Hilda Bergmann
Vom Glöckchen Bim und andere Geschichten
Hilda Bergmann

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Helge, der Regenbogen
und die Himmelschlüssel.

Im Waisenhause der alten Stadt wuchs ein blasses, braunzöpfiges Dirnlein auf, das führte den Namen Helge. Seine Eltern, brave Leute im Städtchen, waren gestorben und niemand in der Welt kümmerte sich um das kleine Ding. So steckte es in dem schwarzen Kittelchen der Waisenmädchen und ging sonntags zur Kirche und wochentags zur Schule und kaum je ins Freie hinaus, wie vordem oft mit Vater und Mutter. Deshalb war das Herz Helges traurig und immer eifriger gingen ihre Gedanken dahin, einen Weg ausfindig zu machen, der aus den grauen Stuben des Waisenhauses ins Himmelreich und zu dem verlorenen Mütterlein führen müßte.

»Jetzt weiß ich es,« sagte Helge eines Tages zu sich selbst, als sie in der Schule ein Bild der Sündflut mit dem Regenbogen darüber erblickt hatte. »Wenn der nächste Regenbogen auf der 18 Erde steht, klettere ich hinauf und laufe schnurstracks in den Himmel, ehe man mich erwischt. Ich kann ja klettern wie ein Eichkätzchen. Wenn nur erst ein Regenbogen käme.«

Es kam der Frühling mit weißen Lämmerwölkchen am blauen Himmel und Helge wußte, daß jetzt im Walde draußen die blauen Leberblümchen standen und die gelben Himmelschlüssel. Es wurde wärmer und die Wiesen bedeckten sich mit vielfarbigen Blumen. Es kamen Regen und Sonnenschein, aber soviel das kleine Mädchen auch nach dem Wetter blickte, es wollte kein Regenbogen erscheinen.

Dann kam der Tag des großen Jahrmarktes heran mit Lebkuchenbuden und Spielwarenständen. Auch die Waisenkinder durften auf den Marktplatz gehen, schön artig zwei und zwei, und konnten die Buden mit den Herrlichkeiten bewundern, vor denen Groß und Klein sich drängte.

Es war sehr heiß gewesen den ganzen Tag, jetzt ballten sich Wolken am Himmel zusammen und mit einemmal stürzte ein Platzregen herab, so heftig, als wollte er die Buden, die Marktleute, ja die ganze kleine Stadt hinwegschwemmen. Die Verkäufer warfen ihre Waren in Kisten und Koffer, die Bauersfrauen retteten sich und die 19 Geflügelkörbe mit den schnatternden Enten und Gänsen unter die Haustore und die Menschenmenge zerstob in alle Winde.

»Es wird nicht lange dauern,« tröstete der dicke Kuchenbäcker die Kinderschar, die sich durchnäßt in die Winkel und Ecken drückte. »Seht nur, die Sonne scheint wieder und am Galgenberg drüben steht der schönste Regenbogen.« Wirklich prangte er dort in allen seinen sieben Farben, von violett über blau und grün zum schönsten Gelb und Rot. Helge steckte ihr Stumpfnäschen ins Freie, wo nur noch ein feiner Staubregen herabrieselte, und sah sich um. Niemand beachtete sie. Die Waisenkinder hatten sich im Regen zerstreut, hierhin und dorthin, Helge war allein. Behende wie ein Mäuslein schlüpfte sie durch Haustore und Winkelgäßchen und kam endlich ins Freie und auf den Weg zum Galgenberg. Doch je näher sie zu ihm kam, desto weniger war von ihrem Regenbogen etwas zu sehen, ja, er schien sich ganz in die grauen Nebel aufgelöst zu haben, die den Berg umgaben. Statt seiner aber erblickte Helge auf dem Gipfel ein zusammengekauertes Weiblein mit Regenmantel und Kapuze und so über und über grau, wie der herabträufelnde Regen selbst.

»Wenn nur das Weiblein hier nicht auch auf den Regenbogen wartet und mir zuvorkommen will am Weg ins Himmelreich,« dachte Helge ängstlich. Als aber das Weiblein sich nicht regte und vom Regenbogen weit und breit kein Zipfelchen erschien, faßte das Dirnlein ein Herz und sagte: »Gute Frau, habt Ihr nicht vor einem Viertelstündchen einen Regenbogen hier gesehen und wohin ist er verschwunden?«

Aus der Kapuze streckte sich ein Kopf mit regengrauen Augen und eine freundliche Stimme sagte: »Ei, ei, den Regenbogen suchst du, liebes Kind? Wozu brauchst du ihn denn?« »Weil ich über ihn in den Himmel zu meinem Mütterlein will,« entgegnete die Kleine. »Seit es im Himmel ist, bin ich so allein hier unten und 20 muß im Waisenhaus sein und ein schwarzes Kittelchen tragen.« Das Weiblein schüttelte ein wenig den Kopf. »O,« rief Helge voll Eifer, »ich kann so gut klettern wie ein Junge. Oder glauben Sie am Ende, daß das verboten ist?«

Das graue Weiblein nahm die Kapuze vom Kopf, da blinzelte die Sonne durchs Gewölk und funkelte in tausend Regentropfen. Es lüftete den Mantel ein wenig, da ging ein farbiges Strahlen von ihm aus, kornblumenblau und feuerlilienrot, flammengelb und smaragdgrün. Es warf den Mantel von sich und da stand ein leuchtendes Wesen, Regentropfen wie Diamanten im Haar und ganz in die Farben des Regenbogens gekleidet.

