Th. Bentzon
Die Heimkehr
Th. Bentzon

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XIV.

In der weiten Welt allein! Dieses Schicksal, das, besonders wenn es ein junges Mädchen betrifft, unser volles Mitleid herausfordert, wurde nach der Abreise der Familie Harris Renée zu teil.

Und dennoch brauchen wir sie nicht gar zu sehr zu beklagen; sie ging der Verwirklichung ihres Wunsches entgegen, und wer jemals in sich ein heißes, unbezwingliches und lang ersticktes Verlangen lebendig gefühlt hat, weiß, welche Wonne es mit sich bringt, ihm endlich nachgeben zu dürfen.

Renée hatte sich bei den alten Bocchini in einer engen Gasse hinter dem Scalatheater ein kleines, wenig behagliches Nest zurecht gemacht, dessen Dürftigkeit ihr weiter nicht auffiel, trotzdem das üppige Dasein, das sie kürzlich noch geteilt, ihr den größten Komfort zur Gewohnheit gemacht hatte.

Hier fand sie einen unschätzbaren Vorteil: Die Freiheit, die Möglichkeit zu arbeiten.

Arbeiten ist in der That in einer zu gesellschaftlichem Verkehr reizenden Umgebung, die dich mit Beschlag belegt, dich zu ihrem Sklaven macht und von dem Kampf, ohne den an einen Erfolg nicht zu denken ist, abwendet, unmöglich; die Luft, die man in diesen Kreisen atmet, schläfert die Willenskraft ein, verflüchtigt die Aufmerksamkeit und läßt einen gewissen Skepticismus aufkommen, der dich an deiner Kraft, an der Wichtigkeit des unternommenen Werkes, am Werte des Preises, dem du mit aller Mühe nachstrebst, zweifeln läßt.

Jetzt ereignete sich nichts mehr, was Renée hätte zerstreuen können; um sie herum dachte man wie sie selbst, an nichts als an seine Arbeit. Bocchini war Lehrer am Konservatorium, aus dem die Posta und so manche andre berühmte Künstlerinnen hervorgegangen waren; seine Frau, weniger bekannt und gesucht als er, gab Unterricht in der Kunst, vorzutragen. Renée lebte zwischen ihnen, haschte nach einem guten Rat und lauschte den Theatererinnerungen, die danach angethan waren, sie – und oft genug in einer nicht gerade erbaulichen Weise – über die wahrscheinlichen Vorkommnisse in ihrer künftigen Existenz aufzuklären; das alles war eine Vorbereitung, eine Schule, die den täglichen Unterricht, mit dem der Lehrer nicht knauserte, ergänzte. Dieser konnte, aus Interesse für seine Schülerin, anspruchsvoll, streng, ja brutal werden: es war das seine Art, Schülern, auf deren Erfolg er rechnete, seine Bevorzugung zu äußern. Höflichkeit und nichtssagende Ermutigungen sparte er sich für schöne Damen auf, die einer Laune folgend, singen und aus Eitelkeit sich damit brüsten wollten, den Unterricht eines Bocchini genossen zu haben; Renée aber verdiente etwas Besseres: der Lehrer fühlte, daß man dieser hochbegabten, tapferen Natur zu hohe Anforderungen nicht stellen konnte.

»Wenn ich zuschlage,« sagte er manchmal nach einer der häufigen zornigen Aufwallungen, »so thue ich es nur, weil ich sicher bin, Funken sprühen zu sehen.«

Übrigens konnte sie ja an seinem Wohlwollen, einen so rauhen Ausdruck er ihm auch bisweilen geben mochte, nicht zweifeln; jeder unbeschäftigte Augenblick war diesem jungen Mädchen gewidmet, das immer ruhig und immer zufrieden unter seinem Dache lebte, das er mit Tagesanbruch sich seinen Studien hingeben sah, um es bei seiner Heimkehr eifrig über Stimmübungen zu finden, ohne jemals Müdigkeit zu zeigen oder den Mut zu verlieren. Dieses zarte Geschöpf schien aus Intelligenz und Lerneifer zusammengesetzt zu sein; ebenso geduldig wie unerschrocken war sie die erste Schülerin, über die der alte Bocchini nie zu klagen hatte, daß sie sich seinem Unterricht vorzeitig zu entziehen und den Flug aus eigner Kraft zu wagen wünsche.

