Th. Bentzon
Die Heimkehr
Th. Bentzon

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XV.

Eines Abends gab Renée die Sonnambula; die fünf Logenreihen waren mit aufmerksamen Zuhörern besetzt, die Unterhaltungen, die sonst in allen den kleinen Salons, wo schöne Frauen, der Mode huldigend, Besuche empfangen, oft über den Beginn der Vorstellung hinaus geführt werden, waren, sobald der neue Abgott sich gezeigt hatte, wie durch einen Zauber verstummt. Unter ihrem weißen Gewande, das sich ihrem Körper wie von Künstlerhand geordnet anschmiegte, nach dem Vorbild der Rachel von geradezu poetischer Schönheit, sang sie eben die Kantilene: Come per me sereno mit einer trotz aller Feinheiten so großen Sicherheit, daß Bocchini im Parkett sich vor Freude kaum zu fassen wußte, als ihre Stimme plötzlich eine Schwäche verriet; sie schwankte auf den Füßen, tastete mit den Händen nach einer Stütze ... Dann brachte sie sich mit beinahe übermenschlicher Anstrengung wieder unter ihren Willen und sang das Stück zu Ende. Ihre Kolleginnen merkten aber, wie bleich sie war und wie sie mit vor Schreck weitgeöffneten Augen nach einem Punkt im Saale starrte, wie um jemand dort zu suchen. Nein, er war verschwunden ... Die Erscheinung, die sie so heftig erschüttert hatte, hatte sich verflüchtigt, vielleicht war sie auch außer in ihrer Einbildung nirgends zu finden.

Etienne in Mailand! ... Immerhin wäre daran nichts gar so Auffälliges gewesen. Vor wenigen Tagen erst hatte sie sich genötigt gesehen, ihm zu antworten:

»Ich werde nicht zurückkommen ... ich gehöre mir nicht mehr ... geben Sie alle Hoffnung auf ...«

Diese grausamen Worte waren natürlich mit allem, was sie mildern konnte, umkleidet – aber der, der ihnen, ohne es sich eingestehen zu wollen, vielleicht seit lange entgegen sah, hätte doch verstehen müssen ...

Was wollte er in Mailand? Sich vergewissern über das Unglück, das ihn betraf? Versuchen, sie umzustimmen? Sie zum Zeugen seiner Verzweiflung aufrufen?

Sie fragte sich, ob sie die Kraft haben würde, dem als Rächer Erscheinenden gegenüberzutreten, als Bocchini derb an ihre Logenthür klopfte: »Was war dir plötzlich zugestoßen? Und was zitterst du jetzt noch, wie wenn Fieber dich schüttelte?« fragte er brummig. »Wahrhaftig, du hast den Augenblick, krank zu werden, gut gewählt!«

Sie gab ihm zur Antwort, daß eine Art Schwindel sie überfallen hätte, sie fühle sich jedoch wohler, und ihr Lehrer erzählte ihr, um sie zu ermutigen, einige heroische Züge großer Schauspieler, die ihre Rolle, obgleich sie Martern ausstanden, zu Ende geführt, ohne daß das Publikum etwas gemerkt hatte.

»Ich, der ich mit dir spreche, habe mir eines Abends, während ich in Cosi fan tutti sang, den Fuß verstaucht. Glaubst du, daß ich den Ferrando darunter habe leiden lassen? Im Gegenteil, er war munterer als je und sang Un auro amorosa, wie wenn er wahrhaftig nur Gedanken an seine Liebe im Kopfe hatte – und doch corpo del diavolo! ...

»Beruhigen Sie sich, ich werde aus meiner Migräne nicht mehr Wesens machen, als Sie aus Ihrem verrenkten Fuß,« meinte Renée lächelnd. Aber es kostete sie doch nicht wenig Anstrengung, in dem leichten Tone zu antworten und vor allem wieder auf der Bühne zu erscheinen. Sie war so sichtlich zerstreut, ihre Blicke tauchten mit solcher Ängstlichkeit in die Tiefen einer gewissen Loge, daß die Statistinnen um sie herum sich Beobachtungen über den Einfluß des bösen Blickes zuflüsterten. Jedenfalls weilte ein jellatore im Saale. Etienne, wenn es wirklich Etienne war, erschien nicht wieder auf dem Platze, auf dem sie ihn zu bemerken geglaubt hatte, und ihre Sicherheit nach und nach wieder gewinnend, führte sie ihre Rolle wie gewöhnlich glänzend zu Ende.

