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Friedrich Sieburgs Versuch »Gott in Frankreich?«

In den französischen Literaturblättern begegnet man jetzt einem neuen Genre von Buchkritik. Es nennt sich »Critique romancée«, wörtlich übersetzt hieße das: Kritik in Romanform. Das ist es natürlich nicht. Wir müssen an etwas wie die bekannten Eulenbergschen »Schattenbilder« denken: Evokation des Autors durch den Kritiker bei Gelegenheit seines Buches. Man zeigt den Dichter in einem erdachten Gespräch über seine neue Arbeit mit einem Freund. Oder man schildert ihn bei der Arbeit selbst. Oder die Muse oder andre literarisch besonders autorisierte Persönlichkeiten äußern sich, wie es dem Rezensenten grad durch den Kopf geht, über die Neuerscheinung. Ein ziemlich zweifelhaftes Genre im ganzen. Wir wollen es ins Deutsche nicht übernehmen, erwähnen es vielmehr nur, um die besondere, freilich ebenfalls ungewöhnliche Art von Kritik, die wir uns im folgenden vornehmen, vorteilhaft gegen diesen Hintergrund abstechen zu lassen. In der Tat, wir haben nicht vor, Sieburgs Buch »Gott in Frankreich?« (Frankfurter Societätsdruckerei) in der üblichen Weise zu rezensieren. Wir wollen für diesmal vielmehr versuchen, die Beurteilung – ein literarisches Verfahren – durch ein mehr rechnerisches – durch eine Probe aufs Exempel sozusagen – zu ersetzen. Der Hörer wird der Reihe nach Sieburgs Aufstellungen zur Kenntnis nehmen, der Referent aber sich bemühn, aus seiner eignen Erfahrung diese Position zu illustrieren und zu ergänzen.

Vielleicht ist nichts für den Kenner des riesenhaften Schrifttums um Frankreich auffallender als dies: die tausend Briefbände, Reiseschilderungen, Tagebücher, Anekdoten und Korrespondenzen sind hier nicht um eine tausendundeinte vermehrt worden. Sieburg hat auf Impressionen verzichtet. Das ist meist rühmlich, und niemals mehr als wenn man sich über Frankreich äußert. Daß Sieburgs Buch nicht erwittert, sondern gebaut ist, dies Verdienst wird ihm niemand streitig machen. Gebaut um eine nachdrückliche, eine eindeutige Frage: wie lange noch? Wie lange kann dieses zivilisierteste Märchenland Frankreich noch seine Sonderexistenz, seine unverwechselbare Schönheit, seine unverkennbare Spröde bewahren? Was wird es aufgeben müssen? Was wird es gewinnen? Je weiter Sieburgs Darstellung fortschreitet, desto dringlicher wird die Frage, um am Schluß in einem politisch-ökonomischen Abschnitt ihre unverstellteste Formulierung zu finden. Noch ist Frankreich zum überwiegenden Teil ein agrarisch fundierter Wirtschaftskörper. Noch ist die Sicherheit der Kapitalanlage, nicht die Höhe des Zinsfußes für den französischen Rentner bestimmend. Noch haben Betrieb und Tempo, Arbeit und Reichtum, Macht und Geltung die Liebe zum Genuß, die sinnlich kontemplative Freude am Dasein nicht aus dem Felde geschlagen. Aber Vorzeichen eines Wandels kündigen sich an. Eine energische, jugendliche Elite hat unter dem Schlagwort »Créer« die Intensivierung der Produktion zu ihrer Parole gemacht. »Ganz Frankreich«, sagt einer ihrer Wortführer, »ist heut vom Elan, die Produktion zu steigern, besessen.« Und seit der Inflation hat der französische Bürger begonnen, Aktien zu kaufen. Die Mäßigkeit, Nüchternheit, Weisheit im Genusse, die mit der Sparsamkeit verbunden so kennzeichnend für den Durchschnittsfranzosen ist, sind Objektive, Angriffspunkte einer Industrie geworden, die um jeden Preis den Konsum steigern muß. Was das Ergebnis dieses Kampfes sein wird, welches Frankreich aus ihm hervorgeht, wie lange wir das alte noch behalten und lieben dürfen, das ist die Frage des Buches. Ich nehme sie in mich auf, mache auf sie das Exempel, und ich entsinne mich der Worte, die vor vielen Jahren ein Freund auf einer der langen Nachmittagsschlendereien mir stellte, die ihren Rausch aus allem, was man vor Augen hatte und aus dem endlosen Gleichmaß des Ganges brauten: »Das Altertum ist unvordenklich geworden und auch zum Mittelalter kamen wir viel zu spät. Aber daß es das Eine noch gibt: Paris, und daß wir es noch erlebt haben – das ist schon so unfaßlich, daß man's uns vielleicht schon nicht mehr glauben wird, wenn wir alt sein werden.«

