Hilda Bergmann
Vom Glöckchen Bim und andere Geschichten
Hilda Bergmann

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Wie die Grille ihre Freunde kennen lernte.

Es war Grillensingsang auf der Wiese und am Waldrand, in den Kornfeldern und an den Wegrändern, das liebliche Konzert des Sommers. Wo nur ein Loch im Erdreich sichtbar war, saßen die kleinen Musikanten und strichen mit den Fiedelbogen surrend über ihre Geigen.

»Wir sind die Spielleute Gottes,« sagten sie zu den Gänseblumen und den Sonnenröschen der Nachbarschaft und taten sehr stolz und wichtig. »Wir sind beauftragt, den ganzen Sommer Gott zu Ehren zu spielen und zu geigen, und das tun wir auch von früh bis abends, ja bis in die späte Nacht hinein.«

»Bis der Winter kommt, bis der Winter kommt,« raschelte ein vorlauter Windstoß. »Dann hat die ganze Grillenherrlichkeit ein Ende!«

»Was ist das, der Winter?« fragten die jungen Grillen, die erst in diesem Frühjahr auf die Welt gekommen waren, und hörten auf zu zirpen. Sie waren noch sehr klein und unerfahren und dachten, das wäre etwas zu essen. 104

»Sprecht nicht vom Winter!« rief eine ältere Grille. »Sommer ist es, die Sonne wärmt uns, wir leben auf der schönsten Wiese! Denkt nicht an den Winter!«

»Warum nicht?« fragte eine tiefe Stimme aus dem dichten Grase heraus. »Warum sollen die Kinder nichts vom Winter wissen?«

Es war ganz still auf der Wiese geworden, kein Gräslein atmete, kein Grillenflügel regte sich. Aus einem Erdloch kam langsam und mühsam eine weiße Grille hervor.

»Die Urahne!« flüsterten die schwarzen Grillen und verneigten sich tief. Es war die Älteste ihres Stammes und nur bei besonderen Gelegenheiten erschien sie unter dem jungen Volk. Alle wußten, daß sie viel erlebt und gesehen hatte und an Weisheit so manches größere Tier übertraf. Aber nur die wenigsten hatten sie jemals zu Gesicht bekommen.

Jetzt wandte sich die Urahne freundlich zu den kleinen Grillen: »Ich will euch eine Geschichte erzählen, Kinderchen!« sagte sie und ließ sich in einen Lehnstuhl nieder. »Hört gut zu!«

»Es war einmal eine kleine Grille,« hub sie zu erzählen an, »die war so jung, so dumm und unerfahren wie die meisten von euch. Aber sie war viel musikalischer als ihr. Die ganze schöne Zeit hindurch sang und geigte sie, daß es eine Freude war. Sie wurde nicht müde, die Güte des Schöpfers, die Schönheit des Sommers, die Vielfalt der Blumen und den Wohllaut der Vogelstimmen zu preisen, und wenn sie einen Lobgesang vollendet hatte, fing sie unverweilt einen neuen an. Sie war eine begnadete Künstlerin, die kleine Grille, und die Leute kamen von weit her, um sie zu hören. Sie war mit allem befreundet, was 105 sie umgab, mit Sonne und Wind, mit Blume und Tier. Alle liebten die kleine Grille und sagten, niemand auf der ganzen Wiese könne musizieren wie sie. Aber die Tage wurden kürzer und kühler, die Nächte länger und frostiger. Die Grille sang unverdrossen weiter, sie hatte noch keinen Winter durchgemacht und dachte, Wiesenkirchweih und Sommerfest würden kein Ende nehmen. Wohl summten die Bienen an jedem Sonnentage noch eifriger und eiliger als früher von Blume zu Blume, als fürchteten sie, etwas zu versäumen. Sie holten Blütensaft und Blumenstaub aus den späten Kleeblüten und Skabiosen und brummten:

»Bald holt der Wind den Herbst herbei,
dann welkt das Wiesenallerlei,
es welkt das bunte Kleid.
Das Laub wird von den Ästen wehn.
Auf Wiedersehn, auf Wiedersehn
zur schönen Frühlingszeit!«

Auch die Ameisen wimmelten straßauf, straßab und trugen Wintervorräte ein, die Haselmaus sammelte Körner, das Eichhorn Nüsse und Zapfen und Dachs und Hamster füllten Keller und Speicher. Die kleine Grille hätte wohl nachdenklich werden können. Aber sie achtete nicht darauf und fuhr fort, vor ihrer Haustüre zu musizieren. An den Winter dachte sie nicht im entferntesten.

