Th. Bentzon
Die Heimkehr
Th. Bentzon

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III.

Seit jenem Morgen entwickelte sich zwischen den Bewohnern des Schlosses Souvray und der Familie Etiennes bald das beste Einverständnis. Acht Tage später sah die alte Farm, die jetzt in ein imposantes, von einer überdachten Auffahrt verschöntes Wohnhaus umgebaut war, die ganze Familie Harris zum Mittagsmahl bei sich.

Die Wirtschaftsgebäude von beträchtlicher Ausdehnung verschwanden samt Obst- und Gemüsegärten hinter einer prächtigen Eichenschonung, die wie ein Stehschirm das Angenehme vom Nützlichen schied. Von diesem Hintergrunde tiefgrünen Blätterschmuckes hob sich das Haus sehr vorteilhaft ab; vor ihm breitete sich ein nach englischer Sitte kurz gehaltener Rasenplatz aus, der von einer mit leuchtendem Kies bestreuten Fahrallee umsäumt war. Hier und da hatte die Kunst des Landschaftgärtners dicke Bosquets von Azalien und Rhododendron angebracht. Frau Loysel bildete sich auf diese elegante Dekoration und nicht weniger auf ihre durchaus moderne Zimmerausstattung viel ein. Das war doch etwas anderes als auf Souvray!

»Ich glaube nicht, daß diese Ausländer bei sich zu Hause etwas Großartigeres aufzuweisen haben,« hatte sie selbstgefällig zu ihrem Manne gesagt, »und mit der Bewirtung trete ich mit jedermann in die Schranken.«

Frau Loysel besaß in der That ein ererbtes Genie für alles, was Küche heißt. Die beschränkteste Stallmagd gestaltete sich unter ihren Händen zur vollendeten Kochkünstlerin. Ihr »Mittagessen ohne Umstände« – so war ausdrücklich geladen worden – übertraf denn auch an Quantität und Qualität alles, was selbst Gäste, die mit den lukullischen Gepflogenheiten auf dem Lande vertraut sind, hätten erwarten können.

Die Fräulein Harris fragten sich im stillen, während sie nach Art eleganter Damen ihres Landes den Speisen und Getränken mit großer Mäßigung zusprachen, ob dieser Aufmarsch von Gerichten, eines ausgesuchter als das andre, und von Weinen der edelsten Sorten jemals ein Ende nähme.

»Bei so schwachem Appetit begreife ich, daß Sie eine so schlanke Taille haben!« bemerkte Frau Loysel mehrfach.

Der ästhetische Wuchs der jungen Ausländerinnen kränkte die gute Frau Loysel in ihrem mütterlichen Stolze; zudem hatten Grace und Lilian zu dem Willkommensmahl Toiletten angelegt, in deren Nachbarschaft Cäciliens Robe ungeachtet ihres Pariser Ursprungs nicht bestehen konnte, und darüber hatte sich Frau Loysel vom ersten Augenblicke an geärgert.

»Sie haben sich viel zu schön gemacht!« hatte sie bei der Begrüßung geäußert. Worauf diese erstaunt erwidert hatten:

»Diese Kleider tragen wir ja nur auf Reisen und auf dem Lande.«

Augenscheinlich waren sie an solche Eleganz gewöhnt und machten kein Wesens davon, kritisierten aber ebenso wenig die Erscheinung andrer. Sie hielten es für einen Beweis von gutem Geschmack, daß Cäcilie, die von der Natur recht stiefmütterlich bedacht worden war, ein sehr einfaches Kleid angelegt hatte, und fanden Renée in ihrem bescheidenen geblümten Baumwollkleidchen sehr gut und vornehm aussehend. Renée ihrerseits betrachtete sie neidlos, ja voll lebhafter Bewunderung; sie hatte für Schönheit, in welcher Form sie ihr auch entgegentrat, das Auge und Herz eines Künstlers.