Sieburgs Werk hat, abgesehen vom kurzen Epilog, vier Teile, von denen tragend der erste und letzte sind. Der erste, der unterm Stichwort »Die heilige Johanna« die religiösen Grundlagen der französischen Zivilisation aufsucht, der letzte, der, wie sein Titel »Frankreich als Widerstand« andeutet, die Schwierigkeiten unserer aktuellen Auseinandersetzung beleuchtet. So wenig man sagen kann, daß der Verfasser in diesen entscheidenden Teilen die Dinge bagatellisierend oder spielerisch nähme, so sehr kann man an dem Sinn für Nuancen, für Genuß und Lebensbejahung seine Freude haben, die seine beiden Mittelteile »Die Zivilisation« und »Zwischenspiel« kennzeichnen. Was Sieburg über »Geschmack und Goût«, »Das Wort«, »Literatur als Einrichtung« sagt, ist mit ebensoviel Einblick in diese Dinge als Verständnis für die Positionen des Deutschen niedergelegt. Des Deutschen, dem es, wie der Verfasser schlagend formuliert, ja so schwer fällt, »gerade in der gesellschaftlichen Gebundenheit einer Geistäußerung etwas anderes zu sehen, als eine Schwäche und Gefährdung der Unbedingtheit«. Es ist fast erstaunlich, daß der Verfasser sich dieser Einsicht nicht hat bedienen wollen, um dem Geheimnis der Pariser Mode sich zu nähern, zu dem sie der Schlüssel ist. Die konkrete Figur, unter welcher der Goût seine europäische Herrschaft, wenn nicht erobert, so doch behauptet hat, ist ja die Mode. Wie weit ihr Reich sich über das der Haute Couture hinausdehnt, hat man sich kürzlich wieder mit viel Vergnügen vergegenwärtigen können. Auch Sieburg wird ja Giraudoux' »Amphitryon 38« gesehen haben, das einzige Stück, das einen zur Zeit in Paris zum Theaterbesuche bewegen kann, da der begabte Pitoëff seine Bühne mit einer uninteressanten Aufführung der »Verbrecher« von Bruckner belegt hat. 38, die Zahl nach dem »Amphitryon«, heißt: die achtunddreißigste Bearbeitung dieses Stoffes. Und man braucht diese Worte nur ein wenig anders zu wenden, um an das Wesentliche dieses Dramas und an das Wesentliche des Goût zu rühren. In der Tat, Giraudoux hat die Sage als einen unerhört kostbaren Stoff betrachtet, der in so vielen Händen nichts von seinem Wert verloren, durch einen Anflug von Altersglanz ihn gesteigert und nun dem Dichter die modische Aufgabe gestellt hat, durch einen neuen eleganten Zuschnitt ihn auf unerwartete Weise zur Geltung zu bringen. Man vergleicht das Stück mit dem »Orpheus« von Cocteau, ebenfalls einer Neubearbeitung des antiken Gegenstands, und bemerkt, wie Cocteau den Mythos nach den neuesten architektonischen Grundsätzen umkonstruiert, Giraudoux aber ihn modisch zu erneuern versteht. Man hat Lust, die Proportion aufzustellen: Cocteau : Corbusier = Giraudoux : Lanvin. In der Tat hat Lanvin auch die Kostüme gestellt und die Darstellerin der Alkmene, Valentine Tessier, spielt eine Rolle, in der die Rüschen, Schärpen, Volants und Fichus ihrer Roben mindestens ebenso begabte und lebendige Partner sind wie Merkur, Sosias, Zeus und Amphitryon. Nimmt man hinzu, daß die Moral, die so virtuos und verführerisch dem Beschauer sich insinuiert, die Sache ehelicher Treue gegen alle göttlichen Raffinements der Erotik führt, so hat