Und doch war ihr Leben alles weniger als bequem neben diesen beiden Künstler-Ruinen, die alle die Schwächen, alle die Wunderlichkeiten von Leuten ihres Berufes an sich hatten und über die ungemessene Gunst, die neuen Talenten zufiel, verbittert waren; sie verglichen diese, und natürlich nicht zu deren Vorteil, mit einem gewissen einst unwiderstehlichen Tenor und einer Tragödin, Königin an Schönheit, die der Lauf der Zeit dazu gebracht hatte, undankbare Schüler zum Vergnügen des treulosen Publikums heranzubilden. Ihre Unwissenheit in allem, was außerhalb der Sphäre des Theaters lag, war ebenso erstaunlich wie kläglich: Renée sah sich darauf angewiesen, in Gesellschaft zweier alter Kinder zu leben.

Zuweilen gab es außerdem kein Nachtessen; weder Ordnung, Pünktlichkeit, noch Reinlichkeit herrschten in dem Hausstand, da die Signora Bocchini sich schmeichelte, so prosaischen Kleinigkeiten nicht weniger gleichgültig als Medea oder Klytämnestra selbst gegenüberzustehen. Und doch war sie trotz des lächerlichen Flitterstaates, in den sie sich kleidete, und der Schminke, die sie sich nicht hatte abgewöhnen können, trotz ihres übertrieben feierlichen Einherschreitens und großartiger Gesten, die mit ihrer ziemlich gewöhnlichen Ausdrucksweise in schreiendem Widerspruche standen, eine prächtige Frau, eine wahre Sonntagskind-Natur, wie auch ihr Mann ebenso reich an Herz, wie arm an Gehirn war. Aber wenn auch Renée sie ehrte, wie nur eine eigne Tochter es hatte thun können, so fühlte sie doch bisweilen das Bedürfnis, sich in einem andern Kreise aufzufrischen.

Das Haus ihres Protektors stand ihr ja natürlich offen, und hier fand sie stets freundliche Aufnahme, aber der so zugängliche Mann der Gesellschaft, den sie in der Villa Serbelloni gekannt hatte, wo er die Sorgen und Ansprüche jener Art Königtums, die das Genie bekleidet, abgelegt, hatte seine Rolle wieder übernommen. Oberpriester einer Kunst, die ihn keine Muße mehr kennen ließ, hatte er stets einen Kreis von Bittstellern und Schmeichlern um sich, wenn auch seine Protektion, wie die aller Majestäten, wenig belangreich war. Für Renée übrigens war es von großem Nutzen, in diesem Heiligtum der Musik, wo sie sich im Sturm die Gunst der besten Mailänder Gesellschaft eroberte, bekannt zu werden; es hätte nur von ihr abgehangen, jetzt Einladungen, die ihr von allen Seiten zuströmten, anzunehmen; alle, die sie gehört hatten, wünschten ihren Verkehr, ihren Gesang in ihrem Hause. Bocchini riet ihr, diesem verderblichen Ansinnen fest zu widerstehen.

»Sie können etwas Besseres, als das verwöhnte Spielzeug einer Gesellschaftsklasse zu sein,« sagte er zu ihr, »Wenn Sie sich Ihre Stimme erhalten und ihr nicht schaden wollen, so hüten Sie sich, sie vorzeitig zu vergeuden; berauschen Sie sich nicht an wertlosen Schmeicheleien, sondern sparen Sie sich für einen Erfolg von ganz andrer Tragweite auf. Was nützt es Ihnen, im Salon in zwecklosem Glanze zu strahlen? Lassen Sie mich den Diamant vorerst nach meinem Guthalten schleifen – dann ziehen Sie aus, tadellos vom Scheitel bis zur Zehe wie Aschenbrödel aus der Hand ihrer Patin.«

Diese Patin, wohlverstanden, war Bocchini. Bocchini wollte, sie solle ihm alles verdanken, alles durch, nichts ohne ihn werden; trotzdem fehlte es seinem Rate nicht an Klugheit, und Renée befolgte ihn widerspruchslos.