»Ohne Zweifel werde ich mich durch eine Ähnlichkeit haben täuschen lassen,« sagte sie sich. »Ich war nicht bei ganz klarem Kopf ... seitdem mein Brief abgegangen ist, denke ich in der That zuviel an den Eindruck, den er hat hervorbringen müssen. Daher jene Hallucination ...«

Daß Etienne sich in den folgenden Tagen nicht mehr zeigte, trug dazu bei, sie in diesem Glauben zu bestärken. Wäre er in Mailand gewesen, so hätte er sie doch sehen, mit ihr sprechen wollen und wäre es nur, um seinen Unwillen über sie auszugießen ... Sie hatte geträumt, weiter nichts!

Und doch erschrak sie über jedes Läuten an ihrer Thür und sobald sie ausging, bemächtigte sich ihrer die fixe Idee einer neuen Begegnung. Und diese Begegnung fand statt und zwar nicht bei trügerischem Abendlichte, sondern unter greller Morgensonne in der neben dem Theater hinlaufenden Contrada di San Giuseppe, in dem Augenblick, als sie aus einer Probe kam. Und diesmal war kein Zweifel mehr möglich.

»Etienne!« rief sie.

Er hatte versucht, ihr zu entschlüpfen, indem er sich in den Schatten einer Arkade flüchtete; wie er sich aber rufen hörte, schien er sich darein zu finden und kam ihr mit festem Tritt entgegen. Traurig reichte er ihr die Hand.

»Etienne!« wiederholte sie. »Sie waren es also doch neulich abend in der Skala?« ...

»Ich war es,« antwortete er, »und Gott weiß, daß ich seitdem eine Begegnung nicht gesucht habe. Ich wollte unverzüglich zurückreisen, habe mich aber von der Luft, die Sie einatmen, nicht so schnell losreißen können. Ich war feige. Aber Sie von meinem Hiersein wissen zu lassen, nein, daran habe ich nie gedacht ... Wozu auch?«

»Dennoch,« flüsterte sie, »waren Sie gekommen ...«

»Ja, ich war in der Hoffnung gekommen, daß es noch zeitig genug sein möchte, um Sie zurückzuhalten, um Ihnen zu sagen – alles das, was ich nicht mehr aussprechen werde. Dies Plakat, dieses scheußliche Theater-Plakat war das erste, was mir bei der Ankunft in die Augen siel. Ohne zu wissen weshalb, war ich gerade darauf los gegangen ... Es hat mir mit einem Schlage klar gemacht, daß alles aus war. Denn zwischen uns ist doch alles zu Ende?« wiederholte er in fragendem, fast flehendem Tone.

»Meine Freundschaft für Sie, meine Dankbarkeit werden niemals enden,« sagte Renée und trocknete eine schwere Thräne, die ihr über die Wangen rollte, »und niemals werde ich mir Ihren Kummer, dessen Ursache ich bin, verzeihen ... Aber den Gedanken, was das Leben ohne diese Freude am Singen für mich sein würde, kann ich nicht ertragen. Lieber möchte ich sterben, als auf sie verzichten.«