Cäciliens Gefühle waren weniger einfacher Natur: man hatte Fräulein Lilian einen der jungen Maler aus dem Walde von Fontainebleau zum Tischnachbar gegeben, und sie mußte zu ihrem großen Kummer erleben, daß Friedrich Buisson noch niemals einen solchen Diensteifer entwickelt hatte. Nicht daß sie den Anspruch erhob, ihm für etwas anderes als für einen guten Kameraden zu gelten – dazu hatte sie eine zu geringe Meinung von sich selbst – aber sie hatte seither die Qual noch nicht gefühlt, die ein Mädchen, und wäre es das anspruchsloseste der Welt, empfindet, wenn es den Mann, den es heimlich jedem andern vorzieht, sich um die Gunst einer andern bewerben sieht. Und Fräulein Lilian war so hübsch, bei aller Naivetät so herausfordernd! Da sie von den Speisen nur kostete, ließ sie ihrem so gut aussehenden Nachbar nicht eine Sekunde Ruhe, während dieser seinerseits die köstlichsten Leckerbissen unberührt abtragen ließ. Über dem echt amerikanischen Augenduell und Lächeln vergaß er sogar, von gewissen kleinen Kuchen zu nehmen, die Cäcilie stets eigenhändig zubereitete, wenn sie ihn unter den Tischgästen wußte, und das arme, gekränkte Kind hatte Mühe, eine Thräne zu verschlucken.

Fräulein Grace teilte ihre Aufmerksamkeit zwischen Etienne und Renée, die ihrerseits dem jungen Jefferson, der sich vorläufig hinter ungerechten Vorurteilen gegen junge Französinnen verschanzt hielt, nur brockenweise ein paar Worte abnötigen konnte. Da diese Heimchen am Herde stets eine Stickerei in der Hand hatten und nicht aus dem Hause herauskämen, meinte der junge Amerikaner, müßten sie unfähig sein, einen jungen Mann zu begreifen.

Frau Loysel widmete sich einzig und allein den tausenderlei kleinen Sorgen, die die Frau des Hauses bei so feierlichen Gelegenheiten in Aufregung zu halten pflegen, während Herr Loysel sich bemühte, Frau Harris, die zu seiner Rechten saß, durch allerlei Aufmerksamkeiten, mit denen er die Dame überhäufte, eine richtige Idee von der sprichwörtlichen Galanterie der Franzosen zu geben. Der Gedanke, daß diese ausgezeichnete, mit dem Gebühren einer Fürstin auftretende Frau einem republikanischen Lande angehöre, in dem Standesunterschiede nicht existieren, die Überzeugung, in ihren Augen das gleiche wie ein Marquis von Souvray zu sein, machten sein Herz vor Vergnügen schwellen. In Wahrheit war Frau Harris, geborene Robinson, ebenso stolz darauf, von einer alten Familie abzustammen, die im Jahre 1620 unter Miles Standish eine Ansiedelung am Massachusetts gegründet hatte, als nur eine Fürstin der alten Welt auf ihren Rang stolz sein kann. Von einem kolossalen Vermögen bestochen, wie manche Fürstinnen, hatte sie Herrn Harris die Hand zur Ehe gereicht, der dem fernen Westen entstammte und ein selbstgemachter Mann war – was ihn übrigens, wie sie sagte, nie gehindert hatte, Gentleman zu sein wie kein zweiter.

Für Frau Harris war Herr Loysel derselbe Gentleman, der aufgeklärte, unabhängige, seine Stellung ganz ausfüllende Staatsbürger, der sich durch sein Vermögen, seine unbedingte Ehrbarkeit, die opulente Führung seines Haushaltes und sein ganzes Auftreten ein sicher begründetes Übergewicht über seinesgleichen erworben hatte. Sie fand die Mischung von ungezwungener Würde, von humorverquickter Herrschsucht, von gesundem Menschenverstand und Selbstbeherrschung – der die öffentliche Meinung damit gerecht wurde, daß sie von dem reich gewordenen Grundbesitzer sagte, »der Vater Loysel stehe fest in seinen Schuhen« – ganz nach ihrem Geschmack.

»Square and round,« so faßte Frau Harris im Tone der höchsten Anerkennung später ihr Urteil über Herrn Loysel zusammen.

