Th. Bentzon
Die Heimkehr
Th. Bentzon

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IV.

Im Hause Loysel wunderte man sich etwas über die Ungebundenheit der amerikanischen Fräulein, den ganzen Tag »auf der Straße zu liegen«; das war vielleicht bei ihnen zu Hause so Sitte und schließlich wich ja Renée nicht von ihrer Seite; ihre Gegenwart mochte Frau Harris beruhigen. Seitdem Renée täglich eine Musikstunde auf dem Schlosse gab, hatte sie über ihre Schülerinnen eine Herrschaft gewonnen, die einem überlegenen Menschen überall und beinahe gegen seinen Willen zufällt. Bei Frau Harris stand sie in ganz besonderm Ansehen; sie konnte Frau Christen, nachdem die Damen Verkehr miteinander pflogen, nicht oft genug wiederholen, daß sie sich für Grace und Lily keine intelligentere Lehrerin, keine liebere Freundin hätte wünschen können. Die Achtung, das liebevolle Interesse, das ihrer Tochter zu teil wurde, erfreuten die arme Witwe; es erschien ihr wie ein Werk der Vorsehung, daß die Amerikaner sich in ihrer Nachbarschaft niedergelassen hatten: Renée hatte so wenig schützende Hände um sich und konnte doch jeden Tag in der Welt allein stehen.

Frau Christen wußte, daß sie an einer schweren Herzkrankheit litt, daß ihre Tage gezählt seien und fragte sich oft in bitterer Angst, »was wird aus meiner Tochter?« Ihre durch die Verhältnisse gebotene Verbannung auf das Land hatte sie von allen, die sich noch des Majors Christen erinnerten, getrennt, auch von seinen alten Kriegskameraden in hoher Stellung, die dem Andenken an den Verstorbenen Genüge gethan zu haben glaubten, als sie der Witwe, außer der gesetzlichen Pension, noch einige kleine Zuschüsse seitens der Regierung ausgewirkt hatten.

Lange Zeit hatte sie auf die Familie Loysel als Zuflucht für Renée gerechnet, aber seit länger denn einem Jahre wußte sie, daß dieses Haus, so gastfrei es war, sich keinesfalls für Renée öffnen würde, wenn sie Waise war. Liebte Etienne nicht Renée!? Diese Neigung hatte dem Auge einer Mutter nicht verborgen bleiben können. Fast zu gleicher Zeit wie ihre Nachbarin war Frau Loysel aufmerksam geworden; aber, während die eine auf diese Entdeckung Luftschlösser, wenn auch noch so vergängliche, baute, versprach sich die andere, die Augen offen zu halten, um, wie sie sagte, Dummheiten vorzubeugen.

Frau Loysel konnte für eine ausgezeichnete Diplomatin gelten, wiewohl ihre sonstige Begabung über das Maß gesunden Menschenverstandes nicht hinausreichte. Sie hütete sich vor Ungeschicklichkeiten, wie sie Menschen, die eines höheren Aufschwungs fähig sind, wohl begehen; Neigungen einer seiner gestimmten Natur, wenn sie ihr selbst auch fremd waren, wußte sie sich doch recht gut zu erklären. Sie merkte es sogar sehr schnell, wenn sie auf solche stieß und verstand sie zu ihrem Vorteil auszubeuten, während sie im Innern darüber lachte. So hatte sie an Frau Christen einen Stolz entdeckt, der sich mit deren Stellung schlechterdings nicht vertrug, eine Zartheit und Feinfühligkeit in allem, wo der Begriff Ehre ins Spiel kam, die sie ohne Zögern für übertrieben erklärte. Eine solche Empfindsamkeit schien ihr ein Luxus, den sich eine Frau, die kaum einen Heller ihr eigen nannte, nicht gestatten durfte.

Trotzdem leistete sie Frau Christen Dienste aufrichtigster Freundschaft; sie schickte ihr frische Eier von ihrem Hühnerhof und hatte sie während einer sehr schweren Erkrankung mit einer Aufopferung gepflegt, die einem Gliede ihrer Familie gegenüber nicht größer hätte sein können. Solche Widersprüche zeigen sich in gewöhnlichen Charakteren: man wünscht seinem Nächsten alles Gute – bis zu einem gewissen Grade und unter der Voraussetzung, daß er das Auge nicht zu hoch erhebt.