man die modische und konservative, mit einem Worte die französische Tendenz des Verfassers zum Ausdruck gebracht. Nachdenklich geht man durch eine dieser milden Winternächte von Paris nach Hause und ist den Kräften etwas näher, die es bewirkt haben, daß diese Stadt jahrhundertelang die umfassendste wirtschaftliche und geistige Organisation der Mode gewidmet hat, nimmt auch von Giraudoux die Gewißheit mit, daß sie nicht nur die Frauen, sondern die Musen kleidet. Oder man denkt an eine Figur wie den kürzlich verstorbenen Doucet, Besitzer eines der größten Modehäuser der Stadt, der sein Vermögen darauf verwandte, eine erlesene Kunstbibliothek und ein unschätzbares Archiv von Dichterhandschriften zu sammeln. Paris hat viele Vermögen gesehen, die aus der Mode entstanden und an ihr vergingen. Der Name Poirets allein ruft eine bewegte Kurve herauf. Weniger bekannt sind die Manöver, mit denen der große Pariser Perlenhändler Léonard Rosenthal sein Vermögen gerettet hat, als er es von der Mode bedroht sah. Man erinnert sich, wie vor etwa zehn Jahren, infolge der Verarmung durch Krieg und durch Inflation, daneben auch durch neue technische Errungenschaften, das alte europäische Vorurteil für den echten Schmuck allmählich durchbrochen wurde. Rosenthal witterte Gefahr, machte den größten Teil seines Vermögens flüssig und kaufte die Terrains in der Gegend der Champs Elysées, um sie mit riesigen Mietshäusern zu bedecken. Die Spekulation, die infolge der Wohnungsnot überaus glücklich verlief, hat ihm das Vielfache seines Vermögens, uns eines der reizvollsten Bücher eingebracht: die Aufzeichnungen, die er unter dem Titel »Quand le bâtiment va« über seine Unternehmungen und die Geschichte der Champs Elysées publizierte. Man kann sie getrost neben Sieburgs Buch ins Regal stellen.

Denn dieses gilt ja durchaus nicht nur Frankreich im allgemeinen. Man findet darinnen vor allem eine Fülle erstaunlicher Einblicke in Paris. Sieburg hat der Hauptstadt drei Kapitel gewidmet, die allein in der Abfolge ihrer Überschriften einen Begriff von der behutsamen Exaktheit geben, mit der seine Darstellung sie umwirbt. Da findet er für sie diese nachhaltige Prägung: »Zuerst erscheint die Stadt einheitlich, als Ganzes zusammengerückt zu einem Bilde, das dadurch eigentümlich ist, daß es in ihm nichts Neues, nichts Frisches gibt. Selbst das neueste Material, Betonklötze für einen Bau, die ersten Meter eines Fundaments, eiserne Träger, Erdarbeiten, das alles hat bereits die Patina, will sagen den Reiz der Vollendung« – diese Prägung, der nachgesagt werden kann, daß sie das divinatorische Wort heraufruft, das Apollinaire von Paris sagte: »Ici même les automobiles ont l'air d'être anciennes«. Auch das Prinzip, nach dem dieser große Zentralkörper Paris dialektisch die Vielfalt in sich aufrecht erhält und ihren Zellen die Freiheit von Individuen gibt, ist ihm nicht entgangen: die Sonderexistenz der quartiers. »Die Quartiere sind die eigentlichen Einheiten, von denen jede einen bestimmten Charakter aufweist. Jede hat ihren natürlichen Mittelpunkt, ihre Geschäftsstraßen, ihren Markt, ihre Cafes, Kinos und Promenaden. Ausflüge in andere Viertel sind selten, werden meist nur sonntags vorgenommen und nehmen leicht den Anstrich von Expeditionen an. Den einzelnen Bezirken entspricht ein bestimmtes Bezirksgefühl, das durch allerlei Festlichkeiten und Veranstaltungen genährt und von den Politikern bei den Wahlen ausgebeutet wird.« Und wo sonst könnte es Institutionen geben wie das »Echo du quatorzième«, das als Wochenschrift schon ein stattliches Alter hat, oder wie die historische und archäologische Gesellschaft des achten Arrondissements.

