Th. Bentzon
Die Heimkehr
Th. Bentzon

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XII.

Frau Harris und ihre Familie, Herr von Cerdon einbegriffen, verbrachten den letzten Monat ihres italienischen Aufenthaltes in Bellaggio, als ein Unglück auf dem See, das mehrere Opfer forderte und zwei Familien an den Rand des Elends brachte, den Pfarrer der Gemeinde, einen ebenso mildthätigen wie musikliebenden Herrn, bewog eine musikalische Festlichkeit zu Nutzen der armen Hinterbliebenen zu veranstalten. Zu diesem Zwecke wandte er sich an die Freigebigkeit und den guten Willen der zahlreichen Fremden, die sich in jener Zeit im Hotel Serbelloni eingefunden hatten, und niemand verweigerte ein Almosen, sei es in Gold, oder in der Ausübung seines Talentes.

In Bellaggio und den benachbarten, nicht weniger zahlreich besuchten Dörfern verbreitete sich schnell das Gerücht, daß ein Kirchenkonzert von Künstlern und mit schönen Stimmen begabten Dilettanten gesungen werden würde, und an dem angesetzten Sonntag füllte eine ungezählte Menge Neugieriger wie Andächtiger die geweihten Räume. Renée hatte ihre Beihilfe an dem mildthätigen Werke mit Freuden angeboten. Als die ersten Strophen einer Hymne an die Jungfrau Maria sich von ihren Lippen lösten, mit einer Fülle, einer Reinheit, einer Gefühlsinnigkeit, die dem Ohre schmeichelten und die Herzen schneller schlagen machten, erhob ein Mann neben dem Orgelchore, dessen Anwesenheit den guten Pfarrer von Bellaggio in höchste Freude versetzt hatte, das Haupt mit dem Ausdruck des lebhaftesten Interesses. Es war der Komponist der Musik, die sie sang, in eigner Person, der berühmte Maestro X, der, während ganz Europa seiner letzten Oper Beifall spendete, Mailand verlassen und diese paradiesische Gegend aufgesucht hatte, um sich von seinem angestrengten Arbeiten, das seiner Gesundheit zugesetzt hatte, zu erholen.

»Was für ein bestrickender Vortrag! Welche Leidenschaft!« flüsterte er seiner Frau zu, die neben ihm saß.

Und dann lauschte er wieder mit wachsender Aufmerksamkeit, hie und da nicht ohne Mühe einen Applaus unterdrückend, der ihm schon in den Händen saß. Nachdem die letzten Töne verklungen, sagte er unter der Kirchenthür zu dem Pfarrer:

»Sie dürfen wohl zufrieden sein. Aber wer sang denn das Ave Regina?« Und der glückliche Pfarrer belehrte ihn, es sei eine junge Französin, die in der Villa Serbelloni wohne. »So, so. Aber da wohne ich auch. Wie mag das zugehen, daß ich sie nicht bereits kenne!«

»Fräulein Christen hat Trauer,« erklärte der Pfarrer, »und ohne diese unglückliche Veranlassung hätte sie auch nicht eingewilligt, sich hören zu lassen.«

»Fräulein Christen? Der Name steht nicht auf der Fremdenliste. Versteckt sie sich denn? Ich werde sie schon finden, denn ich muß ihr Glück wünschen.«

»Das junge Mädchen wird, glaube ich, in Gesellschaft wenig bemerkt. Sie ist Erzieherin oder Gesellschafterin zweier Amerikanerinnen, die auch Ihnen vielleicht aufgefallen sind; wenigstens erfreuen sie sich allgemeiner Bewunderung.«

»Jetzt verstehe ich! Sie ist anonym unter der Rubrik: ›Mistreß Harris mit Familie und Begleitung‹. Nun, ich müßte mich sehr täuschen, oder die Kleine wird bekannt sein, sobald es ihr so beliebt.«

Der Komponist war seit seiner Ankunft von der Schönheit der Fräulein Harris gefesselt und hatte schon mehrere Male mit der Zwanglosigkeit, die ein Aufenthalt unter gleichem Dache begünstigt, ein Gespräch mit ihnen gesucht; aber ihre Freundin, bescheiden wie sie war und stets geneigt, den abendlichen Festlichkeiten zu entfliehen und sich auf ihr Zimmer zu flüchten, war wie natürlich seiner Aufmerksamkeit entgangen.