Sie sah mehr als einen Vorteil darin, dem Entgegenkommen der hohen Gesellschaft auszuweichen: ihr schwarzes Kleidchen, das schon recht fadenscheinig geworden war, hätte schlecht in die glänzenden Gesellschaften, zu denen man sie lud, gepaßt, und trotz der freigebigen Anerbietungen, die ihr Frau Harris nochmals vor der Trennung gemacht hatte, war sie entschlossen, von dem wenigen, was sie ihr Eigen nannte, bis zu dem Augenblick zu leben, wo die Ströme Goldes, von denen Frau Loysel gesprochen hatte, ihr zu Füßen rollten. Ströme Goldes? Das Beispiel der Bocchini schien nicht zu einem Beweise angethan, daß man beim Theater Schätze erwirbt. Arm und zurückgezogen zu leben, war ihr neben ihrer Mutter zur Gewohnheit geworden, und sie litt nicht darunter; schmerzlich aber war ihr der gänzliche Mangel eines vertraulichen Verkehrs, war, daß sie die traurigen oder fröhlichen Erlebnisse ihres eignen nicht einem andern Herzen anvertrauen konnte.

Lily ging in der Wonne der Flitterwochen auf. Auch Grace, die, wie es wohl jedem ergeht, der nach langen Reisen in die Heimat zurückkehrt, über mancherlei Thun und Denken der Abwesenden nicht gedachte, vernachlässigte sie, und wenn sie selbst Cäcilien schrieb, war ihre Feder gebunden. Um sich keiner Lüge schuldig zu machen, konnte sie nur mit wenigen bedeutungslosen Worten, die über ihre eigne Person nichts enthüllen durften, auf die Nachrichten antworten, die Cäcilie ihr ohne Rückhalt oder Berechnung gab: Das Schloß Souvray, das kürzlich öffentlich versteigert wurde, war von Herrn Loysel gekauft worden; Etienne wollte es sich einrichten und sein Leben von dem seiner Eltern, die ganz begreiflich fanden, daß er sich ein eignes Heim wünschte, trennen; sein Einfluß im Kreise war im Wachsen begriffen; er wurde neuerdings ehrgeizig, und seine Wahl in den Landschafts-Rat war jetzt gesichert. Er stellte glückliche Versuche auf den Gütern an, deren Verwaltung sein Vater ihm überlassen hatte, und schickte dem Ackerbau-Institut Arbeiten ein, die von sich reden machten.

Renée folgerte hieraus, daß tausenderlei ehrbare, nützliche und interessante Dinge Etienne von seinen Erinnerungen abhielten; sie freute sich sogar dessen, denn sonst hätten sie Gewissensbisse darüber, bis zu einem gewissen Grade Mitwisserin von Frau Loysels Doppelspiel zu sein, bisweilen quälen müssen; sie wollte nicht einsehen, daß Etienne sein Ziel hatte wie sie ihres, daß er nur arbeitete, um sich in ihrer Wertschätzung zu erhöhen, daß er sich diese vollständige Unabhängigkeit nur gesichert hatte, um Renée zu bewegen, sie zu teilen. Und wäre ihr das alles mit unleugbarer Klarheit bewiesen worden, so würde sie sich daran zu glauben geweigert haben, aus einem Grunde, stichhaltiger als alle andern: weil sie diesen Zustand der Dinge nicht wünschte.

Sie hatte übrigens zu dieser Zeit an ganz anderes zu denken. Ihr Lehrer gab ihr eine Rolle in der Oper, die er einstudierte; eine ganz kleine freilich, sie hatte weiter nichts als eine Romanze zu singen, aber dieses Liedchen war trotz seiner Kleinheit eine der Perlen der Partitur. Endlich sollte sie zum erstenmale auftreten! In einer Sekunde war alles vergessen: achtzehn Monate strenger Arbeit, die Entbehrungen aller Art, ihr Alleinsein, die Vorwürfe, die aus gewissen Falten ihres Gewissens sich vernehmbar machten, das uneingestandene Bedürfnis nach liebender Zärtlichkeit, das sie zeitweilig auch Etienne wieder näher gebracht hatte.

Der Tag, an dem sie das Theater der Scala durch den Künstler-Eingang betrat, war der schönste ihres Lebens. Man hatte ihr oft geschildert, eine wie eisige Abkühlung die Einbildungskraft beim ersten Anblick eines Hauses empfängt, das trostlos leer und in jenes Halbdunkel gehüllt ist, das durch die Dachfenster fallendes Tageslicht kaum erhellt, während die Vorstellung ohne den Reiz der Dekorationen und Kostüme ihren Verlauf nimmt. Man hatte sie vorbereitet, daß sie an mancherlei Unschönem Anstoß nehmen würde, und sie kam soviel als möglich gegen Enttäuschung und Abscheu gewappnet. Sie empfand weder das eine noch das andre; der Vogel, der in weitem Flügelschlage den Luftraum durchstiegt, merkt nichts von mehr oder weniger schöner Aussicht oder Morästen, über die er sich schwingt. Er schwebt in den Lüften, singt, steigt zur Sonne hinauf und ist glücklich.

