Th. Bentzon
Die Heimkehr
Th. Bentzon

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XVI.

Etienne ging, ehe er nach Souvray zurückkehrte, einige Zeit auf Reisen; seine Familie konnte sich den Grund einer so langen Abwesenheit nicht mehr erklären.

»Wenn er überhaupt nicht wiederkäme?« sagte Herr Loysel zu seiner Frau in einer Angst, aus der grimmiger Zorn sprach; »das gäbe einen schönen Skandal! Was würde man nicht alles erfinden! Und was würde aus mir in meinen alten Tagen? Ein so guter Sohn, ein junger Mann, der sich schon heute einer solchen Stellung im Lande erfreut ... der uns Ehre machte ... der uns niemals eine Minute lang Grund zu Unzufriedenheit gegeben hat! Warum hat man ihn zum Äußersten getrieben? Es ist dein Fehler! Du hast wieder einmal zu geschickt sein wollen und derart manövriert, daß das Übel schließlich größer sein wird, als wenn wir jener Heirat zugestimmt hätten.«

»Du vergißt, daß du nicht davon sprechen hören wolltest,« antwortete Frau Loysel bissig.

»Meiner Seel! Ich bin ein vernünftiger Mensch, und welcher vernünftige Mensch hätte nicht vorerst Widerspruch erhoben? ... Aber Pflicht der Frau ist es, in Herzenssachen das Gefühl im Gegensatz zu den verständigen Erwägungen des Mannes zum Wort kommen zu lassen. Hättest du mich gebeten, daß ich unserm Sohn seiner Neigung zu folgen gestattete, so hätte ich mich vielleicht in seinen Unverstand gefunden und wir wären jetzt alle in größter Einigkeit bei einander, anstatt ...«

»Glaubst du, die Sache mache mir weniger Kummer als dir? Und hätte ich nicht auch das Recht, dir Vorwürfe zu machen? Du hast zugelassen, daß ich mich in die Bresche warf, daß ich in den Augen Etiennes alle Verantwortlichkeit trug ...«

»Bah, du hattest gerade nötig, geschoben zu werden. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, was du alles ausgeheckt hast. Ich hätte immer und immer wieder gesagt: ›Ich will nicht, ich mag nicht,‹ bis zu der Zeit, wo ich ihnen schließlich, des langen Haders müde, zugerufen hätte: ›Meinetwegen, heiratet euch, und laßt mich in Frieden!‹ Das wäre offen und ehrlich gehandelt, aber das ist nicht deine Art.«

»Ich habe den Dingen ihre Zeit lassen wollen, und es mir dabei viel Mühe kosten lassen – was ist mein Dank? Bittere Worte von meinem Gatten, der wie eine Wetterfahne hin und her schwankt, und der Zorn eines halsstarrigen Sohnes, der niemals einsehen wird, daß ich sein Bestes wollte. Wenn ich diese Kleine entfernen wollte ...«

»So geschah es, um bei dem schönen Resultate anzukommen, daß sie ihn schließlich einige hundert Meilen von uns an ihrer Seite behält? Gebe Gott, daß er sie uns zuführt, anstatt sie uns aufzunötigen, und daß ich, wer auch meine Schwiegertochter sei, nicht die Augen schließe, ohne Enkelchen zu haben, denen ich unser Haus lassen kann!«

So entfesselte sich unter dem väterlichen Dach die Zwietracht, die Vorwürfe häuften sich und wurden von beiden Seiten giftiger, bis Etienne, der in der Ferne seinen Kummer betäubt hatte, eines Morgens anscheinend sehr ruhig wieder eintraf. Cäcilie warf sich ihm, ohne ein Wort zu sprechen, an die Brust. Als Etienne das schmale, bleiche Gesicht seiner so zarten Schwester sah, das die Sorge um ihn noch hohler gemacht hatte, machte er sich Vorwürfe, in den Tagen ungebrochenen Schweigens, die sie im Gebet für ihn verbracht, nicht ihrer gedacht zu haben; seine Augen, bisher thränenlos, wurden feucht, er zog sie herzlich an sich, um ihr zu verstehen zu geben, daß ihre geduldige, unwandelbare Zuneigung die letzte Liebe war, die ihm auf dieser Welt geblieben.

Herr Loysel kam offenen Armes herbei.

»Da bist du endlich!« schrie er in einem Freudenrausch, und aufrichtig entschlossen, ihm, koste es, was es wolle, alles zuzugestehen, was ihn an seinen Herd fesseln, ihn an einem nochmaligen Ausreißen hindern könne. »Du kommst nicht allein, vermute ich? Wo ist sie?...«

»Ich komme allein,« gab Etienne ernst zur Antwort, »und ihr müßt euch damit abfinden, mich für immer allein zu sehen. Ihr habt es ja so gewollt! Möge der liebe Gott euch verzeihen!«

Er sah seine Mutter an, die den Kopf neigte.

