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Die Mississippi-Überschwemmung 1927

Wenn ihr eine Landkarte von Mittelamerika aufschlagt und euch darauf den Mississippi, diesen riesenhaften 5000 km langen Strom betrachtet, so steht da eine etwas krause und windungsreiche, im ganzen aber doch ziemlich eindeutig von Norden nach Süden verlaufende scharfe Linie, auf welche man, wie man glauben sollte, sich so sicher müßte verlassen können wie auf irgendeine Chaussee oder eine Eisenbahnlinie. Die Menschen aber, die am Ufer dieses Stroms leben, Farmer, Fischer, ja auch die Städter, wissen, daß dieser Schein trügt. Der Mississippi ist in ununterbrochener Bewegung, nicht etwa nur seine Wassermassen, die sich von der Quelle zur Mündung bewegen, sondern ebenso seine Ufer, die sich fortwährend verändern. Zahllose Seen, Lagunen, Sümpfe und Gräben liegen auf zehn bis 50 Meilen Entfernung von dem gegenwärtigen Strom und zeigen doch durch ihre Gestalt, daß sie nichts anderes als Abschnitte des früheren Flußbettes sind, das sich inzwischen westlich oder östlich verschoben hat. Solange der Strom durch festes Gestein fließt, ungefähr bis zur Südspitze des Staates Illinois, ist auch sein Lauf ziemlich gerade. Später aber tritt er ins Schwemmland über, und in diesem lockeren Boden zeigt sich seine Unzuverlässigkeit und Unruhe. Nie behagt ihm das Bett, das er sich selber gegraben hat. Und nicht genug damit: die im Frühjahr hoch angeschwollenen Nebenflüsse des unteren Mississippi wie der Arkansas, der Red River, der Quachitafluß fallen mit ihren Wassermassen dem zum Überfließen gefüllten Mississippi in die Flanken und verdrängen durch ihr eigenes Wasser nicht nur das des Hauptstroms sondern bilden sozusagen eine Barriere, die das Wasser im Mississippi anstaut und ebenfalls zur Überschwemmung seiner Uferstaaten beiträgt. So kam es, daß jahrhundertelang alljährlich alles Land auf Hunderte von Meilen überschwemmt war. Die Plantagen, Felder, Siedlungen, Urwälder, Gärten standen meterhoch unter Wasser, und die Umgebung des Stromes glich einem Ozean, dessen Inseln die Wipfel waren. Anfang des vorigen Jahrhunderts hat man damit begonnen, einzelne Uferstrecken gegen die jährlich wechselnden Launen des Stroms zu sichern. Damals wurden auf Kosten der betreffenden Ufereigentümer an vielen Stellen Dämme aufgeführt, die natürlich das dahinter gelegene Land schützten, aber dies auch nur wieder auf Kosten des Nachbars, der darunter nur noch mehr zu leiden hatte. So schützten sich denn allmählich die meisten der tiefer gelegenen Plantagen auf diese Art. Und um den Pflanzern die Kosten zu erleichtern, gab ihnen der amerikanische Kongreß alles hinter ihren Pflanzungen gelegene Marschland als Entschädigung. Nun könnt ihr euch denken, was es für diese Pflanzer, die nichts als ihr Land besaßen, bedeuten mußte, wenn eines Tages von ihnen gefordert wurde, sie sollten mit eigener Hand die Dämme niederreißen und ihre Pflanzungen der zerstörenden Gewalt des Wassers öffnen. Das aber ist wirklich einmal geschehen, und damit komme ich gleich zu der schrecklichsten und trostlosesten Begebenheit der großen Überschwemmung von 1927. An der Mündung des Mississippi liegt, wie ihr vielleicht wißt, die große wichtige Handelsstadt New Orleans. In weniger als zwei Wochen waren die Wasser so hoch gestiegen, daß dieser entscheidende Mündungshafen des Mississippi der Zerstörung preisgegeben schien. Wenn man New Orleans retten wollte, mußte man zu dem letzten Mittel der Verzweiflung greifen: die Schutzdämme oberhalb der Stadt mußten gesprengt werden, um so dem Wasser einen Ausgang auf die Felder zu geben. Das war das Signal zu einem erbitterten Bürgerkriege, der die Schrecken der Naturkatastrophe noch vermehrte. Die Farmer, deren Länder da geopfert werden sollten, um die Hauptstadt zu retten, gehörten zu den ärmsten des Landes. Sie bildeten unter der Leitung eines der vielen amerikanischen Sektenführer bewaffnete Truppen, die es verhindern wollten, daß die Dämme gesprengt würden. Tausende von Farmern waren entschlossen, lieber zu kämpfen, als mit dem Untergang ihrer Felder die Rettung der Stadt zu erkaufen. Die Regierung griff zu den letzten Mitteln, ein General mußte zum Diktator des Überschwemmungsgebiets ernannt, der Belagerungszustand verhängt werden. Die Farmer ihrerseits machten sich mit Maschinengewehren auf, um dem Militär Widerstand zu leisten. Gegen den jetzigen Präsidenten der Vereinigten Staaten, Hoover, der damals als Staatssekretär sich ins Überschwemmungsgebiet begab, wurde ein Attentat verübt. Aber die Regierung ließ sich nicht einschüchtern, die Sprengungen wurden durchgeführt. New Orleans wurde gerettet, aber 100 000 Quadratmeilen standen unter Wasser; die Zahl der Obdachlosen in jenen Gegenden betrug eine halbe Million.