Das war auch Renées Gefühl, und aus diesem ätherischen Reiche sollte sie niemals hinabsteigen; sich in jede ihrer Rollen vollständig hineinlebend, gab sie sich dem Rausche von Musik und Wort mit Leib und Seele hin und verschloß gegen alles, was sie umgab, die Augen, oder wandte sich, wenn sie sich wirklich nicht am Sehen hindern konnte, sogleich mit der Art von Furcht ab, die den beschleicht, der mitten in einem schönen Traume merkt, daß er aufwachen wird. An diesem ersten Abend, ebenso wie an allen folgenden, verließ sie nie das Bewußtsein der Bühne, teilte sie dem Werke, in welchem sie, wie sie glaubte, nur wie ein Atom mitwirkte, die ganze Macht ihrer inneren Erregung mit. Mit kindlichem Vergnügen legte sie das Gewand eines Pagen an, das ihre Rolle erforderte und die seltene Gefälligkeit ihrer schmiegsamen, fast zu zierlichen Gestalt geschmackvoll hervorhob. In ein enges Wams gehüllt, ein Barett schief über das krause Haar gestülpt, glaubte sie, wie sie sich in einem Spiegel bemerkte, den Florentinischen Lautenspieler vor sich zu sehen, der den Ruf unsres großen Bildhauers Dubois begründet hat.

Wahrend die Ankleiderin, ohne daß Renée besondere Obacht gab, ihres Amtes waltete, warf sie einen flüchtigen Blick in einen Brief, der ihr beim Verlassen des Hauses gebracht und der von Etiennes Hand geschrieben war. Durch welches sonderbare Zusammentreffen schrieb er gerade an jenem Tage? Welche Vorahnung hatte es ihm sagen können? Ein Zufall, den man für ein magnetisches Eingreifen halten könnte, läßt manchmal im Augenblick eines entscheidenden Schrittes solche Hindernisse vor unsern Füßen sich erheben. Ohne sichtbare Veranlassung springt eine solche Warnung von einem Pol zum andern; Stimmen, die unsern Gedanken Antwort zu geben scheinen, rufen: Halt an! Am häufigsten erinnert man sich ihrer lange Zeit nachher, wenn es zu spät ist. Für Renée war es ein Tropfen Wermut im Becher der Freude; sie las die ersten Zeilen:

»Wie Sie selbst diese Prüfezeit verlängern, deren Dauer Sie auf ein Jahr festgesetzt hatten – ein nicht enden wollendes Jahr, aus dem nun bald zwei geworden sind. Was treiben Sie soweit von uns? Ihre Briefe lassen es uns nur unvollkommen ahnen. Sie arbeiten; Sie arbeiten soviel, daß Sie nicht eine Minute zum Schreiben finden. Sie sind gelehrt genug, glauben Sie mir: kehren Sie uns endlich zurück und nehmen Sie sich nach allen Ihren Wanderfahrten ein Beispiel an der Nachtigall, dieser großen Künstlerin, mit der Sie einmal gestatteten, Sie zu vergleichen; das ist ein kluges und ruhiges Tierchen, das dunkle Gebüsche den großen Wäldern vorzieht, Sängern andrer Art, als der seinen aus dem Wege geht, dem Ruhe und sicherer Schutz Not thut, und das in Verborgenheit neben dem lebt, den es liebt. Sie werden mir vielleicht wieder antworten, Sie liebten niemand, oder vielleicht, was tausendmal schlimmer wäre ... aber Sie haben mir ja verboten hieran zu denken ...«

Die Ankleidefrau bat Renée, den Arm zu heben, damit sie die Schnüre in ihre doppelfarbigen Ärmel ziehen könne; so, den Ansprüchen der Toilette nachgebend und wie eine Puppe ungeduldig sich um sich selbst drehend, überflog sie die folgenden Seiten:

»Habe ich es an Vertrauen fehlen lassen? Habe ich Sie mit einer Klage belästigt? Nein, Sie haben mich geduldiger und ergebener in mein Schicksal gesehen, als Sie erwarten konnten. Es kommt daher, weil auch ich Hindernisse aus dem Wege zu räumen hatte ... Ich will davon nichts gegen Sie erwähnen; vielleicht haben Sie sie nur zu sehr geahnt und sich in Ihren Entscheidungen dadurch beeinflussen lassen ...«