»Ich begreife,« sagte er, »ich habe neulich abend im Theater bereits alles begriffen, wo ich nicht die Kraft hatte, bis zum Ende auszuhalten, obgleich mir meine Marter schon ein Jahrhundert zu wären schien. Man kann von einer Königin nicht verlangen, abzudanken. Was kümmert sie die Liebe, die Treue und Ergebenheit eines Einzelnen? Sie herrscht über alle ... Sie sehen, ich bin jetzt ruhig, ich kann wieder denken; aber nichts kann sich dem, was ich beim Eintreten in dieses Theater empfunden habe, vergleichen, wo die Menge, an Ihren Lippen hängend, von jeder Erregung durchschauert war, die es Ihnen ihr aufzunötigen beliebte: zuerst eine brennende Eifersucht, wie wenn ich mit eignen Augen Sie sich preisgeben gesehen hätte ... Nein, Sie waren es nicht, die ich sah, es war eine ganz andre Renée, durch eine unübersteigbare Kluft von mir getrennt! ... Meine Gedanken verwirrten sich, ich hatte eine Erscheinung, als ob Sie tot wären und Ihr Schatten mir gekrönt, durchgeistigt, ganz in Licht gebadet erschiene. Und sind Sie in der That nicht für mich tot? Mir die Ohren zuhaltend, stürmte ich hinaus – ich hörte Sie noch immer. Ich habe Sie ununterbrochen in dem Fieber, das mich drei Tage lang an mein Zimmer hier in der Nähe fesselte, gehört ...«

»Sie waren krank? ... Gewiß, wie bleich Sie noch sind! Verzeihung, mein armer Etienne! Wie Sie mich nun hassen müssen! ...«

Sie wollte ihn zu Vorwürfen veranlassen, wollte, daß er sich hart, unerbittlich, heftig gegen sie zeige; soviel Güte trotz aller Trauer beschämte sie, drückte sie zu Boden.

»Sie hassen?« wiederholte er erstaunt, »weil Sie Ihrem Instinkt gefolgt sind und wie ein Vogel, der seiner Natur gehorchend, singt und davonfliegt, Ihre Schwingen ausbreiteten? ... Ich weiß, wer an dem allen der wirklich Schuldige ist – man richtet, man verurteilt nicht seine eigne Mutter ... Und ist sie sich über das Übel, das sie anrichtete, ganz klar geworden? Alte Leute glauben, Liebe sei nicht von Dauer, und Jugend vermöchte stets, sich zu trösten.«

»Und vielleicht haben sie recht,« sagte Renée. »Auch ich will mir den Glauben retten, um noch mein Leben etwas genießen zu können,«

»So sei es; vergessen Sie alles, was ich selbst Ihnen verzeihe. Ich hatte mir geschworen, Sie glücklich zu machen, diesen Schwur kann ich nur halten, wenn ich Ihnen aus dem Wege gehe und Sie dem, was Sie lieben, Ihrer Kunst und dem Erfolge überlasse. Halten Sie mich nicht länger zurück. Leben Sie wohl!«

Mit beiden zitternden Händen hielt sie seinen Arm umschlungen:

»Ich lasse Sie nicht abreisen, bevor wir uns nicht besser ausgesprochen haben, als es hier auf der Straße, wo alle Welt uns sieht, möglich ist. Kommen Sie, ich möchte noch einmal von meiner Mutter erzählen hören und zwar aus Ihrem Munde. Schlagen Sie mir es nicht ab, Etienne!«

Zuerst weigerte er sich, weigerte sich hartnäckig, schließlich ließ ihn das Bedürfnis, sie noch wenige Minuten länger zu sehen, nachgeben. Er folgte ihr. Im letzten Stock des Bocchinischen Hauses bewohnte sie, seitdem ihr Engagement abgeschlossen war, allein mit einer Dienerin eine Reihe von Zimmern, deren Geräumigkeit und in Italien übliche Höhe sie nur um so öder und ärmer aussehen ließen. Etienne, der ihr auf dem Fuße folgte, sah sich mit klopfenden Herzen darin um: ein Flügel, wenige Stühle, ein Tisch, auf dem die zahlreichen Zeitungen, die ihr täglich Lob spendeten, drunter und drüber aufgehäuft lagen, zwei oder drei halbverwelkte Bouquets, das war alles.

»Sie finden meine Unterkunft nicht sehr schön,« sagte sie, »dies ist aber nicht meine wahre Wohnung! In Wirklichkeit lebe ich in einem Palast, in einem der größten und prächtigsten Theater Italiens, Europas; hierher komme ich nur, um meine Rollen zu studieren und zu schlafen. Die Schwelle dieser Klause wird nie von jemand überschritten,« fügte sie mit liebenswürdigem Lächeln, wie um ihm zu zeigen, daß er sich einer Gunst erfreue, hinzu. Etienne verharrte in traurigem Schweigen.