Die Flutdämme des Mississippi, die damals, soweit der Strom sie nicht durchbrochen hatte, gesprengt wurden, gehören zu den größten staatlichen Unternehmen in Amerika. 2500 km lang ziehen sich diese Dammbauten zu beiden Seiten des Stroms bis zum Golf von Mexiko herunter. Nicht selten messen sie bei einer Dicke von 50 Metern 10 Meter Höhe. Tausende und Abertausende Arbeiter haben Jahr für Jahr neue Dämme zu bauen und die alten instand zu halten. Ein elektrischer Meldedienst verbindet alle Stationen untereinander. Jede Woche werden die Dämme geprüft und viele Millionen werden alljährlich auf sie verwendet. So hatten sie sich mehr als zehn Jahre lang zur vollkommenen Beruhigung der Umwohnenden bewährt, bis die Hochwasser vom Frühjahr 1927 auf sie hereinbrachen.

Am 16. April meldete der Telegraph zum ersten Mal, daß der Strom über die Ufer getreten sei. Diese ersten Meldungen aber klangen recht unschuldig, und in Washington hoffte man, es würde bei kleineren Störungen sein Bewenden haben. Das aber stellte sich als Irrtum heraus. Zwei Tage später waren bereits sieben Staaten zum Teil vollkommen überschwemmt. Große Teile von Missouri, Arkansas, Kentucky, Tennessee, Louisiana und Texas standen unter Wasser. Sieben bis acht Meter erreichte die Flut auf den Feldern. Dutzende von Städten, Hunderte von Ortschaften mußten geräumt werden, und wehe denen, die dabei säumig oder schwer von Entschluß waren. So kennen wir die Geschichte von drei Brüdern, kleinen Farmern aus der Umgegend von Natchez. Die glaubten sich zur Rettung ihres Viehs noch die Zeit nehmen zu können. Während die andern alles im Stich ließen, um das nackte Leben zu retten, machten sie sich in den Ställen zu schaffen, und ehe sie sich's versahen, war der Weg ihnen von einer gewaltigen Wasserzunge verlegt: sie waren abgeschnitten und blieben es. Nur einer von den dreien kam mit dem Leben davon, und von dem haben wir die schauerliche Beschreibung der Stunden, die sie auf dem First ihres Daches zubrachten, mit immer sinkender Hoffnung in die immer steigenden Fluten starrend. Hört ein Stück aus dem Bericht des Überlebenden:

»Das Wasser ließ uns nur noch einen schmalen Streifen vom First frei. Der eine Schornstein war schon weggerissen. Von der zerstörten Siedlung ringsum sah man nichts mehr. Nur von dem Kirchturm, der unversehrt gen Himmel ragte, tönten die Stimmen von Geretteten zu uns herüber. In der Ferne hörte man das Wasser rauschen. Wir hörten keine Häuser mehr zusammenstürzen. Es war wie ein Schiffbruch mitten im Ozean, Tausende von Meilen vom Lande entfernt. ›Wir werden fortgetrieben‹, murmelte John, der sich krampfhaft an den Ziegeln festhielt. Es war tatsächlich ein Gefühl, als ob das Dach sich in ein Floß verwandelt hätte, das die Strömung mit sich forttrieb. Aber als wir auf den Kirchturm blickten, der unbeweglich dastand, sahen wir, daß es Einbildung gewesen war. Wir waren immer noch auf demselben Fleck mitten in den tosenden Wogen. – Nun jedoch setzte der Kampf ein. Der Strom war anfangs der Straße gefolgt, aber jetzt versperrten die Trümmer ihm den Weg und trieben ihn zurück. Es war ein regelrechter Ansturm. Der Strom faßte jeden Balken oder Baumstamm, der in seinen Bereich kam, und schleuderte ihn wie ein Wurfgeschoß gegen das Haus. Und selbst dann gab er ihn nicht los, er riß ihn wieder an sich, um ihn von neuem loszuschleudern. Die Mauern zitterten unter diesen unaufhörlichen regelmäßigen Stößen. Es dauerte nicht lange, so wurden wir von zehn bis zwölf Balken auf diese Weise bombardiert. Die aufgewühlten Wassermassen tobten und brüllten, und der Schaum netzte unsere Füße. Aus dem Hause unter uns klang es wie ein dumpfes Stöhnen, und wir hörten es in seinen Fugen krachen. Manchmal, wenn wieder ein Balken mit furchtbarer Gewalt dagegenstieß, dachten wir, es sei vorbei, die Mauern würden weichen und uns dem wilden Strom preisgeben. Manchmal, wenn wir ein Heubündel oder eine leere Tonne auf uns zutreiben sahen, winkten wir freudig mit dem Taschentuch, bis wir unseres Irrtums inne wurden und in unsere stumme Angst zurücksanken. ›Ah, seht ihr dort‹, schrie John plötzlich, ›ein großes Boot!‹ Mit ausgestrecktem Arm wies er auf einen dunklen Punkt in der Ferne hin. Ich konnte nichts sehen, Bill ebensowenig, aber er blieb dabei. Und es war auch wirklich ein Boot. Die Ruderschläge kamen immer näher, bis auch wir es schließlich entdeckten. Es glitt langsam vorwärts, es schien uns zu umkreisen, ohne jedoch näherzukommen. Ich weiß nur noch, daß wir in diesem Moment wie toll waren. Wir reckten die Arme und schrien aus vollem Halse. Wir stießen Schmähungen gegen das Boot aus und schalten es feige, während es stumm und schwarz weiterglitt. War es wirklich ein Boot? – ich weiß es heute noch nicht. Als wir es endlich entschwinden sahen, nahm es unsere letzte Hoffnung mit weg. – Von nun an erwarteten wir jeden Augenblick, daß das Haus einstürzen und uns verschlingen würde. Es mußte schon völlig unterwühlt sein, irgendeine besonders starke Mauer schien das Ganze noch zu halten, aber wenn sie einstürzte, riß sie alles mit sich. Ich zitterte vor allem in dem Gedanken, daß das Dach unser Gewicht nicht mehr tragen würde. Das Haus konnte vielleicht noch die ganze Nacht widerstehen, aber das Dach fing unter dem fortwährenden Anprall der Balken an nachzugeben. Wir hatten uns auf die linke Seite geflüchtet, wo die Dachsparren noch ziemlich unversehrt waren. Aber dann fingen sie auch hier an zu schwanken, es war vorauszusehen, daß sie nicht lange mehr halten würden, wenn wir alle drei auf demselben Fleck zusammengedrängt blieben. – Mein Bruder Bill hatte ganz mechanisch seine Pfeife wieder in den Mund gesteckt. Er drehte an seinem Schnurrbart, runzelte die Brauen und brummte vor sich hin. Die steigende Gefahr, die er vor Augen sah und gegen die all sein Mut nichts vermochte, fing an, ihn ungeduldig zu machen. Mit zorniger Verachtung spuckte er ein paar Mal ins Wasser. Dann, als das Gebälk unter ihm immer mehr nachgab, faßte er einen Entschluß und stieg vom First herunter.