Die Stimme des Regisseurs ließ sich bereits hören, während der junge Page noch die letzten Worte in fliegender Hast las:

»Jetzt ist alles in Ordnung ... Tragen Sie niemand Böses nach ... Sie werden bei sich uneingeschränkte Gebieterin sein ... keinerlei Tyrannei zu ertragen haben ... Es hat mir am Herzen gelegen, diese Hauptsache durchaus klar zu stellen ehe ich Sie noch einmal bat ...«

»Auf die Bühne!«

Renée überlief ein Zittern bei dem Ruf; sie ließ die ungelegenen Beschwörungen des armen Etienne in ihr Kostüm gleiten, musterte sich mit den hastigen Worten: Wem gelten diese Worte? Das bin nicht ich mehr, durchaus nicht mehr! ein letztes Mal in dem Spiegel, warf sich mit den Fingerspitzen ein Küßchen der Ermutigung zu und trat fünf Minuten später ohne einen Gedanken an Etienne, gleich als wenn er nie existiert hätte, vor die Rampe. Schuldete sie sich nicht ihrem Lehrer, der darauf rechnete, daß sie ihm Ehre anthat, und dem Maestro, der ihr in der Schlacht, die geschlagen werden sollte, ihren Platz, war er auch noch so klein, angewiesen hatte? Desertieren, wenn es darauf ankam zu handeln, – welcher Gedanke!

Die Tapferkeit des kleinen Pagen setzte die Zuhörer in Erstaunen, entzückte sie; inmitten des großen Erfolges der Träger der Hauptrollen war sein in zweiter Linie stehender Erfolg darum nicht weniger unbestritten und impulsiv. Er verstand eine köstliche Strophe mit ebensoviel Geschmack wie Gefühl vorzutragen, und die Trägerin der Rolle errang sich ein für allemal ihren Kreditbrief als italienische Sängerin. Ja, dieser Vollklang war echtes Italienisch, und das junge Mädchen verfügte gleichzeitig über ganz und gar französische Feinheit der Auffassung und Anmut. Sie sah sehr hübsch aus, machte ihrem Kostüm Ehre, und als ihre Romanze noch zweimal verlangt war, als Bocchini sie hinter den Kulissen herzlich in seine Arme schloß, als der Komponist des mit Beifall überschütteten Werkes ihr vor aller Welt sagte: »Sie waren die Vollendung selbst!« da faßte sie festes Vertrauen zu sich und ahnte, daß sie eines Tages vielleicht dieser Primadonna gleich stehen könne, deren Hand soeben die ihrige ergriff, um sie dem begeisterten Publikum zuzuführen.

Ein Blumenregen ergoß sich über die Bretter. Lustig half sie beim Aufheben mit, obgleich sie wohl wußte, daß sie nicht ihr zu Liebe geworfen waren. Ihre Kameradinnen versicherten sie, um so wohlwollender als ihnen selbst der Erfolg noch keinen Abbruch that, daß ihre Romanze Furore mache.

Und die Musikkenner fragten sich: »Was halten Sie von diesem Wunder mit dem ausländischen Namen, der Schülerin Bocchinis?«

Erst beim Auskleiden, als Etiennes Brief ganz zerknittert zu Boden fiel, dachte sie an den langen, bitteren Kummer, den dem Schreiber ihr Vergnügen von heute abend verursachen würde. – Auch dieser Gedanke sollte sich in einem Rausche neuer, ganz unvorhergesehener Freuden verlieren. Ein leichter Unfall hatte eine beim Publikum sehr beliebte Sängerin von den Brettern zur Ruhe verbannt, und der Leiter des Skalatheaters machte ihr das ebenso gefährliche wie ehrenvolle Anerbieten, sie vorübergehend zu vertreten. In der Rolle Amines schlug die Debütantin jene, die sich geschmeichelt hatte, daß man Renée nicht ohne Murren und nur als Aushilfe gelten lassen würde, vollständig aus dem Felde.

Das Gedächtnis an die Vorgängerin hielt gegen die Frische dieser jungfräulichen Stimme, den Reiz dieser in ihrer Blüte stehenden Jugend, den natürlichen Ausdruck in ihrem wahren seelenvollen Spiele nicht Stand. Man spendete nicht mehr nur der glänzenden Schülerin Bocchinis Beifall, sondern der eigenartigen sympathischen Künstlerin, dem aufgehenden Stern, wie mehr als ein Prophet sagte: Der Christen!


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