Er erzählte ihr während der Tafel, wie er das Erbe des Barons von Souvray, heute gestorben und verdorben, im ganzen Umkreise angetreten habe. Es hätte so kommen müssen, jede neue Epoche verlange neue Menschen; der verarmte, in der Vergangenheit fußende grand seigneur habe in unsrer heutigen Gesellschaft jede Existenzberechtigung verloren.

»So pfropfte Herr von Souvray zum Beispiel die Taschen aller Taugenichtse der Umgegend mit Almosen voll,« erklärte Herr Wilhelm Loysel, »Ich gebe allen, die arbeiten wollen, Gelegenheit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ein Versuch, ihm von der Zukunft der Landwirtschaft, die so innig mit den Fortschritten im Handel und Wandel und den Naturwissenschaften verknüpft ist, einen kleinen Begriff zu geben, wäre vergebliche Mühe gewesen. Er bestellte seine Ländereien, wie seine Vorfahren es zur Zeit der Kreuzzüge gewohnt waren. Und dann muß man ja zum Betriebe der Landwirtschaft im Großen über bedeutende Mittel verfügen .... ich arbeite mit dem Neuesten auf dem Gebiete der Maschinentechnik, in meinen Ställen stehen nur ausgesuchte Exemplare der besten und teuersten Rassen, für Dünger wird vor keiner Ausgabe zurückgescheut. Wenn man wie mein Sohn Chemie studiert hat, haftet man nicht am alten Schema, wahrend dieser arme Baron von einem bedauerlichen Eigensinn war – im großen natürlich wie im kleinen. Der Regierung machte er systematische Opposition, in der allein sich heute noch die Macht der Leute seiner Kaste äußert. Ich bin ein eifriger Anhänger des Fortschritts; deshalb brauche ich nur zu wollen, und mein Wirkungskreis erweitert sich. Indessen will ich mit der Politik nichts zu thun haben, wenn ich mich auch des Wohlwollens von Männern aller Richtungen erfreue. Diese bedauernswerten Souvrays, Neffen meines verstorbenen Nachbarn, die heute über die ganze Welt zerstreut sind und sich gewiß kümmerlich genug durchhelfen, lassen mir denn auch Gerechtigkeit werden und rechnen auf meine Gefälligkeit für die Verwaltung des Restes ihrer Habe. Sie selbst wissen ja, meine verehrte Frau, wie ich mich Ihnen, als Sie das Schloß mieten wollten, zu Diensten gestellt habe. Es ist nicht meine Schuld, daß in den letzten zehn und mehr Jahren niemand von der Baracke etwas wissen wollte, und ich habe, unter uns gesagt, für das, was der Baron mir schließlich schuldig blieb, meine Ansprüche niemals geltend gemacht. Mein Gott, eine Kleinigkeit! Aber ich erzähle Ihnen das alles, um Ihnen zu beweisen, daß in Frankreich der Reichtum und in seinem Gefolge der Einfluß in andre Hände übergegangen ist. Unser Land ist ebenso demokratisch oder fast ebenso wie das Ihre.«

Frau Harris, sich nachlässig ihres Fächers bedienend, meinte, daß alle Länder der Welt nichts Besseres thun könnten, als Amerikas Beispiel zu folgen. Sie wundere sich nur, daß Herr Loysel, wie er gesagt hätte, der Politik aus dem Wege ginge, anstatt sein Licht im Kongreß ... nein ... im Abgeordnetenhause leuchten zu lassen.

»Diese Aufgabe überlasse ich meinem Sohne,« erwiderte Herr Loysel. »Ich wäre, im Vertrauen gesagt, keineswegs erstaunt, wenn das rote Bändchen der Ehrenlegion bald sein Knopfloch schmückte, denn obgleich seine Mutter sagt, Etienne sei ein Bauer, so gehört er doch zu den Menschen, die in allem, was sie ergreifen, sich auszeichnen.«

Die Amerikanerin hatte mit ungeheucheltem Erstaunen zugehört und meinte lächelnd: »Bändchen! Die kennen wir bei uns zu Lande nicht, d. h. bei uns haben die Damen das Monopol für solchen Firlefanz.«

»Sie haben mich, glaube ich, nicht verstanden,« fing Herr Loysel schwerfällig zu erklären an, und er wäre auf die Vorteile, die die Dekoration mit dem Orden der Ehrenlegion mit sich bringt, näher eingegangen und hätte so den Ruf, gesunden Menschenverstand zu besitzen, den ihm Frau Harris soeben zuerkannt hatte, schwer geschädigt, wenn nicht seine Frau soeben das Zeichen zum Aufheben der Tafel gegeben hätte. Da ein leichter Regenfall den Aufenthalt im Garten verbot, verbrachte man den ganzen Abend im Salon mit Musizieren.