In der Tat, was Sieburg hier erfaßt hat, ist gleich wichtig für die Durchdringung Frankreichs wie für die Kenntnis der Hauptstadt. Es hat sein Gegenstück in den wenigen, aber schlagenden Seiten, in denen er das typische Bild der französischen Kleinstadt zeichnet. »Wohl ist«, heißt es da, »in den letzten Jahren auf der Bahnhofstraße ein kleines Warenhaus entstanden, das meist ›Magasin de Paris‹ heißt, es hat aber kaum ein Kleingeschäft zu verdrängen vermocht. Es verdankt sein Bestehen hauptsächlich dem Umstande, daß eine große Anzahl von häuslichen Fähigkeiten – wie Wäschenähen und -weben – verschwunden ist und die Handwerker teils weniger haltbare Gegenstände als früher anfertigen, teils neue Bedürfnisse zu befriedigen haben. Aber das Trauermagazin mit seinen pompösen Sarggriffen, Kreppschleiern und Glaskränzen blüht immer noch, und auch der Laden mit religiösen Artikeln, Gebetbüchern, elfenbeinernen Kruzifixen, Geschenken für die erste Kommunion und Wachskerzen für alle Gelegenheiten ist immer noch auf der Höhe. Nicht etwa, daß die Leute besonders religiös wären, aber sie gehn doch alle ins Hochamt am Sonntag, weil es eben ein gesellschaftliches Ereignis ist, und sie feiern fleißig die religiösen Feste, da sie ihnen Gelegenheit geben, möglichst viele Familien zu Promenaden durch die Stadt und zum Kaffee zu versammeln.« Was Sieburg hier schildert, ist die Stadt des großen französischen Novellisten Marcel Jouhandeau, und ich darf in der angekündigten Form auf das Exempel dieser Seiten wohl die Probe machen, indem ich einiges von meinem Besuche bei Jouhandeau hier einfließen lasse. Der Raum, in welchem er uns empfing, ist die vollendetste Durchdringung von Atelier und Mönchszelle, die sich denken läßt. Eine ununterbrochene Fensterreihe zieht sich über zwei Wände. Zudem gibt es Oberlicht. Dichte grüne Vorhänge überall. Zwei Tische, deren jeden man mit gleichem Recht als Arbeitstisch ansehen könnte; vor ihnen Stühle, wie verloren im Raum. Die Strategie des Beleuchtungswechsels beim Arbeiten macht den ersten Gegenstand unseres Gesprächs. Jouhandeau redet von den inspirierenden Kräften des Lichts, das von rechts kommt. Sodann viel Autobiographisches. Mit 13, 14 Jahren bekommen zwei leibliche Schwestern, die im Institut der Karmeliternonnen in seiner Vaterstadt leben, entscheidenden Einfluß auf ihn. Von da an umfaßt ihn der Katholizismus, der ihm vorher nicht anders denn als Gegenstand von Erziehung und Unterricht vorkam. Daß er ihm mehr geworden ist, sagte mir beim ersten Blick in den Raum ein Kruzifix aus Porzellan überm Bett. Ich gestehe ihm aber, wie ich nach Kenntnis seines ersten Buches ganz im Unklaren blieb, ob er den Katholizismus als Bekenner oder nur als Forschungsreisender, explorateur, darstelle. Dieser Ausdruck gefiel ihm sehr. Er fuhr fort, von seinem Leben zu sprechen, besonders von der Nacht – es war die, die der Beisetzung Déroulèdes folgte – da er seine ganze Arbeit verbrannte, eine unendliche Menge von Notizen und Spekulationen, die ihm zuletzt als ein Hemmnis auf dem Wege zum wahren Leben erschienen waren. Erst seitdem begann seine Produktion das Lyrisch-Spekulative zu verlieren. Erst seitdem formte sich die Welt dieser Personen, die eigentlich, wie Jouhandeau mir erzählt, alle der einen Straße seiner Heimatstadt entstammen, in der er wohnte. Es ist ihm wichtig, die Welt dieser Personen zu kennzeichnen: ein Kosmos, dessen Gesetz sich nur vom Mittelpunkt her erschließt. Dieser Mittelpunkt ist Godeau, der kanonische Fromme, der Mann, dessen Existenz Jouhandeau in seinem »Monsieur Godeau intime« beschrieben hat. Im übrigen aber erklärt er: »Was mich am Katholizismus am meisten fesselt, das sind die Häresien.