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Bücher von Thornton Wilder und Ernest Hemingway

Das Thema, über das ich zu sprechen gedenke – die Bücher des Amerikaners Thornton Wilder –, war längst vereinbart, als mir vor wenigen Tagen eine Neuerscheinung in die Hände fiel, die mich veranlaßt, es zu modifizieren. In der Tat, ich möchte nicht über neue amerikanische Bücher sprechen und das jüngst verdeutschte Werk Hemingways »Männer« (Verlag Ernst Rowohlt) mit Stillschweigen übergehen. Um so mehr als es nicht nur heißt, einem starken erfrischenden freudigen Eindruck gerecht werden, sondern zugleich zwei amerikanische Autoren in ein Verhältnis setzen, dessen Polarität einige Gewähr gibt, den kritischen Funken zwischen ihnen zum Überspringen zu bringen.

Wir werden uns also, was Wilder angeht, an sein neuestes Buch halten, das neueste erschienene meine ich, denn jünger der Entstehungszeit nach ist das für Deutschland ältere: die im Vorjahr erschienene Romandichtung »Die Brücke von San Luis Rey«. Nun hat der Verleger Tal in Wien diesem reifen und späteren Buche nachträglich das erste seines Verfassers deutsch folgen lassen: »Die Cabala«. Kein Zweifel, dichterisch ist diese Neuerscheinung minder ausgeglichen. Dafür hat sie jedoch, nicht für den Kritiker allein, auch für den Leser, der mehr als pure Zerstreuung hier sucht, den Vorzug, die ganze ungeschiedene Gedankenmasse, das Ineinander von Stimmungen, Motiven, Tendenzen in voller Gärung zu zeigen, und diese Masse ist von einer Art, der wir bei einem amerikanischen Autor nicht ohne Erstaunen begegnen. Grundmotiv des Werkes ist das Nachleben der antiken Götter.

Das Buch spielt in Rom. Reisewerke gewiß, jedoch nur wenige Romane wird es geben, die so wie dieser die Atmosphäre der Stadt erfassen. Das glückt, weil der Verfasser alles Antike nicht anders als spielerisch streift. Wenig Pleinair ist in diesem Werke, und wenn einmal die Stadt unter freiem Himmel erscheint, so ist es keine piranesische Feerie, sondern eine geringfügige akustische Note, die sie unvergleichlich vergegenwärtigt. »Als ich nun endlich ankam – heißt es auf einer der ersten Seiten –, lag der Bahnhof verlassen da; es gab keinen Kaffee, keinen Wein, keinen Mond, keine Geister; bloß eine Fahrt durch schattendunkle Straßen beim Klange plätschernder Brunnen und des ganz eigenartigen Echos travertinischen Pflasters.« Nun aber zurück zu den Göttern. Diese Cabala, ihrem Rufe nach ist sie nur die betriebsame snobistische, reichlich beargwöhnte Gruppe römischer Aristokratinnen, angelsächsischer Milliardärswitwen, spleeniger Kardinäle, liebestoller Patriziersöhne, deren Intrigen durch eine Reihe von Fehlschlägen die Gruppe in ein lächerliches Licht zu setzen beginnen. Was vorher war, wie diese Cabala zu ihrem Namen kam, ob der Verfallszeit, in welcher sie der Berichterstatter betrifft, je eine Blüte voranging, ob jemals ein Herrscherwille ihre Geschäftigkeit sinnvoll erscheinen ließ, von alledem erfahren wir nichts.

