Th. Bentzon
Die Heimkehr
Th. Bentzon

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IX.

Der März neigte sich seinem Ende zu, als Renée an einem frischen Morgen in den Wald ging, um sich über ihren Entschluß klar zu werden. Durfte sie sich vom Grabe ihrer Mutter trennen? Sollte sie andererseits das günstige Anerbieten, das Frau Harris ihr machte, von der Hand weisen? Was thun! Ihre Willenskraft schien durch den schweren Schlag, der sie aus heiterem Himmel getroffen, wie gelähmt, die Fertigkeit, kühne Pläne zu entwerfen, die sie früher in so hohem Maße besessen, verschwunden zu sein.

Ein frischer Wind strich ihr um den Kopf und verjagte allmählich das beklommene Gefühl, das sie seither befangen hatte. Weg und Steg waren mit Reif überzogen, der unter ihren Schritten leise knirschte, jeden Zweig in ein krystallenes Mäntelchen hüllte und die Spinngewebe, die sich von einem Busch zum andern zogen, phantastisch mit glänzenden Perlen bestickte; hier und da hob sich das tiefe Grün der Fichten hell von rostbraunem Eichenlaub und dem zarten Hauch ab, der wie ein leichter, grüner Schleier über den sprießenden Trieben dichter Gebüsche lag. Veilchen mit ihren blauen Köpfchen auf langem Stiele reckten sich aus dem gelockerten Laubboden und ungezählte, in erstem Grün prangende Schlinggewächse wanden sich um Buchenstämme, schlank wie Säulen. Eine Amsel, die in einem Wachholderbusch ihr Nest baute, schmetterte einen hellen Jauchzer so nahe neben Renées Ohr, daß sie zusammenschrak. Dieses Aufleben aller Naturkräfte nach der Winterstarre nahm auch Renée nach und nach gefangen; eine Art Scham, die wir alle trotz tiefen Trauerns gefühlt haben, ergriff sie bei dem Gedanken, daß auch ihre noch blutende, Herzenswunde sich einst schließen würde ...

Ein neues Leben erschien ihr in der Ferne, gleich dem Stück blauen Himmels, das, wie eine Einladung, die Trauer hinter sich zu lassen, am Ende der langen Allee durch die noch starren Zweige des Hochwaldes schimmerte. Plötzlich war beinahe ohne ihr Zuthun ihr Entschluß gefaßt ...

Von den am Waldrande sich hinziehenden Wegen, auf denen sie eben in Harmonie mit ihrer Seelenstimmung tiefe Einsamkeit gefunden, stieg sie hinauf zu den Felspartien von Aspremont, um ihnen, die sie vor allen andern liebte, Lebewohl zu sagen.

Dort ließ sie sich nieder. Zu ihren Füßen dehnte sich der Wald wie ein wogendes Meer, über das sich wie gigantische Schatten Morgennebel breiteten. Da setzte die Sonne, wie sie inmitten purpurner Wölkchen höher vom Horizont empor stieg, alles in Flammen. Es däuchte ihr, als ob es auch in ihrer Seele Licht werde, als ob, wie für die unter ihr liegenden Felder, so auch für sie ein neuer Morgen anbreche. In der Ebene, die sich vom Waldesrande in sanften, von Tau glänzenden Wellen endlos vor ihrem Auge ausbreitete, lagen vereinzelte Weiler; ihr gegenüber aber war der Horizont von einem schroff abfallenden, tiefblauen Hügel begrenzt, auf dessen Spitze sich die Silhouette einer mächtigen Fichte mit weit aufgereckten Ästen gegen den Himmel abzeichnete. Dieser Baum mit seinem exotischen Aussehen ließ sie an Italien denken, und ein heißer Wunsch, das Land zu sehen, stieg in ihr auf, von strömenden Thränen gefolgt, die Gewissensbisse ihr in die Augen trieben. Hatte sie nicht unter dem Einflusse eines neuerwachenden Glückes, das sich, wenn der Frühling ins Land zieht, allem mitteilt, was Leben hat, ihren Kummer einen Augenblick vergessen!

»Weshalb weinen Sie?« ließ sich Etiennes Stimme hinter ihr hören.

Er war ihr gefolgt, ganz von weitem, um sie nicht in ihrer Träumerei zu stören, aber von der Absicht geleitet, sich mit ihr endgültig auszusprechen. Aus Furcht, ungelegen zu kommen, oder sie in einer ihm ungünstigen Stimmung zu finden, würde er auch jetzt noch gezaudert haben, hätte er sie nicht Thränen vergießen sehen.