Indessen zogen die Spinnen lange Silberfäden über die Wiese, eine Blume nach der andern machte die Augen zu und verwelkte, die Grashalme wurden gelb und dürr, nur Herbstzeitlosen erhoben ihre Köpfe in die blasse, kühle Luft. Die Schwalben wurden unruhig, hielten Versammlungen ab und zwitscherten:

»Herbsteszeit, Herbsteszeit!
Bald ist Berg und Tal verschneit. 106
Schwestern, Brüder, laßt uns fliehn,
in die Sonnenländer ziehn,
denn die Welt ist weit, ist weit.«

Und eines Tages ließ die Sonne sagen, sie könne heute nicht scheinen, der Nebel sei viel zu dicht!

»Ah,« sagten die kleinen Grillen vor Erstaunen, als die Urahne dies erzählt hatte. Gab es so etwas? Konnte das überhaupt möglich sein? Aber die Urahne klopfte mit ihrem Krückstock auf den Boden und sofort war wieder Ruhe unter dem Grillenvolk.

»Ja,« begann die weiße Grille wieder, »der Nebel stand weiß und dick auf der Wiese und man konnte keine zwei Schritte weit sehen. Dazu kam ein unfreundlicher Nordwind und blies den Sträuchern ihr gelb und rot gesprenkeltes Laubröcklein vom Leibe, so daß sie kahl und bloß dastanden und erbärmlich froren. Jetzt sah sogar die kleine Grille ein, daß das Fest des Sommers zu Ende sei und eine schlimme Zeit für die Leute auf der Wiese käme. Traurig packte sie ihre Geige zusammen und kroch in ihr Erdloch. Hier war es warm und man konnte sich ganz schön verstecken und verkriechen. Aber du lieber Himmel, es gab kein Futter im Erdloch; wovon sollte die kleine Grille leben?

Wirklich begann der Hunger in ihrem Magen zu rumoren und die Grille verließ ihren Unterschlupf wieder, um nach etwas Eßbarem auszuschauen. Wenn eins den ganzen Sommer lang geigt und singt, hat es natürlich keine Zeit, Wintervorräte zu sammeln, und ich glaube fast,« setzte die weiße Grille lächelnd hinzu, »man denkt auch gar nicht daran!«

Das Grillenvolk hatte voll Neugier und Aufmerksamkeit zugehört. Es fand es ganz selbstverständlich, daß man beim Musizieren nicht ans Nahrungsammeln denken konnte.

»So geschah es also,« setzte die Urahne ihre Geschichte fort, »daß die Grille zur Gevatterin Ameise ging, um etwas Futter 107 und einen kleinen Wintervorrat zu erbitten. Aber da kam sie schön an!«

»Eine Neuigkeit,« spottete der Wind. »In der ersten Klasse lernen die Kinder schon die Geschichte, wie die hungrige Grille von der Ameise verhöhnt und aus dem Hause gejagt wird. Wenn du keine anderen Geschichten weißt, brauchst du dir nichts einzubilden, weiße Grille!«

»Naseweis!« zürnte die alte Grille und drohte dem Wind mit dem Krückstock. »Als ob die Sache damals abgetan gewesen wäre! Hier fängt meine Geschichte ja eigentlich erst an! Alles bisherige war nur die Einleitung!«

»Hat die kleine Grille nun Hungers sterben müssen?« fragten die Zuhörerinnen. »Hat ihr niemand geholfen?«

»Hört weiter,« erwiderte die tiefe Stimme der Urahne. »Natürlich war die kleine Grille sehr betrübt über den Spott der Ameise. Nichts ist so schmerzlich, als Spott für ein bekümmertes Herz; dennoch blieb der kleinen Musikantin in ihrer Not nichts anderes übrig, als weiter an die Türen zu klopfen und um ein wenig Essen zu bitten, denn über Nacht war die Wiese fest gefroren, der Reif hatte die Halme mit Silbernadeln behängt und jedes Bröselchen Nahrung war verschwunden.

»Ich will zur Freundin Haselmaus gehen,« sagte die Grille, nahm Hut und Strickbeutel und machte sich auf den Weg. »Sie hat meinen Gesang immer so schön gefunden, sie wird mir sicher helfen!«

Muhme Haselmaus war eine wohlhabende Witwe und besaß eine geräumige Wohnung am andern Ende der Wiese. Sie hatte soeben ihre Speisekammer für den Winter in Ordnung gebracht und sich an den vielen Nußkernen, Bucheckern und getrockneten Beeren darin gefreut.