Wenn das die Schwäche in der Komposition dieses Buches ausmacht, so bedeutet es zugleich die kompromißlose Gestaltung seiner Idee. Beides kommt im Übergewicht des Schlusses zum Ausdruck, der mehr vom glücklichen Ausgang eines Experiments, einer Meditation, als vom harmonischen Ausklang eines reinen Kunstwerkes hat. Die Menschen dieses Buches, das ist die Quintessenz dieses Schlusses, sind Götter. Das ist aber nicht nur späte Erkenntnis des Lesers, es ist die späte Erkenntnis der Menschen selbst, die Hauptfiguren dieses Werkes sind. Nicht etwa maskiert sich zu Beginn des Buches der Gott als Mensch, sondern am Ende demaskiert sich der Mensch als Gott. Und der ihm die Menschenlarve von den Augen herunterreißt, der nicht nur für die andern, für den Leser das moralische Inkognito dieser Helden lüftet, sondern auch für sie, diese Helden selbst, ist der Schmerz. Jedem einzelnen reißt er die Maske herunter, jeder einzelne kommt erst im tiefsten Stand seines Leidens, seiner Erniedrigung dem göttlichen, eingreifenden Gestus nahe. So erkennen sie sich erst in der Erinnerung, die Schauplatz ihrer Offenbarung ist, als Götter. Die offenbarten Erlebnisse sind nicht, da sie eintreten, Offenbarung, vielmehr dem Erlebenden selbst verborgen. Sie werden Offenbarung erst, da mehrere sich ihrer Analogie bewußt werden, rückschauend.

Ich lese nun das abschließende Gespräch, das diese Vorgänge an den Tag bringt. Es ist der Erzähler selber, der Held, der es, nachdem die Glieder dieses Kreises verschollen oder verschieden sind, mit dessen ehemaligem Haupte, einer Lady, führt.

 

»Ich fand Miß Grier um Mitternacht in der Bibliothek sitzen, die Blair katalogisiert hatte. Ihr kleiner, feingeformter Kopf sah müde aus, und nach einigen bedeutungslosen Worten traf ich Anstalten zu gehen. Sie erinnerte mich daran, daß ich beabsichtigt hatte, sie etwas zu fragen.

›Meine Fragen sind schwerer zu stellen als zu beantworten.‹

›Versuchen Sie es.‹

›Miß Grier, wußten Sie, daß Sie und Ihre Freunde die Cabala genannt werden?‹

›Ja, selbstverständlich.‹

›Ich werde nie wieder solch eine Gesellschaft kennen lernen. Und doch scheint da irgend ein letztes Geheimnis zu sein, das ich nie erfassen konnte. Wissen Sie mir gar nichts zu sagen, das mir zeigen könnte, was Ihr alle beabsichtigtet, wie Ihr einander fandet und was euch so verschieden von allen anderen Menschen machte?‹

Miß Grier nahm sich einige Minuten Zeit, dies zu überdenken. Sie saß mit einem seltsamen Lächeln da und strich mit den Fingerspitzen dem Haaransatz ihrer linken Schläfe entlang. ›Ja‹, sagte sie schließlich, ›aber es wird Sie bloß ärgerlich machen, wenn ich es Ihnen sage. Überdies ist es eine lange Geschichte.‹

›Sie ist sicher nicht lang, Miß Grier, aber Sie beharren darauf, sie lang zu machen, weil Sie es nicht leiden können, wenn Ihre Gäste Sie vor dem Morgengrauen verlassen. Ich will Ihnen jedoch stundenlang zuhören, wenn Sie mir versprechen, ein wenig Licht auf die Cabala und die Nachtmähler in der Villa Horaz zu werfen.‹

›Nun, vor allem müssen Sie wissen, Samuele, daß die Götter der Antike nicht gestorben sind beim Aufkommen des Christentums. – Worüber lächeln Sie?‹

›Sie sind köstlich. Sie haben beschlossen, Ihre Erklärung ewig währen zu lassen. Ich fragte nach dem Kardinal, und Sie gehen bis auf Jupiter zurück. Was wurde aus den Göttern der Antike?‹