Er setzte sich zu ihren Füßen nieder, ergriff ihre Hände mit den seinen und sah sie mit einem Blicke so voller Zärtlichkeit und schrankenloser Hingabe an, daß Renée ahnte, was er ihr sagen würde. Verwirrt, in einem Augenblick unerklärlicher Erregung überrascht zu sein, zeigte sie ihm einen Brief, den sie zerstreut in den Fingern gehalten hatte.

»Ich erhielt ihn gestern,« sagte sie, »und las ihn soeben noch einmal ... Frau Harris tritt nächste Woche ihre Reise an und wartet auf meine Entscheidung.«

»Und das erregt sie so sehr? Sie werden doch Frau Harris nicht Bescheid geben, ohne mich um Rat gefragt zu haben! Habe ich nicht ein Recht, Ihnen hilfreich zur Seite zu stehen, Renée?«

»Ja, mehr als irgend jemand, denn meine Mutter hatte Vertrauen zu Ihrem Urteil.«

»Dann denken Sie, Ihre Mutter weile jetzt zwischen uns und höre meine Worte ... ich hätte noch gewartet, ich hätte Sie noch Ihrer Trauer, die ich tief mitfühle, überlassen, aber ... man will Sie mir rauben und zwingt mich, früher zu sprechen. Ich liebe Sie, Renée. Wäre es möglich, daß Sie das nicht immer gewußt, haben?«

Sein flehender Blick begegnete nur der stummen Antwort zweier hartnäckig niedergeschlagenen Augen.

»Renée, wollen Sie mein Weib werden?«

»Wissen Ihre Eltern um diese Frage?« rang es sich endlich von Renées Lippen, und jetzt ruhte ihr Auge mit forschendem Blick auf Etienne.

Die Aufregung, in die jedes erste Liebesgeständnis, gleichviel, wessen Mund dasselbe ausspricht, ein junges Mädchen versetzt, war niedergekämpft, und die Erinnerung, wie man sich einst an ihrer Mutter Stolz und Zartgefühl gewandt, gab ihr die volle Geistesgegenwart wieder. Mit einer Art geheimer Freude fiel ihr ein, wie ausgezeichnete Gründe sie hätte, Etiennes Werbung abzuweisen und sich ihre Freiheit zu wahren.

»Ich hatte gehofft, ein Wort der Ermutigung aus Ihrem Munde zu hören, bevor ich den Eltern meine Absicht, die zu ändern ohnehin nicht in ihrer Macht steht, bekannt gab,« sagte Etienne treuherzig. »Weshalb fürchten Sie Schwierigkeiten von dieser Seite? Sehen meine Eltern Sie nicht schon an wie ihre Tochter?«

Renée schüttelte das Haupt; die Zustimmung der Eltern Loysel schien ihr aus guten Gründen weit ungewisser, als Etienne annahm.

»Sie zweifeln daran?«

»Ich zweifle an mir. Ihr Antrag rührt mich tief ... aber ihn annehmen ... jetzt ...«

»Sie lieben einen andern!« fiel Etienne angstvoll ein. »Sie haben bei Frau Harris jemand getroffen, der Ihr Herz gewonnen hat: Herrn von Cerdon zum Beispiel?«

Renée zog die Schultern in die Höhe.

»Wer hat Ihnen denn von dem erzählt? Gewiß Ihr Freund Friedrich! Ich weiß, er mag ihn nicht leiden: liebenswürdige Männer haben die andern immer zu Feinden. Mein Gott, was glauben Sie, was ein Marquis von Cerdon einem armen Mädchen, wie mir, zu sagen haben könne.«

»Das kann ich nicht wissen,« meinte Etienne, den die Eifersucht immer mehr blendete. »Jedenfalls sagte er Ihnen mancherlei an den Musikabenden, denen Friedrich beiwohnte.«

»Was für eine böse Zunge dieser Herr Buisson hat! Nun ja, Herr von Cerdon hörte mich sehr gern singen. Ist das ein Verbrechen?«