« Jedes Individuum ist für ihn ein Häretiker. Und das Passionierende sind ihm die unabsehbaren individuellen Verzerrungen des Katholizismus. Oft stehen seine Personen, deren er eine große Zahl kennt, die in seinen Büchern noch niemals auftraten, schon lange vor ihm, ehe sie ihm so greifbar werden, daß er sie darstellen kann; oft vergeht lange Zeit, bevor ihm eine kleine Wendung oder Geste an ihnen ihre besondere, eigenste Häresie kundgibt. Ich spreche zu ihm von der großartigen und abstrusen Verspieltheit seiner Menschen, deren Zerstreuung nicht mit den Gegenständen des täglichen Gebrauches, Messern oder Gabeln, Zündhölzern oder Bleistiften, sondern mit Dogmen, Beschwörungsformeln und Illuminationen hantiert. Mein Ausdruck »bedrohliches Spielzeug« gefällt ihm sehr und auch, daß ich sage: »Vos personnes sont tout le temps à l'abri de rien.« Mademoiselle Zéline, Ermeline, Noëmie Bodeau kommen vor. Das Ende unseres Gespräches markierte die Stelle, die er mir in der schönen Luxusausgabe seines »Monsieur Godeau intime« aufschlug. Er bezeichnet sie selbst als den Angelpunkt des Buches, und es ist darin von dem Aufenthalt Gottes in der Hölle und von dem Kampfe mit ihr die Rede.

Die Wiedergabe dieses Gespräches hat mich weiter geführt, als ich dachte. Und wenn ich jetzt wieder auf die Schrift von Sieburg zurücklenke, dann ist es eine Probe auf sie in mehr als einem Sinne gewesen. Auf Frankreichs Katholizität hat Sieburg seine ganze Darstellung aufgebaut. Im ersten Teil, der dieser Fundierung gilt, steht das Kapitel mit der Überschrift: »Ist Gott Franzose?« Dort handelt Sieburg von der größten Häresie aller Zeiten, dem religiösen Nationalismus. Wie aber der für Frankreich zu verstehen sei, darauf gibt es in der neueren Dichtung, abgesehen von Charles Péguy, keinen energischeren Hinweis als das Werk Jouhandeaus, in dem die Folklore des katholischen Daseins, wie sie in innigster Durchdringung dieses Glaubens mit diesem Boden, dieser Nahrung, diesem Werktag, diesem Menschenschlage im Schoße der französischen Provinz sich durchgebildet und erhalten hat, zum Ausdruck kommt. »Dies Land«, schreibt Sieburg, »war immer katholischer als der Papst, der nur die Seelen vereinigen und zusammenschließen will, während Frankreich erst um die religiöse, dann um die zivilisatorische Idee ein Volk zu bilden vermochte.« Mit Recht werden in diesem Zusammenhange die Kämpfe erwähnt, die Rom noch in der allerjüngsten Zeit mit den Ultras des nationalen Katholizismus der Action Française zu führen gehabt hat. Von dem fleißigen Chronisten der französischen Außenpolitik, der Sieburg in den letzten Jahren gewesen ist, läßt es sich begreifen, daß er für die Einschränkung der zivilisatorischen Ansprüche Frankreichs bisweilen ebenso diplomatisch aber scharf geprägte Entgegnungen bereit hat wie der Vatikan gegen die religiösen. Wie denn überhaupt der Verfasser nicht selten die Kehrseite des Medaillons Frankreich zum Vorschein bringt. Aber vielleicht hämmert und pocht er bisweilen nur so energisch auf ihr, um mit einer Entsagung, für die wir ihm dankbar sind, das Bild der Vorderseite um so reiner herauszustanzen.


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