›Als sie ihre Anbeter zu verlieren begannen, verloren sie natürlich auch einige ihrer göttlichen Attribute. Sie fanden sogar, daß sie zu sterben fähig wären, wenn sie es wollten. Aber wenn einer von ihnen starb, ging seine Gottheit auf jemand anderen über: Kaum ist Saturn tot, fühlt irgendwo irgendwer eine neue Persönlichkeit auf sich herabgleiten wie eine Zwangsjacke, verstehen Sie?‹

›Aber, Miß Grier ...!‹

›Ich sagte Ihnen ja, es würde Sie ärgern.‹

›Sie wollen doch nicht behaupten, dies sei wahr?‹

›Ich werde Ihnen nicht sagen, ob es wahr ist oder eine Allegorie oder einfach Unsinn. – Zunächst werde ich Ihnen ein merkwürdiges Dokument vorlesen, das mir in die Hände geriet. Es ist von einem Holländer geschrieben, der im Jahre 1912 der Gott Merkur wurde. Wollen Sie zuhören?‹

›Hat es etwas mit der Cabala zu tun?‹ ›Ja. Und auch mit Ihnen. Denn manchmal glaube ich, daß Sie der neue Gott Merkur sind. Schenken Sie sich von diesem Bordeaux ein und hören Sie hübsch still zu!‹

 

Ich wurde 1885 auf einem holländischen Pfarrhof geboren. Ich war die Verzweiflung meines Elternhauses und der Schrecken des Dorfes, ein kleiner Lügner und Dieb, und erfreute mich bester Gesundheit und Laune. Mein wirkliches Leben begann an einem Morgen meines siebenundzwanzigsten Lebensjahres, als ich den ersten einer Reihe von heftigen Schmerzanfällen im Zentrum meines Kopfes verspürte. Dies war meine Gottwerdung. Eine unzarte Hand entleerte die Schale meines Schädels ihrer dummen grauen Substanz und füllte sie mit dem göttlichen Gas der Intuition. Auch mein Körper nahm an dieser Veränderung teil; jede kleinste Zelle mußte verwandelt werden; ich durfte nicht krank oder alt werden oder sterben, ohne es zu wünschen. Als Geschichtsschreiber der Götter bewahre ich die Aufzeichnungen über einen Unfall, durch den, zufolge einer Ungeheuerlichkeit in den überweltlichen Gesetzen, ein Apoll des 17. Jahrhunderts keine vollkommene Vergöttlichung erlangte: ein Arm blieb verderblich.

Damals entdeckte ich das erste große Kennzeichen unseres Wesens, nämlich, daß ein Ding wünschen schon ein darüber Verfügen ist. Es fällt nicht plötzlich in deine Hand oder senkt sich in einem rosigen Nebel auf deinen Teppich herab. Sondern die Umstände des Lebens beginnen ein heimliches Ballett um dich zu tanzen, und das begehrte Ding kommt unter denkbar säuberlichster Nachahmung natürlicher Gesetzmäßigkeit und Wahrscheinlichkeit deines Weges. Wissenschaftler werden dir erzählen, sie hätten niemals die Folge von Ursache und Wirkung durch ein Gebet oder göttliche Belohnung oder Vergeltung unterbrochen gesehen. Glauben diese Narren wirklich, daß ihr Beobachtungsvermögen scharfsinniger ist als die Ratschlüsse eines Gottes? Die armseligen Gesetze von Ursache und Wirkung sind so oft außer Kraft gesetzt worden, daß man ruhig sagen kann, sie seien bloß annähernde Schätzungen. Ich bin nicht nur ein Gott, sondern auch ein Planet, und ich spreche von Dingen, die ich kenne. Ich stahl also meiner Mutter ihre Ersparnisse unter dem Kopfkissen hervor und ging nach Paris.