Die Fräulein Harris waren sehr gespannt, Renée Christen zu hören.

Sie sang, ohne sich nötigen zu lassen, zuerst ein Kirchenlied von Porpora auf italienisch mit wohlthuender Lieblichkeit, dann schlug sie eine Partitur von Mozart auf. Alles lauschte atemlos. Ihre schöne, ebenso volle als klare Stimme machte die zartesten Saiten der Seele erzittern und nahm den Hörer mit Gewalt gefangen; sie besaß bereits jene Schmiegsamkeit der Stimme, die nur durch unausgesetztes Studieren zu erwerben ist. Was aber am meisten in Erstaunen setzte, war die Tiefe der Auffassung, das feine Verständnis für die zarteste Schattierung und, wo es angebracht war, ein dramatischer Ausdruck, der bei einem so jungen Mädchen überraschen mußte.

Unbeweglich dastehend, das Antlitz den Hörern zugewandt – die sie nicht sah, denn ihr gegen die Außenwelt verschlossenes Auge schien in weiter Ferne die Einflüsterung ihres Genius zu suchen – war Renée nicht wieder zu erkennen. Die Flamme, die die leidenschaftliche Liebe zu ihrer Kunst in ihr angefacht hatte, durchleuchtete jede Linie ihres Gesichtes gleich schimmerndem Alabaster. Die Augen erschienen größer und düsterer, jeder Zug ihres Antlitzes verschönt, wie idealisiert. Während dieser Augenblicke waren die hübschen Erscheinungen, die sie umgaben und sie bis jetzt so vollständig in den Hintergrund gerückt hatten, ihrerseits in Schatten gestellt; die kleine Nachtigall machte alle die schimmernden Paradiesvögel zu schanden.

Ohne sich lange zu besinnen, lief Lily, als das Lied beendet war, auf die Sängerin zu und küßte sie herzlich.

»Sie haben diesen tadellosen Vortrag unmöglich aus der Pension mitgebracht!« rief Frau Harris. »Sie verfügten gewiß über prächtige Stimmmittel, wer hat Sie aber gelehrt, sie so zu verwerten?«

»Wir hatten auch in Saint Denis vorzügliche Lehrer, aber andre und kostbarere Lehrstunden habe ich hier in nächster Nahe gefunden.« Und sie erzählte', wie sie alles, was sie könne, einer berühmten Sängerin verdanke. Diese, seit langer Zeit von der Bühne abgetreten, verlebe einen Teil des Jahres in Fontainebleau, und dort habe sie die Künstlerin gelegentlich getroffen. Die Dame habe großes Interesse an ihr genommen und sei ihr mit Rat und That zur Seite gestanden. Renée verschwieg, daß es der Wunsch der Exdiva gewesen war, sie als eine ihrer würdige Schülerin für die Oper auszubilden. Über diesen heikelen Punkt bewahrte sie stets kluges Schweigen, da sie sich nur zu gut der Ausdrücke heftigsten Unwillens seitens der Frau Loysel erinnerte, als sie eines Tages voll begeisterter Hoffnung heimgekommen war, welche die Prophezeiung ihrer Lehrerin: »Sie werden, wenn Sie wollen, alles sein, was ich selbst einst war!« in ihr entflammt hatte.

Daraufhin waren die Stunden unter einem Vorwand abgebrochen, und diese Entscheidung, die in bester Absicht zu Renées Wohl getroffen wurde, blieb der geheime Kummer in Renées Jugend. Damals war ihr zu Mute gewesen, als schneide man ihr Luft und Sonne ab.