»Ich bin die Regenfee,« sagte es freundlich zu der ganz erstarrten Helge. »Mein Amt ist es, der durstigen Erde den Regen zu spenden, auf daß Blüte und Baum wachsen und gedeihen. Ich spanne die Regenbogenbrücke vom Himmel zur Erde herab.« Und wirklich erhob sich von der Stelle, auf der die Regenfee stand, ein breiter, prächtiger, siebenfarbiger Bogen, wölbte sich über die kleine Stadt im Tale und verschwand auf den jenseitigen Höhen.

»Da hast du deinen Regenbogen,« sagte die Fee. »Sieh ihn dir gut an, es ist der allerschönste, den ich habe. Aber mit dem Weg ins Himmelreich ist es keine so einfache Sache. Bevor du hinauf zu den Wolken kommst, brauchst du hundert Jahre. Hinter den Wolken beginnt erst der Weg in die Ewigkeit, der dauert noch viel länger. Und wenn du dann endlich beim goldenen Himmelstore anlangst und hast den Himmelschlüssel nicht, dann war alles vergeblich und du mußt unverrichteter Dinge umkehren.« 21 »Himmelschlüssel?« sagte Helge. »Die wachsen doch im Frühling auf den Wiesen! Ich kenne alle ihre Plätze und Stellen. Um Himmelschlüssel ist mir gar nicht bange!« Und sie machte sich gleich auf, Himmelschlüssel suchen zu gehen, nachdem sie der Regenfee noch rasch die Hand gereicht und einen kleinen Knix gemacht hatte.

Es hatte indessen zu regnen aufgehört, die Sonne trocknete Baum und Strauch. Die Wiesen standen in vollem Blumenflor, da hielt sich Helge gar nicht erst auf. Nein, da waren Himmelschlüssel nicht mehr zu finden. Eher noch im Walde oben oder auf den Berghängen, wo der Schnee so lange gelegen war. Da standen noch verspätete Veilchen in verblaßten, verwaschenen Gewändern und schämten sich, daß sie ihre Zeit verpaßt hatten.

»Gibt es noch Himmelschlüsselchen bei euch?« fragte Helge. Aber die Veilchen hatten keine gesehen . . . »Gibt es noch Himmelschlüssel in der Nähe?« wandte sich Helge an eine gelbe Dotterblume. Die schüttelte ernsthaft den Kopf: »Spät im Jahr, kleines Mädchen, spät im Jahr. Im Gebirge oben vielleicht; aber bei uns findest du keine mehr.« So stieg Helge höher und höher, kletterte über Steinblöcke und drängte sich durch Brombeerhecken bis zu den Berganemonen und zum Steinbrech empor. Wieder fragte sie: »Habt ihr irgendwo noch blühende Himmelschlüssel gesehen, liebe Blumen? Ich brauche sie so notwendig und kann keine finden!« Doch auch die Berganemonen konnten nicht helfen. »Blätter und Stiele, kleines Mädchen,« erwiderten sie, »anderes wirst du nicht finden. Die Zeit der gelben Himmelschlüssel ist längst vorbei.« 22

Jetzt erst merkte Helge, daß sie sich in einer wildfremden Einöde ohne Weg und Steg befand. Jetzt erst spürte sie, daß sie todmüde und hungrig war. Wenn es keine Himmelschlüssel mehr gab, konnte auch aus der Reise ins Himmelreich nichts werden und wartete sie auf das nächste Frühjahr, dann blieb vielleicht der Regenbogen aus. Helge setzte sich auf einen Stein und begann bitterlich zu schluchzen.

Da summte eine große schwarze Hummel um ihren Kopf und brummte ihr mit tiefer Stimme ins Ohr:

»Himmelstor ist weit und fern
hinter Sonne, Mond und Stern.
Komm' mit mir, ich führ' dich gleich
in das Wiesenhimmelreich.«

Helge trocknete ihre Tränen und kletterte wieder bergab, immer der Hummel nach, die langsam vor ihr herflog. Endlich endete die Wildnis, Helge schritt durch hohes Gras und blühende Blumen, an Thymianbüscheln und nickenden Farnkräutern vorbei. Gelber Fingerhut stand da neben wilden Nelken und Schmetterlinge flogen von Kelch zu Kelch. Inmitten der Blumen aber wandelte die Elfe Traumseele einher und lächelte Helge strahlend entgegen.