»Wie ich ihn so sprechen hörte,« erzählte sie später, »fühlte ich einen eisigen Hauch bis ins Mark der Knochen, und es wurde mir klar, daß ich keinen Sohn mehr hatte.«

Und ihre Ahnung täuschte sie nicht, obgleich es Etienne niemals an aller schuldigen Ehrerbietung fehlen ließ, obwohl niemals eine Klage, ein Vorwurf, eine Anspielung auf das Vergangene gehört wurden, aus denen sie entnehmen konnte, daß er hinter ihre schlauen Umtriebe gekommen sei. Eine Wand, die sich nicht wegräumen ließ, trennte sie. Sich täglich an ihr zu stoßen, war ihre Strafe, – eine grausame Strafe, denn diese Mutter, befehlshaberisch und aller Ränke voll, liebte ihren Sohn leidenschaftlich. Wenn die Mittel und Wege, die sie eingeschlagen hatte, es an Redlichkeit fehlen ließen, so waren doch ihre Absichten gute. Ich habe zu seinem Besten gehandelt! Dieser Gedanke nistete sich in einem Winkel ihres beschränkten Gehirnes wie eine fixe Idee ein. Er war ungerecht, er war verrückt, das nicht zu verstehen. Aber allen ihren Gründen – die sie übrigens nicht wagte, laut werden zu lassen, denn die Zurückhaltung, die Kälte Etiennes flößten ihr ebensoviel Respekt ein, wie sie ihr Herz bluten machten – würde es nicht geglückt sein, ihr den Sohn zurückzugeben. Was sie auch that, er sah in ihr eine Feindin, die Feindin Renées.

»Sie hat ihn ohne Zweifel gegen mich aufgestachelt,« sagte sich Frau Loysel, die unfähig war, an die Verschwiegenheit und den Edelmut eines Menschen, der von ihr beleidigt war, zu glauben.

Was hätte sie nicht darum gegeben, zu wissen, was sich in Mailand zugetragen hatte! Aber Cäcilie hatte selbst nur wenige Einzelheiten von ihrem Bruder erfahren. Renée hätte eine so glänzende Stellung am Theater und wäre so glücklich, daß sie um nichts darauf verzichten möchte – das war alles.

»Ist es möglich?« rief Frau Loysel. »Und er trägt es ihr nicht nach? Er erlaubt sogar niemand anders, sie deshalb zu tadeln? Ich glaube, er ist verhext, auf mein Wort!«

Sie hätte ihn in allem Ernste dafür gehalten, wenn sie ihn nach einem reichlich wie immer zugemessenen Tagewerk abends in einem gewissen kleinen Zimmer vor einem zwar ziemlich schlechten, aber sehr ähnlichen Porträt Renées gesehen hätte – einem Porträt von Friedrich Buissons Hand, das heißt ein Bildnis, wie es nur ein Landschafter malen kann. Ohne Hoffnungen für die Zukunft ließ er, die Augen auf dieses dunkle, leidenschaftliche, eigenwillige Antlitz geheftet, langsam die Vergangenheit an sich vorübergleiten. Alle seine Erinnerungen waren so zu sagen dort hinter Schloß und Riegel, und er duldete nicht, daß sie die Schwelle dieses Kämmerleins überschritten, denn jedes Mal, wenn seine Schwester oder sein Freund Friedrich, der oft genug als Gast auf Souvray weilte, irgend eines Vorfalles, dem Renée beigewohnt hatte, gedenkend, aus Unachtsamkeit das Wort ›erinnerst du dich noch‹ fallen ließ, das so häufig in vertraulichen Gesprächen wiederkehrt, brachte er die Rede sofort auf etwas anderes. Sonst lebte er wie so viele andere, die eine unheilbare Wunde im Herzen tragen und sie in scheuer Schamhaftigkeit verbergen.

Er widmete sich seinen Interessen, wie denen seiner Nachbarn; erfreute sich an seinen ländlichen Arbeiten ebenso, wie an seinen Studien, ging wie früher auf die Jagd und ließ das Schloß, auf dem er in elegantem, aber trotz aller Gastfreundschaft einfachem Stile lebte, renovieren: er spielte weder den Grand Seigneur, noch folgte er im geringsten den Überlieferungen von mit Überhebung so sonderbar verquickter Knauserei, wie er es bei seinem Vater gesehen hatte. Man verehrte ihn in seinem Kreise, wo er mit ebensoviel Verstand wie wahrer Herzensgüte Gutes that, und in allen landwirtschaftlichen Fragen der Verfechter des Fortschritts war.