Aber Rom ist die Stätte, wo wir zuletzt unter unseren eigenen Namen verehrt wurden, und dorthin werden wir unwiderstehlich gezogen. Während der Reise entdeckte ich allmählich weitere Züge meines neuen Wesens. Ich wachte des Morgens auf, um zu bemerken, daß Brocken Wissens über Nacht in meinem Geiste abgelagert worden waren, zum Beispiel das beneidenswerte Wissen, daß ich die Kraft besaß, ohne Reue zu ›sündigen‹. Ich durchschritt die Porta del Popolo in einer Mitternacht des Juni 1912. Ich lief den ganzen Corso hinab, übersprang das Geländer, mit dem das Forum umgeben ist, und stürzte mich auf die Ruinen meines Tempels. Die ganze Nacht, indessen ein feiner Regen niederfiel, zerriß ich meine Kleider vor Freude und Qual, während das Tal herauf ein nicht endenwollender geisterhafter Zug kam, der meine Hymnen sang und mich in einem Turm von Weihrauch verbarg. Mit Tagesanbruch verschwanden meine Anbeter, und keine Flügel flatterten mehr an meinen Fersen. Ich kletterte aus den eingesunkenen Ruinen hervor und ging durch die nebeligen Straßen auf die Suche nach einem heißen Kaffee.

Göttergleich, überlege ich niemals; alle meine Handlungen kommen von selbst. Wenn ich innehalte, um nachzudenken, verfalle ich in Irrtum. Während des nächsten Jahres gewann ich eine Menge Geld bei den Rennen in Parioli. Ich spekulierte in Filmen und afrikanischem Weizen. Ich widmete mich dem Journalismus, und die falschen Darstellungen, die ich aussäte, werden Europas Genesung vom großen Kriege wohl um viele Dezennien verzögern. Ich liebe Uneinigkeit zwischen Göttern und zwischen Menschen. Ich war stets glücklich. Ich bin der Glücklichste der Götter.

Ich war nach Rom berufen worden, um den Göttern als Bote und Sekretär zu dienen, aber mehr als ein Jahr verging, ehe ich auch nur einen einzigen erkannte. Die Kirche von Santa Maria sopra Minerva ist über den Ruinen eines alten, dieser Göttin geweihten Tempels erbaut, und hier fand ich sie eines Tages. So ungeduldig war ich, die anderen zu entdecken, daß ich den Gesetzen meines Wesens zuwiderhandelte und nach ihnen auf die Jagd ging. Ich verbrachte Stunden auf dem Bahnhof mit der Suche nach neu angekommenen Gottheiten. Eines Nachts schritt ich den Bahnsteig auf und ab und wartete auf den Pariser Expreß. Ich zitterte in Vorahnung. Ich hatte einen Zylinderhut und was dazu gehört angelegt, eine korallenfarbene Kamelie und ein blondes Schnurrbärtchen. Von blauem Rauch befiedert und herrliche Schreie ausstoßend, raste der Zug in die Halle. Die Reisenden stiegen aus ihren Abteilen in ein Meer von Fachini und Verwandten. Ich verneigte mich vor einem skandinavischen Diplomaten und einer Wagnersängerin. Sie erwiderten meinen Gruß nur zögernd; ein Blick in ihre Augen zeigte mir, daß sie hervorragend, aber nicht übernatürlich seien. Kein angehender Bacchus befand sich unter den Oxforder Studenten, die auf ihrer Ferienreise waren; die belgischen Nonnen auf ihrer Pilgerfahrt enthüllten mir keine Vesta. Ich suchte eine halbe Stunde in allen Gesichtern, bis der ganze Bahnsteig verlassen dalag und eine lange Reihe alter Weiber mit Scheuereimern erschien. Ich blieb bei der Lokomotive stehen, um einen Schaffner zu fragen, ob noch ein Nachtrain folge. Als ich mich umwandte, gewahrte ich ein seltsames Gesicht, das mich aus dem Fensterchen der Lokomotive anblickte: Mißgestaltet, schwarz von Kohlenstaub, strahlend von Schweiß und Zufriedenheit und grinsend von einem Ohr bis zum andern, stand dort oben Vulkan.