»Ja, Liebste, wie siehst du nur aus?« sagte sie erschrocken, als die Grille blaß und mit Tränen in den Augen bei ihr eintrat. 108 »Ich mache mich eben für den Winterschlaf zurecht,« erklärte sie ihr dann. »Da nehme ich noch ein reichliches Gabelfrühstück, denn ich schlafe nachher meine sechs bis sieben Monate und das will etwas heißen. Komm' herein und frühstücke mit mir.«

Die rundliche Haselmaus im graubraunen Pelzchen führte die Grille in die Speisekammer und nötigte sie, zuzulangen. »Iß, mein Grillchen,« sagte sie und kaute selbst mit vollen Backen. »So gute Sachen bekommst du den ganzen Winter nicht mehr!«

»Was geschieht denn mit den vielen Vorräten?« fragte die Grille ganz verwundert und sah sich mit großen Augen um. »Die brauche ich im Winter auf,« sagte die Haselmaus. »Von Zeit zu Zeit erwache ich und dann muß ich eine kleine Magenstärkung haben. Ja, wer den Sommer über fleißig gearbeitet und gesammelt hat, der kann sich im Winter etwas vergönnen.« Damit streichelte sie ihr graues Bäuchlein, denn sie hielt viel auf gutes Essen.

Der Grille blieben bei diesen Worten die guten Bissen im Halse stecken. Ach, sie hätte nur ein kleines Winkelchen im Hause der reichen Haselmaus gebraucht, nur ein paar Bröselchen von ihrem Tisch. Aber niemand forderte sie auf, zu bleiben. Gewitzigt von ihrer Erfahrung mit der Gevatterin Ameise, wagte sie auch nicht, darum zu bitten. So bedankte sie sich höflich für das gute Gabelfrühstück und zog traurig ab, während die Haselmaus hinter ihr mit lautem Gähnen die Haustüre doppelt und dreifach verschloß.

»Sollte ich denn gar keine besseren Freunde haben als Ameise oder Haselmaus?« murmelte die Grille vor sich hin, als sie über den gefrorenen Wiesenboden lief. »Ich habe doch so viele Leute ganz unentgeltlich mit meiner Musik erfreut. Wie steht es denn mit den Bienen und Hummeln, die den ganzen Sommer Vorräte eingeschafft haben?«

Aber soweit die Grille auch blickte, kein Bienchen summte durch die Luft, nur an einer roten Distelblüte hing erstarrt eine vom Frost überraschte Hummel. Aus der Höhle des Igels kam 109 lautes Schnarchen. »Der schläft schon,« sagte die Grille. »Aber wie wäre es, wenn ich einmal zum Dachs hinüberschaute? Ich kenne ihn zwar nicht näher, aber versuchen kann man es immerhin.«

Der Dachs wohnte als Einsiedler in seinem verborgenen Bau und war als höchst ungeselliger, mürrischer Patron bekannt, der mit niemandem Umgang hielt. Er las, als die Grille bei ihm eintrat, gerade in einem dicken Buch und war sehr ungehalten über die Störung. 110

»Hungersnot?« knurrte er und sah die stotternde Besucherin über die runden Brillengläser hinweg ärgerlich an. »Hungersnot gibt es nicht, es steht nichts davon in meinen Büchern. Haben nicht Wiese und Wald den ganzen Sommer Lebensmittel gespendet? Ist dies vielleicht,« – dabei öffnete er die Türe zu seinem Speicher, der ebenso von leckeren Dingen strotzte, wie die Kammer der Haselmaus, »ist dies vielleicht ein Zeichen von Hungersnot?«

Die kleine Grille stand mit Tränen in den Augen da. »Bedienen Sie sich, mein Fräulein,« brummte der Dachs weiter, »füllen Sie sich alle Taschen an, aber stören Sie mich nicht länger in meiner Arbeit und vor allem kommen Sie mir nicht mehr mit Ihrem Unsinn von Hungersnot!« Ganz verschüchtert tat die Grille nach seinem Geheiß und packte, was Platz hatte, in den Strickbeutel und die Kleidertaschen. Dann fand sie sich unsanft vor die Türe geschoben und diese hinter sich verschlossen.