»Jetzt steht er auf der Höhe, auf der ich ihn zu sehen immer gewünscht habe,« sagte sich Vater Loysel, »aber sein Glück schlägt keine Wurzeln. Jetzt, wo unserem Geschlechte nichts fehlt, soll es verlöschen. Die Loysel haben den Platz der Souvray in allem, ja sogar in ihrem Schlosse eingenommen ... Welch prachtvolles Erbe für die nächste Generation ... für meine Enkel, wenn ich solche hätte! Aber ich werde keine haben, weil es Fräulein Christen beliebt, beim Theater zu bleiben. Meine arme Cäcilie hat kaum das Leben, mein Trotzkopf von Junge will als alter Junggeselle sterben. Mein Gott, was wird aus alledem!« rief Herr Loysel mit verzweifelter Gebärde nach den Feldern zeigend, die ihm gehörten, soweit das Auge reichte. »Wem wird eine der schönsten Besitzungen in der ganzen Provinz zufallen?«

Und die Zeit verrann, ohne etwas an dieser Lage zu bessern, im Gegenteil, es kam schlimmer. Nach Etienne verließ Cäcilie das elterliche Haus; ihre Eltern erlaubten ihr schließlich, ihrem Bruder die Wirtschaft zu führen.

»Bei einem Junggesellen,« hatte sie gesagt, »geht es ohne große Unordnung nicht ab. Da wir beide nun einmal fest entschlossen sind, uns niemals zu verheiraten, warum sollen wir nicht zusammenhalten? Wir werden so eine Art Pärchen abgeben, das besser als manches andre zusammenpaßt.« Die Frage guter häuslicher Verwaltung fiel bei den alten Loysel, die nichts so sehr scheuten als Vergeudung, sehr ins Gewicht; deshalb widersetzten sie sich, obgleich auf ihre Gegenwart verzichten für sie das Opfer ihrer letzten Freude bringen hieß, auch dem Wunsche des jungen Mädchens nicht zu sehr. Seitdem, mochte Cäcilie sich noch so sehr und mit gleicher Opferfreudigkeit zwischen dem väterlichen Hause und Souvray zerteilen, wurde der alte Pachthof, einst so lustig, so voll geräuschvoller Thätigkeit, zu einem wahren Eulennest, dessen stubenhockerische, wortkarge Bewohner in ihrer Vereinsamung nicht einmal den Trost gegenseitigen Verständnisses und guten Einvernehmens hatten. Die Wohlhabenheit atmenden Räume hatten ihr Aussehen vollständig geändert. Die Möbel verschwanden unter grauen Leinenhüllen, der Salon war fest verschlossen, Porzellan und Silberzeug ward keine Gelegenheit mehr, zu Ehren einer festlichen Mahlzeit aus den Schränken, die sie verbargen, herauszukommen. Herr und Frau Loysel verbrachten nun ihr Leben nach Art der Provinzler im Speisezimmer, das für ihr verdrießliches Beieinandersein noch zu geräumig war; dort zählten sie, sich den Rücken zudrehend und anscheinend die eine von ihrem Strickstrumpf, der andre von seiner Zeitung ganz in Anspruch genommen, die Minuten der langen Winterabende, nicht, ohne in langen Zwischenräumen ein bissiges oder brummiges Wort zu wechseln.

Nichts war im Gegenteil behaglicher, rührender, zärtlicher, als das Zusammenleben Etiennes und Cäciliens. Es floß in der ungestörten Ruhe dahin, die nur in der reinsten Selbstlosigkeit ihre Quelle hat: in der Selbstlosigkeit geschwisterlicher Liebe; aber die Zärtlichkeit zwischen Bruder und Schwester ist noch stärker, noch vollständiger, als die zweier Brüder zu einander; sie hat alle Arten nur ihr eigner, unbeschreiblicher Schattierungen, in denen die Verschiedenheit des Geschlechtes aufgeht.

Cäcilie hatte nicht nur die Ordnung und nützliche Aufsicht einer Hausfrau nach Souvray gebracht; es hatte genügt, daß sie sich an diesem Herde niederließ, um die Einsamkeit und die bitteren Betrachtungen von ihm zu verjagen. Ihrerseits fand sie hier eine Aufgabe, die vor allem einem weiblichen Herzen teuer ist: einem stärkeren Wesen als sie seine Last tragen zu helfen, sie ihm beinahe leicht zu machen. Die Wunden, die sie mit zarter Hand pflegte, vernarbten mehr und mehr und machten einer Ergebung, die leicht für Vergessen genommen wird, Platz.


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