Th. Bentzon
Die Heimkehr
Th. Bentzon

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XVII.

Wie natürlich bildete Renées dem Theater mit Leidenschaft gewidmetes Leben einen schroffen Gegensatz zu dem Etiennes. Und doch gab es einen Berührungspunkt zwischen ihnen; wie er, so folgte auch sie einem unsichtbaren, aus weiter Ferne kommenden Einfluß, der sich, ohne daß es jemand ahnte, in ihren Handlungen, in ihrer Lebensführung äußerte. Wenn die Leidenschaften, die ihr Talent unter ihrer Umgebung anfachte, sie gleichgültig ließen, so war das vielleicht damit zu erklären, daß sie diese mit einer treuen, hingebenden Liebe verglich, die, alles darbietend, nichts für sich verlangte. Für diese feinfühlige Seele bildete das Gute einen Hauptbestandteil des Schönen, dessen Kultus sie sich ergeben hatte; es auszuüben, lag in ihrer Natur. Aber der Gedanke, daß sie damit der Hochschätzung Etiennes wert bliebe, flößte ihr überdies Klugheit ein. Das Zeugnis ihres eignen Gewissens genügte ihr nicht, seinetwegen wollte sie sich auch einen fleckenlosen Ruf bewahren, damit jedermann dem rechtschaffenen Etienne sagen müsse: die Sie zu Ihrer Frau machen wollten, war es wert. Und in der That umgab dieses junge Mädchen, das außerhalb der Theaterluft geboren und von ihren Kolleginnen durch Erziehung, Geschmack und Neigungen getrennt war, eine Achtung, die dem Stande einer Schauspielerin durchaus nicht immer entgegengebracht wird.

Ihre Lebensbeschreibung, hätte man eine zu jener Zeit von ihr schreiben wollen, wäre nur eine Aufzählung ihrer Erfolge gewesen, die sie in jeder neuen Rolle, sei es im Skalatheater, sei es in den vielen Städten Italiens, die sie nach und nach besuchte, davontrug. Ihre Freude, ihre Traurigkeit, ihre Liebe waren eins mit denen der Violetta, der Lucia, der Ninetta und Julia, und sie schüttelte diese idealen Bewegungen eines an Stelle des wirklichen getretenen, künstlichen Lebens nur ab, um mit der gleichen Ausdauer, dem gleichen Streben nach dem Besten fortzustudieren wie in den Tagen wo sie noch an sich und dem Empfang, den ihr das Publikum bereiten würde, zweifeln mußte.

Alles übrige erschien ihr wie ein Traum.

Die Huldigungen, mit denen man sie umgab, die Schmeicheleien, die bald in lobhudelndem Geflüster, bald in schöne Phrasen gekleidet, ihr um die Ohren surrten, die Eifersüchteleien, die die Eigenliebe kitzeln, die Nebenbuhlerschaften, die zum Wetteifer aufstacheln, die Versuche zu galanten Annäherungen, die sie zu nichte zu machen hatte, der Strom von Enthusiasmus und Leidenschaft, in den sie sich eingeschlossen fühlte – alles das war ein Traum voll blitzschnell verschwindender Blendungen, voll gefährlichen Dranges nach dem Unbekannten und vorübergehenden Sinnenrausches; nur, was die Künstlerin elektrisieren konnte, ohne dabei der Frau zu schaden, blieb an ihr haften. Wie ein Salamander ging sie aus der Mitte der Flammen unversehrt hervor, atmete mit Wonne den Weihrauch ein, der ihr von jedermann geopfert wurde, und antwortete mit billiger Verachtung auf weniger platonische Anbetungen manches andern.

Leichtlebige oder verderbte Frauen, die sie hinter den Kulissen antraf, behaupteten, ihre Tugend, von der man soviel Aufhebens mache, entspränge nur berechnender Begierde und Stolz; wenn sie begierig war, so war sie es jedenfalls nicht auf Geld, denn ihre Feindinnen selbst machten ihr den Vorwurf, nicht übertrieben haushälterisch und zu mildthätig zu sein, und ihr Stolz, der sie von allem Rohen sich zurückziehen hieß, äußerte sich nicht in irgend welcher Unduldsamkeit; sie verurteilte niemand, und zeigte sich stets zu allerhand Gefälligkeiten bereit.