»Sie erröten, Renée!«

»Gewiß, an Komplimenten hat er es auch nie fehlen lassen; aber die macht er aller Welt. Schmeicheleien sagen, ist seine starke Seite. Zuerst hätte Frau Harris glauben können, er sei in sie verliebt, so sehr ließ er sich's angelegen sein, ihre Huld zu gewinnen, dann zeigte er sich Grace in einer Weise aufmerksam, daß sie ihm schleunigst ihre Verlobung mitteilen mußte. Heute glaubt Grace, wie auch ich, daß ihn nie eine andre als Lily, die von seinen guten Walzern bezaubert ist, gefesselt hat. Auch darin täuschen wir uns vielleicht. Übrigens ist er ein sehr lockerer Zeisig, man spricht von einer Tänzerin, die ihn vollends an den Bettelstab bringen wird ... Wen kümmert's? Er wird niemand mehr gefährlich werden ... wir reisen ab, und adieu auf Nimmerwiedersehen.«

»Sie gehen fort! Ist das alles, was Sie mir zur Antwort geben?«

»Machen Sie nicht Ihr trauriges Gesicht. Wenn Sie mich so ansehen, komme ich mir vor wie eine Sünderin.«

»Renée, wenn ich Sie weggehen lasse, sind Sie für mich verloren. Sie dürfen nicht abreisen, Sie haben dazu kein Recht, und Ihre Mutter hätte nie ihre Einwilligung dazu gegeben,« stieß der Bedauernswerte in dem Glauben, daß dieser Grund der überzeugendste sein müsse, hervor.

»Meine Mutter hat mich Frau Harris anvertraut, sie wünschte mich in ihrem Hause bei ihren Töchtern untergebracht zu sehen. Dort werde ich mit Arbeit mein Brot verdienen, indem ich andre das wenige lehre, was ich verstehe, und mir so meine Selbständigkeit bewahren.«

»Ihre Selbständigkeit? Ihren Stolz! Hören Sie lieber auf die Stimme Ihres Herzens – sagt Ihnen diese nichts?«

»Mein Herz sagt mir, daß ich Sie so liebe, wie Cäcilie Sie liebt.«

Da durchzuckte ein heftiger Schmerz Etiennes Brust, und eine schwere Thräne rollte langsam über seine Wange. Das ergriff Renée mehr als alle seine Worte. Einem plötzlichen Impuls gehorchend, nahm sie den Kopf Etiennes, der zu ihren Füßen saß, zwischen ihre beiden Hände und drückte einen Kuß auf seine Stirn – so wie es Cäcilie wohl gethan hätte.

Ein Schauer überlief ihn, leichenblaß sprang er auf die Füße.

Diese leidenschaftslose Zärtlichkeit ließ ihn das genaue Maß von Renées Gefühlen mit Beschämung empfinden.

»Freilich, wenn es so um uns steht, thun Sie vielleicht recht daran, wegzugehen,« sagte er mit klangloser, bebender Stimme. »Einer neben dem andern, wie früher, könnten wir ja doch nicht mehr leben.«

»Sie sind mir böse,« rief Renée, über den Ausdruck stillen Leides erschrocken, der über seinen Zügen lag, und wie ein Kind, das die Missethat, die man ihm vorwirft, nicht begreift, von Unruhe ergriffen.

Ohne eine Antwort zu geben, stieg Etienne langsam den schmalen Fußpfad hinab. Sie folgte ihm, im Innersten ergriffen, aber mehr denn je mit der Erinnerung gewappnet an die Äußerungen der Frau Loysel, die ihrem eigenen Widerstand, ihrem eignen Willen noch mehr Kraft verlieh. Während sie sich in dem Gedanken bestärkte, daß sie schwere Schuld auf sich laden würde, wenn sie in das Haus, das sich ihr gastfrei geöffnet hatte, Zwietracht trüge und den Sohn mit seinen Eltern entzweite, folgte sie in der That ganz andern, rein egoistischen Erwägungen; solche Selbsttäuschung ist selbst bei den Ehrlichsten unter uns Menschen nicht selten.

Endlich hatte sie den schnell voranschreitenden Etienne eingeholt.

»Warten Sie, ich gehe ja nicht für immer fort,« rief sie ihm zu und legte die Hand begütigend auf seinen Arm. »Die Familie Harris will im nächsten Winter nach Amerika zurückgehen; dann werden wir uns wiedersehen, und vielleicht weiß ich dann, ob ich Sie so liebe, wie eine Frau ihren künftigen Ehemann lieben muß, so, daß sie ihm alles zu opfern bereit ist.«

»Renée!« ließ sich da aus einiger Entfernung eine Stimme hören.

In dem Dickicht, das sie miteinander durchschritten, konnte man sich einem andern auf zehn Schritte nähern, ohne ihn gewahr zu werden.