»Lassen Sie mich einmal Sie in aller Muße ansehen,« fuhr sie fort, »Ich finde Sie verändert ... ja, veränderter als ich es sein kann, was Sie auch sagen.«

»Auf der Bühne sind Sie nicht mehr dieselbe; aber hier finde ich die Renée wieder; Sie tragen ohne Zweifel zwei Personen in sich,« meinte Etienne, sie auch seinerseits mit gespannter Aufmerksamkeit prüfend.

»Das ist, was alle Welt von mir sagt ... meine Bewunderer sind, vermute ich nicht wenig enttäuscht, sobald sie mich aus der Nähe sehen,« versetzte Renée mit einer Sorglosigkeit, die dafür sprach, daß sie nicht kokett geworden war.

»Ich selbst muß gealtert sein,« fing Etienne wieder an.

»Nein, das ist es nicht ...«

In Wahrheit, das edle Gesicht Etienne Loysels hatte einen männlicheren Ausdruck bekommen, der es noch verschönte; seine Züge standen wie in festerer Prägung; die jugendliche Beweglichkeit, die sie früher durchleuchtete, hatte den ausdrucksvolleren Schatten, die der Gedanke hinterläßt, Platz gemacht und sein noch junges aber schon so trauriges Gesicht noch veredelt. Hinter der Kraft des Körpers, die er stets besessen, ahnte man eine nicht minder starke Kraft der Seele. Auch er hatte große Fortschritte gemacht. Freilich ganz andrer Natur als die Renées: während sie sich zu einer glänzenden Sängerin entpuppte, war er in aller Kraft und Hoheit des Wortes zum Manne geworden.

Die Thränen in den Augen des jungen Mädchens waren noch nicht trocken, Etienne noch immer tödlich blaß, und doch machte sich in beiden eine Art Ruhe geltend, die sich in der Krisis, die sie durchmachten, ohne ihr Zuthun eingestellt hatte und ihnen beinahe wie früher von Dingen, die mit ihrer jetzigen Lage nichts gemein hatten, zu sprechen erlaubte. So vergißt man am Krankenbett, daß der Tod in drohender Nähe lauert, um sich für einen Augenblick der Freude hinzugeben darüber, daß man lebt. Sie sprachen von Souvray, wo Etienne jetzt seinen Wohnsitz aufgeschlagen und alles und jedes nach deren Geschmack, die er einst hierher heimzuführen gedachte, eingerichtet hatte und von Cäcilie, die ihr Bruder in einer unaussprechlichen Angst verlassen hatte; für sie wie für ihn wäre Renées letzter Brief ein Rätsel gewesen, hätte Frau Loysel sich nicht entschlossen, mit einem Worte die Lösung zu geben: »Ihre Theatergrillen werden sie wieder gefaßt haben. Ich wette, deswegen ist sie in Mailand geblieben.«

»Wie?« rief Renée. »Ihre Mutter hat sich begnügt zu vermuten ...?« Aus Furcht zu viel zu verraten und entschlossen, diese doppelzüngige und bis ins Innerste falsche Frau nicht noch mehr in den Augen ihres Sohnes herabzusetzen, hielt sie ein.

»Und eine solche Vermutung reichte hin, mich zur Abreise zu bewegen,« sagte Etienne. »Noch an demselben Abend war ich nach Italien unterwegs, überzeugt, daß es sich nur darum handle, einen unsinnigen Plan zu bekämpfen, während ich mich an der vollzogenen Thatsache zerschmettern sollte, O Renée! ...«

»Ich hätte früher gesprochen,« sagte sie auf seinen vorwurfsvollen Ton hin, »wenn Umstände, die ich verheimlichen muß, mich nicht zu der Verstellung, die mir schwer ankam, gezwungen hätten.«

»Ich ahne. Aber gestehen Sie mir, haben Sie diese Umstände – nennen wir sie bei ihrem Namen, die Sünden meiner Mutter an Ihnen, an mir – haben Sie sie nicht gesegnet, weil sie Ihr Verhalten bis zu einem gewissen Grade rechtfertigten?«

Ohne hierauf zu antworten, lud sie ihn ein, neben ihr Platz zu nehmen und erzählte ihm, was sich seit ihrer Trennung zugetragen hatte.