Die Männer, die sie heimgeschickt oder in gebührender Entfernung gehalten hatte, behaupteten, sie besäße kein Herz. Mehr als eine große Dame, die alle Gitter, alle Riegel, die zum Schutze von Ehe und Familie geschaffen sind, nicht vor gewissen Abirrungen vom geraden Pfade hatten bewahren können, fand es anmaßend, daß ein, aller gesellschaftlichen Ketten lediges Mädchen sich allein verteidigen könne; aber die selbstlose Anteilnahme einiger edlen Leute, und nicht zum wenigsten die allgemeine Hochachtung, deren sie sich erfreute, machten Renée Christen taub gegen das Zischen der Böswilligkeit und des Neides. Gerade und aufrechten Hauptes ging sie ihren Weg, auf Gott und zwei Beschützer gestützt: auf ihre Mutter, die ihr sterbend empfohlen hatte, klug zu sein, und auf Etienne, den zu täuschen ihr einem Verrat gleichgekommen wäre.

Konnte das aber immer so bleiben? Die kräftigste Gesundheit verbraucht sich auf die Länge in ungesunder Umgebung; das trifft für die Seele wie für den Körper zu. Die Sünde machte sich um Renée in allen ihren Spielarten, hinter der dichtesten Larve wie in cynischster Offenheit breit; sie konnte ihr nicht verborgen bleiben. Würde sie stets den gleichen Ekel vor ihr empfinden? Würde sie schließlich nicht, wenn auch nicht sich an sie gewöhnen, so doch Entschuldigungen für sie suchen?

Selbst jene, die ihrem romantischen Kampfe gegen die Ansteckung, wie sie es nannten, Gerechtigkeit widerfahren ließen, zweifelten, wenn auch nicht an ihrer ehrlichen Absicht, so doch an ihrer Ausdauer, und fragten sich untereinander: »Wer wird es ihr Dank wissen?«

Die Ahnung dieser beleidigenden Zweifel, dieses spöttischen Skepticismus, der Ränke, mit denen der Gegenstand seiner Verehrung umstellt wurde; die Gewißheit, daß ihre Unschuld, die er angebetet hatte, unabwendbar darunter leiden müsse, störten die stummen Unterhaltungen Etiennes mit dem Bildnis Renées. Es schien ihm, als ob er auf dieser reinen Stirn, auf der andre einen Stern glänzen sahen, einen Schatten, einen Flecken entdeckte, den niemand im stande wäre, auszutilgen.

Bald überzog dieser Flecken alles, ließ alles andre verschwinden, er sah nichts wie ihn; sich mit Mut wappnend, bat er Cäcilie, das Porträt zu entfernen, es verschwinden zu lassen, um endlich die Gespenster aus diesem Winkel im Schloß, den sie das Geisterzimmer nannte, zu beschwören; zu lange hätte er sich hier an unerfüllbaren Hoffnungen geweidet, die Zeit dieser Einbildungen, dieser Schwächen sei vorüber. »Du hast recht, wir beide werden einander genug sein,« sagte Cäcilie.

Mit einem traurigen Lächeln reichte er ihr die Hand, sie legte die ihrige hinein, und lange Zeit saßen Schwester und Bruder sich so zur Seite und blickten wortlos in den Kamin, auf dem ein großes Feuer flammte. Das Feuer empfängt so manche stumme Beichte. Was könnte es nicht von unsern Kämpfen, von unsern Entsagungen, von unsern Erregungen erzählen, die zu tief waren, um sich in Worten Luft zu machen!

Dies Feuer war eins der ersten im Herbst. Während man sich so, träumend und die Füße gegen den Kamin gestemmt, auf Souvray wärmte, nahm die Theatersaison in Paris ihren Anfang, und Etienne mußte die Morgenblätter mit wenig Aufmerksamkeit gelesen haben, sonst wären ihm, die folgenden Zeilen nicht entschlüpft:

»Das théatre Italien verspricht uns eine Sängerin, der der Ruf eines Wunders vorausgeht. Mademoiselle Christen ist Französin, obgleich ihr Talent in Italien geschult ist, wo sie sich sehr schnell die glänzende Stellung eroberte, die auch London im vergangenen Frühjahr anerkannte. Das ›Covent Garden-Theater‹ wollte sie nicht gehen lassen, aber sie hat eingesehen, daß man die wahren Lorbeeren nur in Paris pflückt.«

So führte das Schicksal Renée in dem Augenblicke Etienne wieder in den Weg, in dem er, sich energisch aufraffend, sogar das Bild von ihr, die er vergessen mußte, entfernt hatte.