Frau Harris erinnerte sich der Sängerin früher, als ihr Stern schon im Verbleichen gewesen war, bei einem ersten Aufenthalt in Europa Beifall gespendet zu haben; sie hatte viele große Künstlerinnen gehört und erzählte von der Patti, der Nilsson und andern. Renée lauschte gespannten Ohres, Von allen Freuden der Welt lockte sie nur eine, diese aber über alles Beschreiben: die Freude an der Musik eines Mozart, Meyerbeer oder Rossini, wie eine Künstlerin sie vorträgt. »Wer weiß, ob Fräulein Christen nicht eines Tages die Rivalin der Sterne, die du eben nanntest, sein wird, Mama!« warf Fräulein Grace ein, »und ob sie nicht, nachdem sie sich überall mit Ruhm bedeckt hat, auch einmal nach Amerika kommen wird, um eine reiche Dollarernte einzuheimsen.«

Bei diesen Worten, die im natürlichsten Ton der Welt gesagt waren, als' 'ob eine solche Zukunft nur Ehre und Ruhm bedeute, überzog Renées Gesicht eine glühende Röte, und aus ihren Augen sprach eine plötzliche Furcht, in das sich ein Aufleuchten der Freude, endlich einmal Verständnis zu finden, mischte.

Auch Cäcilie erschrak. Es schien ihr, als habe man ihre Freundin beleidigt, wenn man glaubte, sie dürfe sich jemals auf einer Bühne zeigen. Hatte ihre Mutter nicht stets in ihrer Gegenwart gesagt, daß das für eine Frau die tiefste Erniedrigung sei?

Etienne hatte sich Renée in instinktivem Drange genähert, wie um sie vor drohender Gefahr zu schützen.

»Sie sprechen im Scherz,« sagte Frau Loysel gezwungen lächelnd.

»Weshalb? Ich sagte nichts als meine aufrichtige Ansicht und hoffe, daß ich Recht behalten möchte.«

Glücklicherweise machte Friedrich Buisson, der seine Geige geholt hatte, um mit Cäcilie eine Sonate vorzutragen, dem allgemeinen Unbehagen ein Ende. Dann unterfing sich Fräulein Lily, die durch Anhören der Sonate auf den Gefrierpunkt gefallene Stimmung zu erwärmen; sie setzte sich ans Klavier, bat um allgemeine Nachsicht und trug mit einem unbedeutenden Stimmchen, aber mit solch komischem Mienenspiel, daß man ihren Gesang darüber vergaß, ein paar englische Lieder vor. Damit war der Nationalstolz angeregt. Nun war es an Friedrich und Renée, aus der Fülle der alten französischen Lieder zu schöpfen, und Rundgesänge und Romanzen, Balladen und Volkslieder folgten sich in bunter Abwechselung bis zu dem Augenblicke, wo man Frau Harris meldete, daß der Wagen warte. Ein erstauntes, bedauerndes: Schon? entfloh aller Lippen, Man verabschiedete sich unter oftmaligem Versprechen, sich bald wieder zu sehen und auch an Friedrich Buisson erging, seinem heißen Wunsche entgegenkommend, die Bitte, sich auf Schloß Souvray einzufinden. Renée nahm die Einladung mit zurückzufahren an, ihr war seit lange nicht so leicht ums Herz gewesen.

»Meine Mutter schläft noch nicht,« sagte sie, auf den matten Lichtschein deutend, der aus einem Fenster ihres Häuschens drang. »Ich werde ihr vor dem Einschlafen noch viel erzählen müssen.«

»Sagen Sie Ihrer Frau Mutter vor allem, daß ich ihr demnächst Glück zu einer solchen Tochter wünschen werde, wie Sie es sind,« erwiderte Frau Harris liebenswürdig. »Was für ein interessantes Mädchen!« entschlüpfte es ihr, als sich die kleine Gartenthür hinter Renée geschlossen hatte.