 

Hier hob Miß Grier den Kopf: ›Es folgen noch fünfzig Seiten, die seine Begegnungen mit den andern beschreiben. Haben Sie etwas dazu zu bemerken? Erkennen Sie etwas?‹

›Aber liebe Miß Grier, ich habe keine Kopfschmerzen gehabt! Meine Wünsche gehen nie in Erfüllung!‹

›Nein?‹

›Wie soll ich das verstehen? Sie haben es noch verworrener gemacht. Erklären Sie es näher!‹

›Er sagt dann weiter, daß die Götter fürchteten, der Dinge wegen, die sie eingebüßt hatten, verlacht zu werden: des Vermögens, zu fliegen, zum Beispiel, der Unsichtbarkeit und Allwissenheit und Sorgenlosigkeit. Die Leute würden vergessen, daß ihnen noch ein paar beneidenswerte Kräfte verblieben; ihre seltsame Hochstimmung, ihre Beherrschung des Materiellen; ihr Vermögen, zu sterben, wann es ihnen paßt, und jenseits von Gut und Böse zu leben. Und so weiter.‹

›Was wurde aus Ihrem Holländer?‹

›Er beschloß endlich, wie sie alle es tun, zu sterben. Alle Götter und Heroen sind von Natur die Feinde des Christentums – eines Glaubens, der seine Sehnsüchte und Gewissensbisse nach sich zieht, und in dessen Augen jeder Mensch ein Versager ist. Nur ein gebrochener Wille kann in das himmlische Königreich eingehen. So geben sie schließlich nach; schließlich, erschöpft von Selbstverehrung, gehen sie zum Feinde über. Sie schwören sich selbst ab.‹

Ich war erstaunt über den trostlosen Klang ihrer Stimme. Er hinderte mich, sie um die Nutzanwendung des Ganzen auf die Cabala zu bitten. Wir gingen ins nächste Zimmer, wo ihre Musikanten warteten, um uns einige englische Madrigale darzubieten. Heute aber fallen Nutzanwendungen mir ein, besonders wenn ich mich niedergeschlagen fühle. ›Sie geben nach. Sie gehen zum Feinde über.‹«

Sie haben gehört, hier bezeichnet sich der Erzähler selber als Gott und zwar ist er Merkur. Man stößt also, so paradox das klingt, bei Wilder auf die gleiche Neigung, Christentum und Antike in einer Theologie der antiken Götter miteinander zu verschmelzen, die der europäischen Literatur mit Cocteau einige ihrer bedeutendsten neuen Werke geschenkt hat. Heurtebise (der Engel in Cocteaus »Orpheus«) und Merkur haben einerlei Gestalt.

Und vielleicht ist der jugendliche angelsächsische Held bei Wilder ein Schwellenkundiger wie Merkur noch in anderem Sinne als dem sakraler und profaner römischer Binnenräume. Vielleicht versteht er sich auf die Schwellen zwischen den Zeiten. Wir zumindest glauben, noch nie so wie in diesen wenigen hundert Seiten gefühlt zu haben, daß eine heimliche Tür aus der Cella des Apollo-Tempels zu Chalkis in die Zeichenklasse des amerikanischen College führt, aus welchem dieser junge Merkur hervorkam. Und nun steht er in dem alten Rom auf der Schwelle zwischen den Zeiten, wie Griechengötter schon einmal vor tausend Jahren ähnlich schemenhaft, schattenschnell, angsterweckend in der Weltwende des Jahres 1000 auftauchten.