Einige Tage später fragte ihn Cäcilie: »Weißt du ganz sicher, daß sie noch in Italien ist?«

»Weshalb fragst du mich das?« meinte Etienne, während ihn ein Zittern überlief.

»Ich ging, wie gewöhnlich einmal in der Woche, nach dem Kirchhof und fand auf dem Grabe von Frau Christen einen prachtvollen Veilchenkranz, der nicht von hier stammt.«

»Das beweist nichts, man hat ihn schicken können ...«

»Und die Mutter Bourré,« fuhr Cäcilie zögernd fort, »ich weiß ja, daß man nicht alles, was die alte Schwatzbase erzählt, zu glauben braucht, aber sie sagte mir, daß sie, als sie Gras auf dem Kirchhofe schnitt, eine schöne, in Sammet und Seide gekleidete Frau, das Gesicht von einem dichten Schleier verhüllt, eintreten und gerade auf Frau Christens Grab hat zugehen sehen. Mutter Bourré ist aus Neugierde, um sie sich mehr aus der Nähe anzusehen, an ihr vorübergegangen, aber die Fremde hatte das Gesicht in ihr Taschentuch gedrückt und weinte. Vor dem Kirchhof hielt ein Wagen ...«

»Ist das alles?« unterbrach Etienne sie kurz.

»So warte doch nur! Der Wagen ist durch das Dorf gefahren, und die Leute haben mir gesagt, daß er vor dem alten Christenschen Hause Halt gemacht hat. Jene Dame hat den kleinen Simon herbeigerufen und ihn gefragt, ob das Haus in den letzten Jahren stets bewohnt gewesen wäre, wie seine Bewohner gehießen hätten, wann man die große Linde auf der Terrasse gefällt habe ... Erinnerst du dich, wie sehr Renée die große Linde liebte? ... Ich wollte hören, ob die Dame nicht Fräulein Christen ähnlich gesehen habe, aber Simon wollte nichts davon wissen ... sie war viel schöner, ganz in Seide! Die Bauern sehen natürlich nur die Kleider, und wie Renée fortging, war ja Simon auch noch ein Kind. Es ist nicht weiter verwunderlich, daß er sich ihrer nicht erinnert.«

Am andern Tage fuhr Etienne nachmittags nach Paris.

»Ja, sie war es,« sagte er nur, als er nach Hause kam. »Ihr Debüt ist angezeigt.«

Und wieder füllte das Knistern des Feuers im großen Kamin die langen Pausen im Gespräche zwischen Bruder und Schwester, die beide sich scheuten, ihren Gedanken Worte zu geben.

Der Name, der ihnen unaufhörlich auf den Lippen schwebte, wurde auf Souvray nicht ausgesprochen, bis zu dem Tage, wo er auf Friedrich Buissons indiskreten Lippen explodierte. Dieser stürmte gegen die Zeit des Abendessens, an dem er zuweilen, da sein Gedeck stets für ihn bereit stand, ungeladen teil nahm, in das Zimmer wie eine Windsbraut und schrie ohne weitere Umschweife:

»Ach, welch' eine ,Rosine! Sie ist herrlich, unvergleichlich ... ich bin bis über die Ohren in sie verliebt ... alle Welt ist in die Christen verliebt ... auch du wirst es sein,« fügte er sich an Etienne wendend, unbedacht hinzu, »nicht mehr so wie früher« – ein strenger Blick Cäciliens hatte ihn vorsichtig gemacht – »sondern so, wie man es sein muß ... ohne die abgeschmackte Idee, sie für sich allein mit Beschlag zu belegen, sondern so, daß man diesen Schatz der ganzen Welt läßt ... denn die Anbetung der ganzen Welt kann allein das Vergnügen, das sie verschafft, würdig aufwiegen. In England verglich man sie der Jenny Lind – unsre Renée, unsre kleine Renée! Wie sie auf die Bühne trat, hätte ich sie wohl wiedererkannt ... aber beim Singen wird sie so schön! ...«

Und Friedrich fing an, die Melodien aus dem Barbier mit verzückten Gebärden und falsch vor sich hinzuträllern.