»Und so bescheiden!« fügte Grace hinzu. »Komplimente scheinen sie ganz zu verwirren, sie findet keine Antwort darauf. Fräulein Loysel erklärte es mir: sie fühlt, was sie singt, mit solcher Innigkeit, daß es ihr, wenn sie zu Ende ist, schwer fällt, sich sogleich in ihrer Umgebung wieder zurecht zu finden.«

»Cäcilie scheint ihr wie eine Schwester zugethan zu sein,« rief Lily, »und der junge Mann ist augenscheinlich bis über die Ohren in sie verliebt!«

»Welcher junge Mann?« rief Grace. »Du meinst doch nicht Herrn Buisson? Den hattest du ja von erster Minute mit Beschlag belegt.«

»Lily kann selbstverständlich keinem Manne in den Weg kommen, ohne sich sofort Mühe zu geben, ihn um seine Vernunft zu bringen,« brummte Jefferson übellaunig,

»Mühe zu geben! Welche Zumutung! Man kommt darum, ohne daß ich mich anzustrengen brauchte, Master Jeff.«

»Zuerst ging's ja noch mit ihm, später wurde er einfach blöde und es war nichts mehr mit ihm anzufangen. Aber Etienne Loysel wird sich hoffentlich nicht in deinen Netzen fangen, der wenigstens kümmert sich nicht um dich.«

»Weil er sein Teil schon hat. Ist das ein großes Verdienst, für niemand andres Augen zu haben, wenn man bereits verliebt ist? Grace kokettiert auch nicht mehr, seit sie ihren Bräutigam hat!«

»Kann man denn nicht Liebe und Courmachen, auch ohne verlobt zu sein, beiseite lassen? Schade um die Zeit. Aber Mädchen haben nichts anderes im Kopfe.«

»So, nur die Mädchen? Weshalb versteckte denn Herr Etienne sein Gesicht, so lange Renée sang! Und wie er den Kopf erhob, hatte er Thränen in den Augen.«

»Die reine Einbildung,« rief Jeff, mit den Achseln zuckend. »Ich habe von alledem nichts bemerkt.« »Weil du dich auch hattest hinreißen lassen!« triumphierte Lily.

»Ich?«

»Gewiß, und weil ich dich darüber ertappt habe, ereiferst du dich so.«

»Ich ereifere mich über nichts,« gab Jeff mit beneidenswertem Stoizismus zur Antwort, der ihn indes nicht hinderte, bis unter die Haarwurzeln zu erröten. »Ich lache über eure Liebeleien und euer Schönthun, wie es sich für einen Mann geziemt. Schade ist es nur, daß ihr mir meine Kameraden verderbt – aber das ist ihre Sache, ich werde auch ohne sie fertig.«

Jeff prahlte. Obgleich er nicht müde wurde, gegen Lilys unerträgliches Kokettieren zu eifern, sah er sich doch bald in den Strudel von Vergnügungen gezogen, die seine Schwestern veranlaßten und denen sich Etienne und sein Freund Friedrich mit Eifer widmeten.

Während eines ganzen langen Sommers und weit hinein in den Herbst hallten durch den Wald von Fontainebleau das Lachen, Plaudern und die Spiele einer übermütigen Gesellschaft, die sich unter seinem Blätterdache lustig wie die phantastischen Personen im Sommernachtstraum umhertummelten; vor ihnen flüchtete die Einsamkeit, ihre ausgelassene Freude belebte die melancholischesten Waldpartien. Man veranstaltete Ausflüge aller Art, heute, wenn es entferntere Punkte zu erreichen galt, im Wagen, morgen zu Fuß in die Gründe des Hochwaldes, wohin Grace ihre Staffelei hatte schaffen lassen, um mit Friedrich Buisson zu malen. Er konnte bei ihr zwar kein Talent entdecken, hütete sich jedoch wohlweislich, sie zu entmutigen.