»Base Regenfee war hier und hat mir von dem kleinen Mädchen erzählt, das über den Regenbogen ins Himmelreich laufen will,« sagte die Elfe freundlich. »Aber Schlüsselblumen gibt es keine 23 mehr, die sind alle verblüht und kommen erst im nächsten Frühling wieder aus der Erde.« Der kleinen Helge stiegen bei diesen Worten gleich wieder die Tränen in die Augen. Sie hatte es sich so schön vorgestellt, wie sie mit der gelben Schlüsselblume auf den Regenbogen steigen und den Weg in die Ewigkeit gehen wollte, an Sonne, Mond und Sternen vorbei zum goldenen Himmelstor. Dann wäre sie in den Himmelssaal getreten zu den geigenden, harfenden, trompetenden Engelknaben und hätte so lange gesucht, bis sie Vater und Mutter gefunden hätte. Und alle Leute im Himmel wären freundlich zu ihr gewesen und hätten gesagt. »Grüß Gott, Helge, wie schön, daß du in den Himmel gekommen bist!« Und daraus sollte nichts werden. Da stand aber die Waldelfe und war weiß und fein von Angesicht und lächelte immerzu, so daß Helge aufs Weinen vergaß und mitzulächeln begann, erst mit einem Auge und dem halben Mund und dann über das ganze Gesicht. Auch die Blumen und Gräser kicherten leise und die Hummel summte behaglich:

»Sagte ich es dir nicht gleich,
hier wär' auch ein Himmelreich?
Käfer surren, Grillen geigen,
Vögel singen in den Zweigen,
alles kommt und hat dich gern.
Denk' nicht mehr an Mond und Stern.«

Die Elfe aber sagte zu dem kleinen Mädchen: »Hast du nicht irgend einen recht, recht großen Wunsch, Helge? Weißt du, die Wanderschaft über den Regenbogen ist eine sehr unsichere Sache! Aber denk' einmal nach, vielleicht fällt dir etwas Wunderschönes ein, das ich dir schenken kann.« Helge dachte nach. »Das Schönste wäre doch ein Mütterlein,« sagte sie endlich; »wenn ich mir etwas 24 wünschen soll, so ist es nur ein Mütterlein!« Die Elfe besann sich ein wenig. »Komm mit mir, mein Kind,« sprach sie dann. »Wir wollen sehen, was zu machen ist.« Sie nahm Helge bei der Hand und sie gingen miteinander durch Gras und Blumen. Helge war es wie ein Traum. Alle Blumengesichter waren der lichten Gestalt der Waldelfe zugekehrt, die leise sang:

»Geht zur Ruh', geht zur Ruh',
macht die bunten Kelche zu.
Schlaft und träumt von schönen Dingen,
Käfern, Bienen, Schmetterlingen,
daß ihr morgen wieder lacht!
Gute Nacht, gute Nacht!«

Auch die Sonne blinzelte nur noch mit einem halben Auge durch die Bäume und wollte schlafen gehen. Jetzt führte die Elfe das kleine Mädchen durch hohen, rauschenden Wald, in dem die Drosseln schlugen und Waldtauben gurrten. Endlich gelangten sie in einen Birkenhain und die Birken waren alle anzusehen wie weißgekleidete Mädchen mit grünen Schärpen und Bändern. Am Ende des Waldes lag ein kleines Försterhaus, Licht hinter den Scheiben, denn es war allgemach dämmerig geworden. »Wir wollen es versuchen,« sagte die Elfe und schob Helge an das verschlossene Gitterpförtchen. »Nachtschwärmer,« rief sie dann und winkte ein paar großen Nachtschmetterlingen. »Meldet mir den kleinen Gast hier an!« Die Nachtfalter flogen gehorsam mit ihren dicken Köpfen an die Scheiben; es klang, als poche jemand mit dem Finger. In der Stube saßen der Förster und seine Frau beim Tische, traurig und ohne zu sprechen. Sie hatten vor einigen Tagen erst ihr einziges Töchterlein verloren. Ein brauner Dackel spielte mit einem zahmen Reh. Plötzlich knurrte er. 25

»Mann, hast du's nicht gehört?« flüsterte die Frau mit erschrockenen Augen. »Jemand hat an die Scheiben geklopft.« Der Mann schüttelte den Kopf, nahm aber das Licht und öffnete die Tür. Hinter ihm kam die Frau, der braune Dackel und das zahme Reh. »Wer bist du?« fragte der Förster Helge und kam näher. »Was suchst du hier?«

»Ich bin ein Waisenkind,« entgegnete das Dirnlein, »und ich suche mein Mütterlein!« Der Förster sah die Frau an, die Frau den Mann. »Das ist ein Geschenk vom lieben Gott,« sagte er und trug die Kleine ins Haus. Unter einem Huflattichblatt versteckt hatte die Waldelfe alles mit angesehen. Nun verschwand sie wie ein Mondstrahl im Walde.

Das Frühjahr kam, vor dem Försterhause spielte ein rotbackiges Mädchen mit dem braunen Dackel und dem zahmen Reh. Es war Helge, die einen Vater und ein Mütterlein dort gefunden hatte. Sie dachte nicht mehr an den Regenbogen und brauchte keine Himmelschlüssel, denn die Reise ins Himmelreich hatte sie einstweilen aufgeschoben.

 


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