»O, wie gern ich sie wiedersehen möchte!« rief Cäcilie lebhaft. »Haben Sie sich ihr nicht nähern, nicht mit ihr sprechen können, Friedrich?«

»Im Theater, nein ... da war die Diva unnahbar. Ich wartete den andern Morgen ab, um mich bei Renée melden zu lassen und hörte im ersten Salon den Freudenschrei, den sie beim Lesen meiner Karte, die das Zimmermädchen ihr überbracht hatte, ausstieß. Sie vergißt ihre alten Freunde nicht. Ich wurde sogleich empfangen und sofort sprach sie mit mir von euch; man hätte glauben können, daß wir uns erst abends vorher getrennt hätten, so herzlich zeigte sie sich, so liebenswürdig erinnerte sie sich der kleinsten Ereignisse vergangener Tage. Einfach zu bleiben, sich ein so treues Gedächtnis bei solchen Erfolgen zu bewahren – begreift ihr dieses Wunder? ...«

»Wo und wie haben Sie sie angetroffen?« forschte Cäcilie neugierig. »Beschreiben Sie mir ihre Wohnung, – bis auf das Kleinste!«

»Sie hat sich in den Champs Elysées niedergelassen,« fing Friedrich zu erzählen an, »und mir kam alles sehr elegant vor; der Rahmen ist graziös wie sie, wie für sie gemacht; diese Frau ist ja die verkörperte Anmut, die wahre Anmut, hinter der ein Schatz an aufrichtiger Herzensgüte steckt. Könnt ihr euch denken, daß sie eines meiner Bilder gekauft hat! »Ich habe es besitzen wollen,« sagte sie zu mir, »um alles dessen willen, woran es mich erinnert: an den Aufstieg von Aspremont, an unsre alte Freundschaft, meine erste Jugend, und an jene Zeit meines Lebens, die nie wiederkehrt. Zudem finde ich es sehr talentvoll!-«

»Das zeugt von Geschmack,« sagte Cäcilie mit Überzeugung, »Und nun seien Sie offen, hat sie über mich mit Ihnen gesprochen?«

»Von Ihnen sprach sie als von ihrer besten Freundin. Ebenso wenig konnte sie ein Ende über Ihren Bruder finden und erkundigte sich nach allem möglichen – als wenn er soviel Teilnahme verdient hätte,« fügte er, durch das mürrische Schweigen Etiennes ungeduldig gemacht, hinzu.

»Und die Harris? Ist sie mit den Harris in Beziehungen geblieben?« unterbrach ihn Cäcilie.

»Ja und sie hat mir die letzten Nachrichten mitgeteilt. Fräulein Grace ist heute Frau Frank Stevens und glückliche Mutter. Ich habe ihr erzählt, daß Frau von Cerdon nach ihrer Verheiratung nicht mehr für uns zu haben sei. Augenscheinlich wäre sie eine zu große Dame geworden. Dagegen hat sie Lily mit großer Lebhaftigkeit in Schutz genommen und mir versichert, sie könne nicht frei nach ihrem Wunsche handeln; ihr Mann tyrannisiere sie. Meiner Treu, wenn er nur das thäte! Alle Welt weiß, daß er mit den Dollars, die ihm aus Amerika zuströmen, sein Junggesellenleben seit lange und in tollster Weise wieder angefangen hat; er soll sich in schlechtester Gesellschaft herumtreiben.«

»Arme Lily,« seufzte Cäcilie.

»Bah, ein jeder erntet, was er gesät hat,« sagte Friedrich, der über dem Kapitel seiner alten Liebe stets ins Feuer geriet. »Ist Renées Los nicht ein schöneres und alles in allem ehrenwerteres? Anstatt von einem herz- und charakterlosen Wicht abhängig zu sein, schuldet sie nur sich allein eine Verantwortung für ihr Thun und Lassen; den Luxus, der sie umgibt, schafft sie sich selbst. In London hat ihre tadellose Haltung, die allgemein bekannte Korrektheit ihrer Lebensführung zu der Bewunderung, die sie einflößte, nur beigetragen. Eine alte Dame steht ihr zur Seite und begleitet sie des guten Tones wegen überallhin; in Wahrheit hat sie aber einen ›Elefanten‹ sicher nicht nötig und wird wohl trefflich verstehen, sich selbst Achtung zu erzwingen – darauf möchte ich schwören!«

»Wer denkt denn daran, hierüber den geringsten Zweifel zu hegen?« sagte Etienne.

»Ah, das lasse ich mir gefallen! Du machtest ein Advokatengesicht, ein paar Ellen lang, das ich mißdeutete. Nun, höre einmal zu: morgen singt sie; fahren wir nach Paris, um dort zusammen zu essen und nachher ins Theater zu gehen.«

»Nein,« unterbrach ihn Etienne barsch, »nie, niemals.«

»Niemals? Du thust mir leid,« meinte Friedrich die Achseln zuckend, »dann gehe ich für dich mit.«


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