Aber noch am gleichen Tage beim Diner, wo er sich eines Platzes neben ihr versicherte, fragte sich der Maestro, wie es möglich war, daß er sie nicht bemerkt hatte. Sie hatte in der That eines der Gesichter, die innere Bewegung, Freude, Erfolg, tausendmal entzückender machen können, als die, welche stets die gleiche Schönheit zur Schau tragen, ohne daß seelische Eindrücke daran irgend welchen Anteil hätten. Sie hatte soeben mit einem Eifer gesungen, der noch ihre Adern fiebern ließ; sie war von einem Auditorium von Kennern gefeiert und beglückwünscht worden, und jetzt geruhte der Gott, den sie von fern in furchtsamer Verehrung angestaunt hatte, sich ihr zu nähern! Wie er ihre Hand zwischen die seinen nahm und ihr wiederholte: »Ich verdanke Ihnen einen unvergeßlichen Genuß!« fühlte sie sich einer Ohnmacht nahe. Ihre Aufregung, ihre Blässe entgingen dem großen Manne keineswegs; er sah, welchen Eindruck er auf sie machte, und, ein so großer Mann er auch war, konnte er nicht umhin, sich geschmeichelt zu fühlen.

Dieser naive Beifall, der seinem Genie gezollt wurde, ließ das Wohlwollen, das er ihr entgegenbrachte, nur noch wachsen. Bei dem Abendessen brachte er das Gespräch oft auf ihre persönlichen Verhältnisse mit einer Wißbegier, die ihr, von irgend einer andern Seite kommend, wenig schicklich erschienen wäre, sie aber, da sie von einem so berühmten Manne ausgingen, stolz machte.

Die Gemahlin des Meisters, eine ältere Dame von behaglicher Körperfülle, schloß sich den Erkundigungen ihres Gatten mit echt italienischer, liebenswürdiger Freimütigkeit an und fragte sie schließlich geradezu, warum sie sich nicht ausschließlich der Musik widme in der Absicht, einmal auf die Bühne zu gehen.

»O, das ist ihr liebster Traum!« rief Grace Harris, die dem Gespräche mit Interesse gefolgt war, eifrig. »Wenigstens hast du mir das so manches Mal gesagt,« fügte sie hinzu, als sie eine erschrockene Gebärde ihrer Freundin bemerkte.

»Schön, das werden wir heute abend sehen!« meinte der Maestro lächelnd. Ein Schleier legte sich über Renées Augen. Heute abend? Wonach wollte er sie fragen, was für sie entscheiden? Sollten die unklugen Worte Graces hinreichen, sie eine Laufbahn einschlagen zu lassen, die sie lockte und gleichzeitig erschreckte? Was würde ihre Mutter dazu gesagt haben? Was würde Etienne dazu sagen? Ja, auch an Etienne dachte sie und glaubte ihn rufen zu hören: »Halt ein! ... Erinnere dich! ... Hast du mir nicht versprochen, heimzukehren?« War es möglich, daß die Pforten des Gefängnisses, das ihre Künstlerneigungen gefangen gehalten hatte, sich plötzlich öffneten, wie sie es sich so lange und so heiß gewünscht hatte? Weshalb zitterte sie denn? Weshalb fühlte sie sich geneigt, die ihr angebotene Freiheit auszuschlagen? Wie wenig folgerichtig sie doch zu handeln verstand! ...