Diese so lange entbehrte Aussprache bereitete ihr ein eigennütziges Vergnügen. Seit Monaten kam sie aus der ewigen Theaterlüge nicht heraus, die das unverhoffte Zusammentreffen mit einer wahren inneren Erregung, mit einer alten erprobten Zuneigung durch den Gegensatz nur noch höher schätzen läßt. Hier wandte sie sich schlecht und recht an einen Menschen, während sich der Schauspieler jeden Abend gezwungen sieht, aus sich selbst herauszugehen, einen andern Namen und ein andres Gesicht anzunehmen, sich zum Spielball der packendsten Erregungen, der tragischesten Lagen, der Liebe und des Verbrechens, des Lebens und Todes zu machen. Dieser Ausflug in die Wirklichkeit zu zweien erschien ihr köstlich. Etienne, obgleich ihn jedes Wort wie ein Dolchstoß traf, ließ sie sich aussprechen.

Was hatte sie auch nötig, sich zu entschuldigen, daß sie so ganz und gar glücklich war? ... Sie war es und weder durch noch neben ihm ... Weiter brauchte er nichts zu wissen.

Nun war die Reihe an ihm. Er erzählte ihr alles, was er ihretwegen unternommen, einzig und allein in der Hoffnung unternommen hatte, daß sie ihm einst zur Belohnung zufallen würde; und er dankte ihr in Wahrheit viel; jeder von uns weiß, was ein hohes Ideal aus dem, der es zu erreichen sich unausgesetzt bemüht, machen kann. Ein Wahn! Wir haben uns aber, während wir ihm nachjagten, deshalb nicht weniger veredelt. Er hat uns so verteidigt und gegen das Böse gewappnet und in höhere Regionen getragen, daß wir sogar schließlich, ohne daß unsre Seele darob Schaden leidet, ihn uns tauschen, uns verlassen sehen können.

Diese bedauernswerte Wahrheit lag der einfachen Erzählung Etiennes zu Grunde, und während er Renée, ohne sich dessen zu rühmen, zeigte, mit welcher Zähigkeit er daran gearbeitet, ihr einen Platz in seinem Leben zu schaffen und sie den unstillbaren Schmerz ahnen ließ, den er empfinden würde, müßte er diesen Platz bis ans Ende leer sehen, fühlte sie sich elend und schlecht im Vergleich mit ihm. »Etienne!« rief sie zärtlich, seine Hand ergreifend, »das wenigstens glauben Sie mir doch, daß – wenn ich jemals einen Menschen auf der Welt hätte lieben können, wie andre einen Bräutigam, ihren Mann zu lieben verstehen, wie ich mit ganzer Seele und mit aller meiner Kraft meine Kunst liebe ... Sie und nur Sie allein dieser einzige gewesen wären?«

Auf dem Antlitz des jungen Mannes zeigte sich etwas dem tiefen Kummer Ähnliches, der ihn einst im Walde von Fontainebleau ergriffen hatte, als Renée ihm kurz vor ihrer Abreise jenen mit Wermut versetzten Kuß gewährt hatte; auch diesmal legte er seinen Arm um sie, um sie an sich zu ziehen, aber fast in demselben Augenblicke sank der Arm von selbst nieder. Etienne kämpfte noch zu sehr gegen seine Erinnerung: Vertrauen, Zutraulichkeit, Zärtlichkeiten, alles war ihm von nun an vergiftet.

»Wie soll ich Ihnen Glauben schenken?« sagte er in bitterer Ironie. »Neulich abend waren Sie von heißer Liebe zu dem blöden Tenor entbrannt, der Sie an sein Herz drückte; und was war der Enthusiasmus der ganzen Menge andres als Liebe, die Sie entflammten, und die Sie aufs höchste beglückte? Streiten Sie es mir nicht ab, versuchen Sie nicht eine Erklärung dafür zu finden ... Sie wissen eben nicht, was eifersüchtig sein heißt. Sie sind Künstlerin, aber auch nur Künstlerin. Noch eben gaben Sie sich Mühe, ihre Rolle als Frau, die mitklagt und tröstet, zu spielen, aber das sind schonungsvolle Finten; das einzige Wort, das mich überzeugt hätte: ›Ich gebe alles auf und gehe mit dir,‹ das haben Sie nicht ausgesprochen und Sie werden es mir nie sagen wollen, nie sagen können. Was habe ich also hier zu suchen? ...«

Sie hatte sich erhoben, während er durch diesen Ausbruch lang erstickter Verzweiflung erschöpft, den Kopf in beide Hände gestützt, fast besinnungslos vor ihr sitzen blieb.