›Bill, Bill‹, rief ich. Ich ahnte voller Entsetzen, was er wollte. Er wandte sich um und sagte ruhig: ›Leb wohl, Louis ... siehst du, es dauert mir zu lange. Ich will euch Platz machen.‹

Dann warf er zuerst seine Pfeife weg und sprang danach selbst in die Flut. ›Lebt wohl‹, sagte er noch, ›ich habe genug davon.‹ Er kam nicht wieder zum Vorschein. Er war ein schlechter Schwimmer, und wahrscheinlich machte er gar nicht erst den Versuch, sich zu retten. Er wollte unsern Ruin und den Tod unserer Lieben nicht überleben.« – Soweit die Erzählung des dritten Bruders, des einzigen, der aus dieser Familie durch eines der Boote, die das Wasser absuchten, noch geborgen wurde.

Mehr als 50 000 Schiffe, Motorboote und Dampfer waren mobilisiert worden. Selbst die Luxusjachten wurden von der Regierung für die Rettungsarbeiten beschlagnahmt. Ganze Flugzeuggeschwader waren Tag und Nacht unterwegs, so wie man ja im vorigen Jahre auch den verhungernden, von jedem Verkehr vollständig abgeschnittenen Chinesen im Flußtal des Jangtsekiang durch Flugzeuge unter Führung von Charles Lindbergh Lebensmittel und Arzneien gebracht hat. Auch damals am Mississippi kampierten Hunderttausende von Flüchtlingen unter freiem Himmel, ohne Dach, ohne warme Kleidung, dem Hunger, dem Regen und den schrecklichen Wirbelstürmen preisgegeben, welche um diese Zeit das Überschwemmungsgebiet verheerten.

Soviel von den entfesselten Elementen des Mississippi. Ein andermal aber wollen wir uns an seinen Ufern umsehen, wo es auch zu den Zeiten, da der Strom friedlich in seinem Bette getrieben hat, keineswegs immer friedlich gewesen ist. Schon lange hatte ich vor, euch einmal die Geschichte des größten und gefährlichsten Geheimbundes von Amerika zu erzählen, gegen den alle Banden von Whiskyschmugglern und alle Verbrecherklubs von Chicago ein Kinderspiel sind: die Geschichte des Ku-Klux-Klan. Da werden wir uns wieder an den Ufern des Mississippi befinden, diesmal aber dem entfesselten Element menschlicher Grausamkeit und Gewalttat gegenüber. Und die Dämme, die das Gesetz gegen sie erbaut hat, haben nicht besser standgehalten als die wirklichen aus Erde und Stein. Davon also, vom Ku-Klux-Klan und vom Richter Lynch und anderen unheimlichen Figuren, die die Menschenwildnis am Mississippi bevölkert haben oder noch heut bevölkern, ein andermal.


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