Verborgener und intensiver als in diesem Jugendwerk Wilders kann das Gefühl von einer Krisis zwischen den Zeiten nicht Ausdruck finden. Daß es aber gleich sehr verborgen und gleich intensiv einen völlig anderen gewinnen kann, das zeigen die Schriften von Wilders Landsmann Ernest Hemingway. Dort die Zeit, ein Medium, erfüllt von hundertfach einander überschneidenden schemenhaften fremdartigen Wesen, die Atmosphäre der Katalaunischen Schlacht. Und nun die Atmosphäre der Werke von Hemingway: der »Fiesta« oder seines letzten Buches »Männer«, eine brausende Leere, eine wahre Windhose von Zeit, von nichts als leerer Zeit, die den Menschen in sich schlingt, um ihn zu vernichten. Und der ingrimmige, versteckte, verbissene Kampf dieser Hemingwayschen Figuren ist der Kampf mit der Zeit: schlagen wir die Zeit tot! Wenn nicht, schlägt sie uns tot. Hemingway gibt die unscheinbarsten Vorfälle seines Alltags, Forellenfangen, Bummeln, Zeitunglesen, Saufen, so passionierend, mit so beispielloser sinnlicher Fülle wieder, weil er in ihnen allen den Kampf um Leben und Tod, das Ringen des Menschen mit Sekunden wie mit Jahren spürt, und wenn er »Männer ohne Frauen« (das ist der Titel seines letzten Buches) oder in der »Fiesta« einen, der die Frau nicht besitzen kann, darstellt, so ist es, weil er im Mann den heroischen Bezwinger oder Bezwungenen der Zeit sieht, dem er vor allem sein Narkotikum, die Liebe, nimmt und dem er im Alkohol den Geheimagenten seines Gegners zur Seite gibt. »Mehr tut man ja schließlich überhaupt nicht, nicht wahr? Sachen angucken und die verschiedensten Alkoholarten durchkosten?« Nur im Stierkampf, da scheint die Zeit ihm mit einem Mal kompakt zu werden, scheint Formen anzunehmen, Farbe zu bekennen. Ist sie nicht selbst ein Stier? Altern und Einsamkeit seine Hörner? Hören wir ihn. So kann nur einer Schlaflosigkeit beschreiben, der Auge um Auge, Zahn um Zahn, mit der Zeit rechtet.

 

»Eines Nachts lagen wir auf dem Fußboden unseres Zimmers, und ich lauschte dem Fressen der Seidenraupen. Die Seidenraupen fraßen Maulbeerblätter auf den Hürden. Die ganze Nacht über hörte man sie fressen und daneben ständig das Geräusch von fallenden Blättern. Ich für mein Teil wollte allerdings gar nicht schlafen, weil ich schon eine ganze Zeit von der fixen Idee besessen war, daß meine Seele sofort meinen Körper verlassen würde, falls ich je im Dunkeln die Augen zumachte und mich gehen ließe. In diesem Zustand befand ich mich schon eine ganze Zeit, eigentlich ständig, seitdem ich nachts in die Luft gesprengt worden und meine Seele aus mir herausgefahren und dann wieder zurückgekehrt war. Ich versuchte, nicht daran zu denken, aber es ging immer wieder nachts los, gerade wenn ich einschlafen wollte, und ich konnte sie nur mit großer Mühe halten. Und während ich heute ziemlich sicher bin, daß sie meinen Körper nicht verlassen hätte, verspürte ich damals im Sommer nicht den geringsten Wunsch, es auf einen Versuch ankommen zu lassen.

