestieg er und ritt davon. Hinter ihm lärmten die Spatzen:

»Ei seht Herrn Fressiselwa an!
Das ist fürwahr ein wackrer Mann.
Im Essen tut's ihm keiner gleich
in seinem ganzen Königreich. 92

Allein was andres kann er nicht,
drum macht er jetzt ein trüb Gesicht
und reitet heim auf seinem Gaul,
groß, dick, gefräßig, dumm und faul!«

Der Prinz atmete auf, als das Walddunkel ihn endlich schützend aufnahm. Aber selbst hier schien es ihm, als verfolge ihn das helle Gelächter der Mädchen; das Geschrei der Spatzen gellte ihm in den Ohren und selbst die Fichten schienen mit ihren langen Bärten vor heimlichem Lachen zu wackeln. Das Bächlein aber ließ seine Wellen kollern und schwatzte:

»Fressiselwa heißt er,
im Essen ist er Meister!«

So ritt der Prinz trübselig durch den Wald und achtete selbst seines Hungers nicht. Das Roß trabte munter seines Wegs, es witterte den Stall, auch wollte es ihm scheinen, als würde sein Reiter von Tag zu Tag leichter. Endlich langten beide wohlbehalten vor dem Königsschlosse an, von dessen Zinnen der König schon Ausschau hielt.

»Nun, was ist's mit Prinzessin Issidusi?« rief er von weitem dem Prinzen entgegen. Der aber kam langsam und gänzlich verändert zu ihm und sagte:

»Seit sieben Tagen schäme ich mich, daß ich ein so unnützer Mensch gewesen bin. Wenn du es noch einmal mit mir versuchen willst, lieber Vater, so werde ich mein Leben ändern. Von heute an will ich lernen und arbeiten, damit man im Blumenschlosse eine bessere Meinung von mir bekommt.«

Wohl jammerte die Königin, als sie den Prinzen sah:

»Du armes Kind, gewiß haben sie dir nichts zu essen gegeben, drum siehst du so blaß und mager aus!« Aber der Prinz achtete 93 nicht darauf, lief auch nicht in die Küche, wie es seine Gewohnheit gewesen war, sondern begann zu arbeiten und zu lernen, daß es eine Freude war. Wenn es ihn wieder einmal zu Müßiggang und Unmäßigkeit hinzog, brauchte er nur an die traurigen Augen Issidusis und an ihre Abschiedsworte zu denken, dann biß er die Zähne zusammen, gab sich einen Ruck und murmelte:

»Und ich werde dich doch noch zur Frau gewinnen!«

Als das Jahr um war, erkannte niemand in dem schlanken, munteren Prinzen den früheren Vielfraß. Seine Lehrer rühmten seinen Fleiß und seine Begabung; in seinen freien Stunden schlug er Ball und Reifen, sogar die Harfe spielte er und manche andere Instrumente dazu. Eines Tags sattelte er seinen Schimmel und ritt, ohne ein Wort zu sagen, durch den tiefen, finstern Wald zum Blumenschlosse der Prinzessin. Diesmal mußte er seine Prüfung besser bestanden haben, denn er brachte die liebliche Issidusi auf seinem Pferde mit in sein Schloß und feierte mit ihr Hochzeit. Noch lange Jahre lebten König Fressiselwa und Königin Issidusi in Frieden und Freude. Ein Vielfraß ist Fressiselwa in seinem Leben nicht wieder geworden.

 


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