»Da haben wir's, was ich längst befürchtete,« sagte sie an dem Tage, als sie die Augen Etiennes mit verräterischem Ausdruck auf Renée ruhen sah, zu ihrem Gatten. »Da unser Sohn alle Tage die kleine Christen und nur sie gesehen hat, trägt er sich mit dem Gedanken, sie zu heiraten.«

»Zu heiraten?« donnerte Herr Loysel los. »Ein Mädchen ohne Mitgift heiraten? Wenn ich das glauben müßte, schickte ich ihn noch heute abend nach Paris, das ihm solche Grillen wohl vertreiben würde. Ein junger Mann braucht nur andre Puppenköpfe zu sehen, um den ersten, der es ihm angethan hat, zu vergessen. Ganz gleich, was es für Geld kostet; er soll sich seine Mucken austreiben und kuriert heimkommen.«

»Sage lieber verdorben!« unterbrach ihn Frau Loysel. »Will er einmal auf dem Lande leben, soll es auch nicht umsonst sein. Ein ordentlicher Mensch soll er bleiben.«

»Was aber anfangen? Soll ich ihn ins Gebet nehmen?«

»Das hieße ihm den Kopf nur noch mehr verdrehen. Du würdest damit erreichen, daß er das ganz ernstlich will, was jetzt vielleicht nur eine Grille von ihm ist.«

»Verhindern, daß er sie sieht ....«

»Wenn Cäcilie und die kleine unzertrennlich sind!«

»Meiner Treu, die Situation ist verzweifelt.«

»Wenn du mir freie Hand läßt – nein!«

An demselben Abend sagte Frau Loysel, die Frau Christen nach Tische mit ihrem Strickzeug Gesellschaft geleistet hatte, beim Nachhausekommen fröhlich zu ihrem Gatten:

»Es ist alles in Ordnung, wir können ruhig schlafen.«

Sie hatte Renées Mutter unter dem Siegel der Verschwiegenheit einfach gewisse auf Etiennes Zukunft bezügliche Pläne anvertraut, deren Verwirklichung, wie sie betont hatte, ihr über alles am Herzen lag.

Es hinge nur von dem jungen Manne ab, ein Fräulein Bonnard, Tochter eines Großindustriellen, dessen Spinnerei allein vierhundert Arbeiter beschäftigte, zu heiraten; das Zustandekommen wäre nur noch Sache seiner Einwilligung. Weshalb sollte er nicht zugreifen, da doch Gott sei Dank sein Herz noch frei wäre? Diesem ersten Streich ließ Frau Loysel, als sie sah, daß ihre Freundin nachdenklich und unruhig wurde, eine Geschichte folgen, die gerade in aller Welt Munde war, die Geschichte von einem reichen Grundbesitzer der Umgegend, der sich von einer Intrigantin mit Hilfe ihrer nicht weniger schlauen Mutter hatte einfangen lassen und sie trotz des Widerspruchs seiner ganzen Familie geheiratet hatte. – Wenn dieser Klatsch in der Absicht erzählt wurde, Frau Christen auf das empfindlichste zu verletzen, so war sie erreicht. Die Witwe versprach sich heilig, daß sie und ihre Tochter niemals Grund zu dem Verdachte geben würden, sie machten Jagd auf Männer. Die geriebene Frau Loysel täuschte sich also keineswegs, wenn sie sagte:

»Wenn Etienne selbst jetzt einen Handstreich unternehmen wollte, wären die Damen Christen die ersten, die ihm abreden würden.«

Daraufhin verdoppelte sie ihre Aufmerksamkeiten gegen Mutter und Tochter in einem Maße, daß Cäcilie naiver Weise glaubte, ihre Mutter habe ihre höherfliegenden Pläne aufgegeben und Etiennes Glück stehe kein Hindernis mehr im Wege.