In weitem Umkreise vernahm man die frohlockenden Rufe beim Haselnußsuchen, in die sich Lilys Klagelieder mischten, deren hohe Absätze in dem tiefen Sande versanken, wenn sie Arme voll Heidekraut herbeitrug. Im Schatten von Riesenbuchen, über deren silberfarbene Stämme die Sonnenstrahlen gleich Pfeilen durch das dicke Laubdach hindurchblitzten, nahm man einen Imbiß ein; der Platz, auf dem ehemals französische Könige sich am Mailspiel ergötzten, sah endlose Croquetpartien; der klassische Zwei-Schwestern-Felsen, der schon so oft Pinsel und Farbstift in Bewegung gesetzt, wurde von Friedrich Buisson ein weiteres Mal auf die Leinwand gebannt, verschönt durch die Gruppe des Schwesternpaares Harris. Alle Zickzackwege in den Schluchten von Apremont sahen die sieben lustigen Gefährten im Gänsemarsch vorbei wandern, bereit, sich trotz Sonne oder Regen an allem zu erfreuen und wenn ein triftiger Grund nicht vorlag, aus vollem Halse über die anspruchsvollen Namen zu lachen, mit denen ein Waldgott neuester Art jede Grotte, jeden Hügel, jeden Kreuzweg und Granitblock belegt hat. Die Echos in der desceule d'orphée erinnern sich noch der prachtvollen Stimme Renées seit dem Tage, wo sie eine Glucksche Melodie auf den Lippen, in weite Shawls drapiert und einen Blätterkranz im Haar, feierlichen Schrittes aus der Tiefe stieg.

Auch Friedrich erntete sein Teil Beifall damit, daß er Atelierscherze, die wohlverstanden »zum Gebrauch für junge Leute beiderlei Geschlechts« sorgfältig revidiert waren, zum Besten gab. Dazwischen wurde Ruhe geboten, um Etienne, dem Gelehrten der Gesellschaft, zu lauschen, wenn er die Erdumwälzungen, die dieses Chaos von Felsen hervorgebracht haben, zu erklären versuchte.

Die jungen Amerikanerinnen waren ja an Großartigkeit der Natur in ihrem Vaterlande gewöhnt – den Wald von Fontainebleau fanden sie aber romantisch; sie liebten ihn um so mehr, als jeder Besuch, den sie ihm abstatteten, ein erneuter Vorwand war, um mit ihren neuen Freunden zusammen zu sein. Man begnügte sich bei den langen Nachmittagsausflügen, die zumeist in einem auf dem Schloß gemeinschaftlich eingenommenen Abendbrot endeten, ja nicht mit Malen, Croquetspielen oder einem Imbiß im grünen Moose; die leichte Erregbarkeit der Jugend trug ihr Teil bei, diese so unschuldigen Vergnügungen zu würzen. Lily übte die Kunst zu flirten ein wenig nach allen Seiten; sie belustigte sich ebenso damit, dem armen Friedrich den Kopf zu verdrehen, wie sie sich, ohne Zweifel aus Mitgefühl, bemühte, Etienne von seiner tieferen Neigung, der er sich gänzlich hingab, etwas abzulenken. Grace und Renée, welche die wärmste Freundschaft fast ohne ihr Zuthun aneinander gefesselt hatte, konnten sich im Austauschen ihrer Gedanken und Wünsche nicht genug thun. In Cäciliens Herz stritten geteilte Gefühle: der Kummer unbewußt erwachter Eifersucht, die weibliche Genugthuung darüber, Friedrich ein wenig unglücklich zu wissen und die Freude, ihres Bruders Leidenschaft für ihre geliebte Renée, an deren Erwiderung sie nicht zweifeln wollte, wachsen zu sehen.

Alle diese unberührten Seelen erbebten unter Gefühlen der Freude, ohne sich von ihnen Rechenschaft zu geben – der Hoffnung, ohne ihr Grenzen zu ziehen – und vorübergehender Schmerzen, welche die Poesie des Frühlings in unserm Leben ausmachen, eines Frühlings, so kurz wie der im Kreislauf der Jahreszeiten und wie dieser gebadet in Sonne, mit aufziehenden Gewittern im Gefolge.

Wie manche andre Illusionen hat dieser uralte Wald in seinem Duft und seiner Frische mit seinen weichstimmenden Abenddämmerungen und seinem geheimnisvollen, sanften Flüstern schon entstehen und wachsen sehen; er erweckt und wirb immer, wie auch das Erwachen sei, solche Träume wecken!

Unter unsern Freunden wirkten diese Tage am nachhaltigsten auf ein Herz ein, das die Trunkenheit tiefer eingesogen hatte als alle andern – auf das Herz von Etienne Loysel.


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