»Es ist Cäcilie,« sagte Etienne,

»Renée, Renée!« erklang es wieder, nach den Stimmen zu urteilen, aus dem Munde von Frau Harris und Grace.

»Mein Gott,« rief Etienne, »sie kommen schon, um Sie zu holen.«

Er stand still, der Gedanke, daß ihnen nur noch wenige Minuten Zusammenseins vergönnt waren, machte ihn keck; die Beweise von Zuneigung, die mit dem abschlägigen Bescheid so seltsam verquickt waren, verwirrten ihn, so daß er, seiner Sinne nicht mächtig, Renée in aufwallender Leidenschaft mit beiden Armen umschlang.

»Sei es denn, ich werde warten,« rief er. »Aber lassen Sie mich Ihnen Ihren Kuß jetzt zurückgeben, den ersten und vielleicht den letzten.« Die Felsen traten hier so nahe zusammen, daß sie eine Art Engpaß, dessen Ausgang unsichtbar blieb, bildeten. Darüber wölbten sich Fichten und Tannen zu einem fast undurchdringbaren Dome ... in dem Schweigen hätte man das Klopfen beider Herzen bei diesem Kuß der Verzweiflung hören können. Renées Lippen bebten von tödlichem Schrecken. Sobald es ihr gelungen war, sich loszumachen, schrie sie, als ob sie um Hilfe riefe, mit brechender Stimme:

»Cäcilie, Grace!«

Endlich kam eine Antwort ganz aus der Nähe. Nur ein großer Felsblock hatte sie vor den Suchenden verborgen.

»Ihr hattet euch aber gut versteckt,« lachte ihnen Cäcilie entgegen. Da bemerkte sie die Erregung, das bleiche Gesicht ihres Bruders, und der in ihr aufsteigende Verdacht wurde Gewißheit, als Renée hastig zu Frau Harris sagte:

»Wenn Sie mich noch immer haben wollen, bin ich entschlossen, fest entschlossen, mit Ihnen abzureisen.«

Grace und Frau Harris tauschten einen Blick des Erstaunens; gewisse Anspielungen, die in einem Gespräch mit Cäcilie soeben gefallen waren, und die jetzt gemachte Entdeckung einer Zusammenkunft, die einem Stelldichein sehr ähnlich sah, hatten sie auf einen andern Ausgang vorbereitet.

»Ich habe, meiner Treu, keine schlechte Furcht ausgestanden,« sagte später Frau Loysel, nachdem sie Cäcilie geschickt zum Beichten gebracht hatte, »aber nun sind wir sicher. Es ist nicht zu hoffen, daß man Etienne jemals zur Vernunft bringen wird, aber dieses Gänschen macht das ganz und gar unnötig.«

So vergnügt Frau Loysel auch war, Renée los zu werden, so konnte sie ihr die unerhörte Unverschämtheit, die Hand ihres Sohnes auszuschlagen, doch nicht verzeihen. Allerdings hätte sie Renée das Gegenteil noch weit schwerer empfinden lassen.

»Das ist alles ganz schön und gut, aber ich werde erst aufatmen, wenn sie fort und über alle Berge ist,« meinte Herr Loysel und strich nachdenklich seinen Bart. »Wenn sie sich die Sache doch noch überlegte ...«

Der Abschied fiel sehr kühl aus. Etienne, der sich der Aufwallung schämte, zu der er sich durch den Schmerz, Renée zu verlieren, hatte hinreißen lassen, vermied von da an jedes Alleinsein mit ihr, und auch das junge Mädchen ging ihm, aus Scham oder Groll, aus dem Wege, Cäcilie hielt mit Mühe an sich, um ihrem Unwillen nicht Worte zu geben: wer Etienne verkannte und kränkte, war nicht mehr ihr Freund.

»Glückliche Reise,« rief Herr Loysel Renée in einem Tone zu, der nicht gerade den Wunsch einer glücklichen Rückkehr in sich schloß.

»Ich wünsche Ihnen, daß Sie in der Fremde alles nach Ihrem Wunsche finden mögen,« fügte Frau Loysel in ihrer doppelzüngigen Art hinzu.

»Vergessen Sie nicht ...«

Das waren Etiennes letzte Worte und er sprach sie in Gegenwart seiner ganzen Familie.

»Ich werde in Gedanken oft, oft bei Ihnen sein,« gab Renée unter Thränen zur Antwort.

Aber zu viele Augen ruhten forschend auf ihnen, sie tauschten kein weiteres Wort mehr miteinander aus.


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