»Und auch ich, ich werde glücklich sein und ihre Kinder erziehen,« fügte das arme Mädchen mit einem Seufzer hinzu und gab sich Mühe, nicht mehr an Friedrich zu denken. Sie ahnte nicht, daß diese Heirat, die sie als Entschädigung für eigenes Glück erhoffte, von vornherein vereitelt war.

Welche Enttäuschung für Renées Mutter! Erst jetzt, als sie sich ihrer so bitter und schmerzlich bewußt wurde, fühlte sie, wie sehr die leise Hoffnung ihr Kraft zum Leben gegeben hatte. Und was ihre Enttäuschung in hohem Grade vermehrte, war der Gedanke, daß auch Renée eine solche bevorstand. War die Besorgnis, daß Renée ihren Jugendgenossen allmählich lieb gewonnen habe, nicht in der That berechtigt? Sie mußte durchaus verhindern, daß Renée sich dieser unheilvollen Einbildung länger hingab, daß die Bande, die vom Schicksal bestimmt waren gelöst zu werden, sich enger knüpften. Nach langen Umschweifen und mit zartester Schonung erzählte sie ihr dann, was Frau Loysel ihr anvertraut hatte.

»Es wäre doch sehr bedauerlich,« fuhr sie zögernd fort, »wenn eine unüberlegte Neigung Etienne auf eine gute Partie zu verzichten bewöge.«

»Ohne Zweifel,« erwiderte Renée in ungetrübter Sorglosigkeit.

»Sei aufrichtig, liebes Kind, würde es dir keinen Kummer machen?« fuhr Frau Christen fort und zog ihre Tochter zärtlich an sich.

»Mir? Kummer wegen Etiennes Heirat? Weshalb, Mama?«

»Ich hatte geglaubt, daß er in dich verliebt sei?«

»Und ich habe es auch geglaubt, glaube es sogar noch. Gerade deswegen wäre ich beruhigt, wenn ein erklärtes Verhältnis ihn von dieser Einbildung abbringen würde.«

»Also liebst du ihn nicht, gar nicht?«

»Im Gegenteil, ich habe ihn gern genug, um nicht zu wollen, daß er unglücklich ist, und er war es eine Zeitlang, weil ich ihn nicht verstehen wollte. Übrigens eine recht unangenehme Zeit für mich! Seufzer, stumme Vorwürfe, durchsichtige Anspielungen auf einen Wunsch, der nie offen ausgesprochen wurde. Wenn man das ›Jemand den Hof machen‹ heißt, so hoffe ich es nicht noch einmal zu erleben.«

Die Mutter sah sie erschrocken an. Schon oft hatte sie Renée nicht verstehen können; sie hatte nicht wie andre Mütter das Seelenleben ihrer Tochter in seinem zartesten Keime gepflegt und seine Entwicklung überwacht. Deswegen war trotz ihrer gegenseitigen Anhänglichkeit das gegenseitige Verständnis kein vollkommenes. Bei Renée machte es sich geltend, daß sie seit ihrem achten Lebensjahre in die Erziehungsanstalt zu Saint Denis gekommen und dort, während Frau Christen ihrem Gatten schweren Herzens von einer Garnison in die andre folgen mußte, fremden Händen anvertraut geblieben war. »Aber ich hoffe doch,« fuhr sie nach einer Pause fort, »daß du dein Glück einst in einer Ehe finden wirst, die ohne gerade glänzend zu sein ...«

»Glänzend oder bescheiden, die Ehe lockt mich nicht, und wenn du mir freie Wahl ließest, würde ich das Glück außerhalb ihres Kreises suchen.«

»Und was würdest du beginnen?« fragte Frau Christen beunruhigt.

»Was ich am besten verstehe: singen.«

»Meine arme kleine Grasmücke, du singst hier, du singst, soviel du magst, und es bringt dich nicht weiter,«

»Wer weiß, was die Zukunft birgt!« sagte Renée.

Der Mutter entschlüpfte bei dem Gedanken, daß ihrem Leben eine nahe Grenze gezogen sei, ein tiefer Seufzer. Als ihre Tochter sah, welch' traurige Vorahnung sie bekümmerte, fuhr sie fort:

»Meine Zukunft ist die, die du willst, und mit der Gegenwart neben dir bin ich zufrieden, meine liebe Mutter!«

War dem wirklich so? Frau Christen glaubte es nicht recht, da sie sich des Wunsches erinnerte, dem Renée noch unlängst einen so leidenschaftlichen Ausdruck gegeben hatte – nach Paris zu gehen, wo sie ihr Talent verwerten zu können glaubte.