»Mein Lebenlang würde ich es bedauern, gäbe ich in einem Augenblick von Schwäche nach,« sprach sie dumpf. »Und auch Sie würden es bereuen ... Wir würden, der eine wie der andre, nur unglücklich werden ...«

»Ich muß es in der That allein sein,« sagte er, zu sich kommend, »und ich werde den Mut dazu finden, wenn Sie es wünschen; aber nur wenn Sie sich herbeilassen, mir ein Versprechen zu geben.«

»Und welches wäre das? ... Ich binde mich daran von vornherein,« rief sie leidenschaftlich.

»Nun, so glänzend Ihre Laufbahn sein mag, vielleicht birgt die Zukunft doch Enttäuschung und Traurigkeit für Sie in ihrem Schoße ...«

»O nur mit einem verschonen Sie mich – mit unheilvollen Weissagungen ...«

»Ich gäbe, um zu verhindern, daß sie in Erfüllung gehen, meinen letzten Blutstropfen her; aber was Ihnen auch widerfahren möge, sei es durch eigne Schuld ...«

Sie richtete sich hoheitsvoll auf. »... Ich weiß, Sie sind über jeden vulgären Fehltritt erhaben, aber die Welt ist böse, und Sie stehen im Kampfe mit ihr allein. Lassen Sie mich Ihnen helfen, Sie beschützen, Sie, wenn es nötig sein sollte, verteidigen. Ich verlange zum Entgelt nichts von Ihnen, nichts als das Opfer Ihres Stolzes ... Denken Sie daran, daß Sie mir dieses Opfer, nachdem Sie mir alles andre abgeschlagen haben, vielleicht schuldig sind. Also denken Sie meiner, wenn Sie eines Tages dulden müssen; rufen Sie mich. Dann ist die Zeit gekommen, daß wir uns werden verstehen können. Bis dahin werden wir uns nicht wiedersehen,« fügte er leise und hastig hinzu.

»Ich verspreche es,« gab sie mit der Sorglosigkeit der Jugend und Kraft zur Antwort, die sich einer so ganz unwahrscheinlichen Möglichkeit gegenübergestellt sieht. Welches Mißgeschick konnte sie treffen? Ihr Talent war im Wachsen und mit ihm die Gunst des Publikums und ihre Selbstachtung.

»Ich danke Ihnen,« sagte er und drückte hoch aufgerichtet vor ihr stehend einen Kuß auf ihr Haar, wie er eine Tote geküßt haben würde.

»Der Garderobier wartet auf die Signora!« ließ sich da eine heisere, näselnde Stimme, die der kleinen Dienerin, an der Thür hören.

So unterbrach eine triviale Anforderung des Theaterlebens ihren Abschied. Etienne ging, ohne ein Wort hinzuzufügen, und fühlte anscheinend gar nicht, daß eine letzte Thräne aus ihrem Auge seine Hand netzte. Auf das Treppengeländer gestützt, sah Renée ihm nach, als wollte sie ihn zurückrufen. Die schwere Hausthür fiel ins Schloß, sie eilte zum Fenster, um ihm noch ein Lebewohl auf den Weg zu geben. Er wandte sich nicht um, sondern ging in der Richtung nach dem Bahnhof schnell seines Weges. Als sie ihn aus dem Auge verloren hatte, warf sie sich über ihr Bett und schluchzte lange, lange – was sie nicht hinderte, am Abend besser als jemals zu singen, mit einer Bewegung, einem Gefühl, die aus ihrem verwundeten Herzen sprudelten. – Dem Genius des Künstlers führt alles, führen sogar seine Schmerzen Nahrung zu.


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