Bis zum Ende der Mahlzeit stand sie ihrem Nachbar nur mit kurzen Worten Rede und Antwort; dieser, bei dem Thema Musik angekommen, erzählte die Schicksale seiner eignen Werke, wie um sie einzuladen, ihm den Weihrauch zu spenden, der ihm zum Leben notwendig geworden war und mit dem ihn seine Frau nicht zum wenigsten beräucherte. An die banalsten Schmeicheleien gewöhnt, konnte er doch nie genug von ihnen haben, wenn er sie auch mit Nachlässigkeit entgegenzunehmen schien. Vielleicht verstimmte ihn das zerstreute Stillschweigen des jungen Mädchens; denn nachdem er alle anwesenden Damen damit aufgebracht hatte, daß er sich ausschließlich mit Renée beschäftigte, verließ er sie in beinahe schroffer Form.

Aber Renée klangen noch seine Worte im Ohr: »das werden wir heute abend sehen.« In der Ungewißheit, was die nächsten Stunden bringen sollten, wagte sie nicht, wie es sonst ihre Gewohnheit war, frühzeitig ihr Zimmer aufzusuchen. Die Verlobten tauschten wie gewöhnlich in einem Winkel zärtliche Schwüre, während Frau Harris mit ihrer älteren Tochter an den allgemeinen Gesprächen teil nahm, die von Spielen aller Art und einem Tänzchen nach den Klängen des Flügels unterbrochen wurden. An diesem Abend verweilte sie an Graces Seite im Salon, lauschte ohne doch recht zu hören dem, was um sie herum gesprochen wurde, und vertiefte sich mehr und mehr in die in ihr ringenden Gedanken. Alle ihre alten Wünsche, die der Gehorsam niedergehalten hatte, waren mit einem Schlage lebendig geworden; und doch dachte sie, wie es ihr seither niemals in den Sinn gekommen war, an jenen Morgen im Walde, an dem Etienne sie angefleht hatte, sein Weib zu werden.

Damals war sie nicht davor zurückgeschreckt, ihm Schmerz zu bereiten – das warf sie sich vor. Wenn sie es noch einmal erleben müßte, hatte sie vielleicht nicht den Mut dazu gefunden. Wenigstens würde sie ihm die Gründe ihres Wegganges eingestanden haben, Gründe, die ihr Pflicht und Würde eingaben und welche die dem Schein nach harte Form ihrer Absage gemildert hätten. Plötzlich berührte eine Hand sie leicht an der Schulter, und sie sah den Meister vor sich, der sich schon eine Zeitlang mit Grace Harris im Flüstertone unterhalten hatte:

»Wäre es Ihnen gefällig, zu mir zu kommen? Hier würden uns alle diese gleichgültigen Menschen stören. Antworten Sie mir nicht, Sie hätten Furcht ... kommen Sie!«

Sie fühlte, wie Grace leise den Arm in den ihren legte und sie fortzog; aus dem Salon, der in Kerzenschimmer strahlte, trat sie in das gedämpfte Licht eines Zimmers, auf dessen Schwelle sie die Gemahlin des Meisters mit ihrem guten Lächeln empfing. Der Mann, der so unversehens ihr Schicksal in die Hand nahm, geleitete sie zu einem Flügel und sagte:

»Hier nehmen Sie Platz und singen Sie etwas anderes als Kirchenmusik.«

»Mut!« flüsterte Grace, sich zu ihrem Ohre neigend; »jetzt entscheidet es sich.«

Also Grace war im Komplott!