Obgleich Renée nicht darauf zurückgekommen war, hatte sie doch sicherlich auf seine endliche Erfüllung nicht verzichtet. Darin glich sie viel zu sehr ihrem Vater, einem in allen Dingen hartnäckigen, entschlossenen und furchtlosen Manne. Stets hatte der Major seinen Willen durchsetzen müssen. Diese Willenskraft, gegen die nichts aufkam, hatte die der Frau Christen vollständig erstickt, so daß sie nicht mehr fähig war, selbständig einen Entschluß zu fassen. Es wäre ihr eine Last vom Herzen gefallen, wenn sie ihre Tochter alles und jedes hätte entscheiden und ordnen lassen können, wie es ehedem ihr Gatte für sie gethan hatte, aber das war unmöglich! Renée war zu jung, zu unerfahren, zu schwärmerisch.

Sollte man diese eingebildete Neigung zur Bühne ernst nehmen? Der Major, der, wenn es sich um Frauen handelte, starrköpfig an den alten Grundsätzen festhielt: in seinen vier Wänden leben, seine Kinder erziehen und stricken, hatte sich vor dem Gedanken entsetzt, und Frau Christen, die keine andre Meinung kannte, als die ihres Mannes, war oft in Versuchung geraten, das feierliche Gelöbnis von Renée zu fordern, niemals und unter keinen Umständen der trügerischen Verlockung Folge zu leisten; sie wußte, daß solange sie am Leben war, ihre Tochter nichts thun würde, was ihr mißfallen konnte – aber nachher? Renée würde ohne Mittel zurückbleiben. Durfte sie ihre schwierige Stellung mit der Bürde eines Eides erschweren?

Frau Harris mit ihrem unabhängigen und weiten Blick für alle Lebenslagen gelang es, die Bestürzung der Mutter, die durch die philiströsen Ansichten der Frau Loysel noch gesteigert war, zu mildern. Es war das Schicksal von Frau Christen, deren physische Schwäche gewisse Charaktermängel noch verschärfte, sich widerstandslos der Meinung dessen, der zuletzt ihr Ohr hatte, anzuschließen, und Frau Harris begriff das Los der Frauen gerade im entgegengesetzten Sinne, wie der verstorbene Major: sie machte die Heirat durchaus nicht zum einzigen Lebenszweck eines Mädchens und ließ alle Arbeit zu, vorausgesetzt, daß die Beschäftigung, sei sie körperlich oder geistig, sich mit einem ehrbaren Leben vereinigen ließe. Zum Beispiel sprach sie von den weiblichen Doktoren ihres Landes, die vorurteilsfrei sich erfolgreich dem Beruf des Arztes widmen, mit uneingeschränktem Lobe für ihre Thatkraft. »Selbstverständlich scheint mir das Fach einer Lehrerin besser,« fügte sie hinzu, um den Ansichten ihrer sprachlos scheinenden Zuhörerin entgegenzukommen. »Das ist eine Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, die einem Mädchen wohl ansteht. Wie schnell ich mir Ihre reizende Renée sichern würde, um Lilys Erziehung zu vollenden und ihr, sobald ihre Schwester einmal verheiratet ist, Gesellschaft zu leisten, wenn sie nicht hier ihre Mutter zu hätscheln hätte.«

Diese Worte, die wie ein freundschaftliches Versprechen klangen, trugen viel zur Beruhigung von Frau Christen bei. Nachdem sie darüber nachgedacht und lange mit sich zu Rate gegangen war, schrieb sie noch ein paar Zeilen unter ihr Testament, in dem übrigens von materiellen Dingen wenig die Rede war. Bestand doch die Erbschaft der Witwe in einigen, Groschen um Groschen ersparten Banknoten, die in einem versiegelten Couvert in den Tiefen des alten Sekretärs schlummerten.


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