»Der Dachs ist ein sehr kluger und gebildeter Mann,« sagte die Grille zu sich selbst, als sie weiterging. »Aber gewiß hat er in seinem ganzen Leben noch keinen Hunger gehabt, sonst würde er anders sprechen. Auch ich habe ja im Sommer nicht gewußt, was Hunger heißt.«

Für ein paar Tage reichte das Almosen des Dachses. Dann war alles bis aufs letzte Bröcklein verzehrt und der Kummer begann aufs neue. Eben suchte die Grille die Wiese zum hundertstenmale vergeblich nach etwas Eßbarem ab, da traf sie den Ohrwurm, der aufgeregt auf sie zukam. »Grüß Gott, Frau Nachbarin,« sagte er und winkte von weitem. »Ich habe eine verlassene Hamsterkammer mit einem hübschen Vorrat an Winterkorn darin entdeckt und rufe eben meine Familie zusammen; das gibt Futter für viele Wochen!« Die kleine Grille lief eifrig mit. In der unterirdischen Hamsterkammer war schon das ganze Geschlecht der Ohrwürmer versammelt und kribbelte und krabbelte an Decken und Wänden, so daß man kaum eintreten konnte. »Ja, meine Familie ist sehr 111 zahlreich,« versicherte der alte Ohrwurm. »Das alles sind Vettern und Basen, Kinder und Kindeskinder. Sind sie nicht allerliebst in ihren braunen Röckchen mit der Zwickzange dran?« Damit machte er sich auf, um noch ein Restchen der Hamsterkörner zu erwischen, denn seine Familie hatte mit allem Eßbaren gründlich aufgeräumt.

Für die Grille war nicht ein einziges Würzelchen oder Körnchen übrig geblieben. »Ohrwurms sind gute Leute,« sagte sie vor sich hin, »sehr gute Leute; aber sie haben so viel mit sich selbst zu tun, daß ihnen keine Zeit für andere bleibt!«

Als sie den Heimweg antrat, war Schnee gefallen; kaum fand die Grille den Weg zu ihrem Loch. Auf einer verschneiten Tanne saß ein Rabe, blähte das Gefieder und sagte:

»Krah, krah,
Winter ist da,
Sommer ist weit,
ade, schöne Zeit.«

Das Eichhorn schälte mit den scharfen Nagezähnen einen Zapfen und murmelte:

»Ich sorge für mich;
denkt jeder an sich.«

»Ja, es denkt jeder nur an sich,« sagte die Grille. »Ich verkrieche mich jetzt in mein Loch und will lieber umkommen, als noch länger betteln gehen.« 112

Bei diesen Worten der alten Grille erhob sich ein großes Schluchzen unter ihren kleinen Zuhörerinnen, denn es ging ihnen sehr zu Herzen, daß die kleine Grille Hungers sterben sollte.

Die Urahne hörte nicht darauf, sondern erzählte weiter: »In diesem Augenblick klopfte es an die Türe der Grille. »Wer ist da?« fragte diese und war ein bißchen ärgerlich, denn sie wollte von niemandem mehr etwas wissen. »Einen schönen Gruß von der Frau Feldmaus,« piepste ein feines Stimmchen. »Ich bin das jüngste von den sieben Feldmausjungen und soll eine Botschaft ausrichten!«

Mit diesen Worten schob sich eine spitze, kleine Schnauze samt dem dazugehörigen Mäuslein herein. »Meine Mutter hat Sie vorhin so betrübt über die Wiese gehen sehen,« sagte es zur Grille; »und weil wir doch nach unserem ausgewanderten Herrn Vetter, dem Hamster, eine so große, schöne Wohnung geerbt haben und weil die Mutter nichts Lieberes kennt als Grillenkonzert, so lädt sie Sie ein, den ganzen Winter bei uns zu leben, von des Herrn 113 Vetters Vorräten zu zehren und zu musizieren, soviel es Sie freut. Wir Feldmauskinder freuen uns schon über die Maßen darauf und wenn Sie uns aufspielen, werden wir tanzen!« Damit nahm der kleine Mäusling sein Schwänzlein und tanzte der Grille ein Menuett vor.

So geschah es auch. Die Grille zog zur Feldmaus, wohnte bei ihr und spielte nach Herzenslust. »Ja, es gibt noch gute Herzen auf der Welt,« schloß die alte Grille.

»Was geschah weiter mit der kleinen Grille?« bestürmten die Zuhörer die Erzählerin. »Lebt sie noch? Kennen wir sie nicht? Wie sieht sie aus?«

Die alte weiße Grille lächelte:

»Freilich kennt ihr sie! Die kleine Grille, die auf diese Weise ihre Freunde kennen lernte, bin ich selbst!«

 


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