Da gewann sie die Herrschaft über sich. »Sei es denn!« dachte sie. »Das Schicksal nimmt mich bei der Hand – ich muß ihm folgen.«

Sie sang, was sie konnte und der Zufall ihr eingab. Der Meister hörte aufmerksam zu, ohne seine Meinung zu äußern, machte hin und wieder auf diesen oder jenen Fehler aufmerksam, urteilte und kritisierte, ohne über seine schließliche Ansicht etwas erraten zu lassen. Endlich näherte er sich ihr und sagte:

»Ich hatte mich nicht getäuscht ... die Zahl der Frauen ist klein, denen ich frisch darauf loszugehen geraten habe, wenn es sich um eine Laufbahn handelte, die die schönste sein kann – oder die elendeste von allen, je nach dem Werte derjenigen, die sie wählt. Nun glauben Sie mir ... wagen Sie! Ich bin keiner musikalischen Begabung begegnet, die mehr verspräche; ihre Stimme besitzt eine wundervolle Größe, schönen Timbre und Mannigfaltigkeit in der Klangfarbe von mächtigem Effekt; sie hat bereits ihre Lage. Der Unterricht, den Sie genossen haben, war gut, und wenn Ihnen auch noch viel zu lernen bleibt, so werden Sie wenigstens nichts zu verlernen haben. Sie haben Bühnenvortrag; ohne daß Sie sich dessen bewußt sind, zeigt Ihr Antlitz stets das Gefühl, das Sie selbst bewegen muß, um es dem Publikum mitzuteilen. Nur die Geläufigkeit läßt zu wünschen übrig – aber das ist Sache der Übung, Ich weiß, in welche Hände ich Sie gebe ... dank diesem Lehrer sind Sie vielleicht in sechs Monaten nur zu geschickt. Vor allem bleiben Sie gewissenhaft, und ich stehe für alles ein.«

»Du denkst sie Bocchini als Schülerin zu empfehlen?« fragte seine Frau, während Renée auf den Flügel gestützt, wie träumend, zuhörte.

»Ja, er ist ein ausgezeichneter Lehrer und ein ausgezeichneter Mensch. Während sie bei ihm arbeitet, wird sie selbst Stunden geben können.«

»O, mein Herr, glauben Sie denn wirklich? ...«

»Daß es Ihnen gelingen wird? ... Dazu bedarf es nur eines einjährigen Studiums in glücklich gewählter Umgebung, in Mailand, wo Sie uns wiedersehen und wir uns freuen werden, Sie zu empfangen.«

»Wie soll ich Ihnen danken! Niemals vergesse ich diesen Abend!«

»Bah, Sie werden größere erleben ... und eines Tages werde ich Ihnen zu danken haben, wenn Sie meine Bühnenmusik ebensogut singen werden, wie Sie in der Kirche sangen. Wenn die Zeit kommt, ein Engagement für Sie zu suchen, so können Sie auf mich rechnen. Übrigens werde ich Ihre Fortschritte verfolgen – ich werde Sie nicht aus dem Auge verlieren ...«

»Und vielleicht entschließt sich Bocchini, Sie in Pension zu nehmen,« fügte Frau X. hinzu, die, das Reich des Idealen ihrem Mann überlassend, niemals ihre Domäne, die Küchentöpfe, außer Acht ließ. »Dort hätten Sie eine anständige Unterkunft; freilich sind sie, er und seine Frau, darauf angewiesen, sehr bescheiden zu leben, denn trotz der Erfolge, die beide zu ihrer Zeit beim Theater gehabt haben, verstanden sich die guten Leute nie auf Ersparnisse.« »Das allerbescheidenste Leben sagt mir gerade am meisten zu; aber ehe wir auf Einzelheiten eingehen, werden auch Sie es für richtig halten, nicht wahr? daß ich meine Freunde zu Rate ziehe; ich bin nicht unabhängig.«

Renée konnte nicht umhin, an den schrecklichen Eindruck zu denken, den die Vorschläge des Meisters inmitten der Familie Loysel hervorrufen würden. Sie sah den Unwillen ihres Vormundes, den verächtlichen Zorn von Frau Loysel, das traurige Erstaunen Cäciliens vor sich, am meisten aber den Schmerz Etiennes, und dies letzte Bild war es, das sie nicht zu ertragen vermochte.


 << zurück weiter >>