Ich hatte verschiedene Arten, mich, während ich so wach dalag, zu beschäftigen. Zum Beispiel dachte ich an einen Forellenbach, in dem ich als Junge geangelt hatte. Ich fischte ihn in Gedanken seiner ganzen Länge nach sorgfältig entlang, sehr sorgfältig unter all den Blöcken, allen Wendungen der Ufer folgend, in allen tiefen und allen klaren, flachen Stellen. Manchmal fing ich Forellen, manchmal auch nicht. Mittags machte ich eine Pause, um mein Lunch zu essen, manchmal auf einem Baumstamm über dem Strom, manchmal an hohem Ufer unter einem Baum, und ich aß mein Lunch immer sehr langsam und beobachtete, während ich so aß, den Fluß unter mir. Oft ging mir der Köder aus, weil ich immer nur zehn Würmer in einer alten Tabaksblechbüchse mitnahm, wenn ich losging. Hatte ich sie aufgebraucht, mußte ich mir neue Würmer suchen, und manchmal war es sehr schwierig, am Ufer des Flusses zu graben, wo die Zedern die Sonne abhielten und es kein Gras, sondern nur kahle, feuchte Erde gab, und oft fand ich gar keine Würmer. Aber ich fand immer irgendeine Art Köder, nur eines Tages im Sumpf konnte ich überhaupt keinen Köder finden und mußte eine Forelle, die ich gefangen hatte, zerschneiden und als Köder benutzen.

Manchmal fand ich in den sumpfigen Wiesen, im Gras, oder unter den Farrenkräutern Insekten und verwendete sie. Es waren Käfer und Insekten, deren Beine wie Grashalme aussahen, und manchmal fand ich Larven in alten morschen Baumstämmen, weiße Larven mit braunen kneifenden Köpfen, die nicht am Haken blieben und sich im kalten Wasser in nichts auflösten, und Holzwürmer unter Blöcken, wo ich manchmal Angelwürmer fand, die im Boden verschwanden, sobald ich den Block hochhob. Einmal benutzte ich einen Salamander, den ich unter einem Baumstamm gefunden hatte. Der Salamander war sehr klein und sauber und behende und von wunderbarer Farbe. Er hatte winzige Füße, mit denen er sich am Haken festzukrallen suchte, und nach diesem einenmal benutzte ich nie wieder einen Salamander, obschon ich sehr viele fand. Auch Grillen benutzte ich nicht, und zwar auch wegen der Art und Weise, wie sie sich am Haken benahmen.

Manchmal lief der Fluß durch eine offene Wiese, und ich konnte im trockenen Gras Grashüpfer fangen und sie als Köder benutzen, und manchmal fing ich Grashüpfer und warf sie in den Strom und beobachtete, wie sie schwimmend den Fluß entlang trieben, und wenn die Strömung sie ergriff, Kreise beschrieben und dann, wenn eine Forelle sichtbar wurde, verschwanden. Manchmal fischte ich so vier und fünf verschiedene Ströme in einer Nacht durch. Ich begann so nah wie irgend möglich an der Quelle und fischte stromabwärts. Wenn ich zu schnell fertig war und die Zeit nicht rumging, fischte ich den Fluß noch einmal durch, indem ich da, wo er sich in den See ergoß, begann und den Strom hinaufging und all die Forellen zu bekommen suchte, die ich vorher verpaßt hatte. In manchen Nächten erfand ich auch Flüsse, und manche waren sehr aufregend, und es erschien mir alles wie ein Wachtraum. Manche dieser Ströme sind mir noch deutlich im Gedächtnis, und ich glaube, daß ich tatsächlich in ihnen gefischt habe, und sie verschwimmen in meiner Erinnerung mit den Flüssen, die ich wirklich kenne. Ich gab ihnen allen Namen und fuhr mit der Eisenbahn und ging manchmal Meilen und Meilen noch zu Fuß, um hinzugelangen.

Aber in manchen Nächten konnte ich nicht angeln, und in diesen Nächten war ich frierend wach und betete wieder und wieder und versuchte für alle Leute, die ich je gekannt hatte, zu beten. Das nahm eine Menge Zeit in Anspruch, denn wenn man versucht, sich an alle Leute, die man je gekannt hat, zu erinnern, indem man zu den frühesten Dingen, an die man sich erinnern kann, zurückgeht – was bei mir die Dachstube in meinem Geburtshaus war und der Hochzeitskuchen meiner Eltern, der in einer Blechbüchse von einem Dachsparren herabhing, und dann in der Bodenkammer unzählige Gläser mit Schlangen und anderem Zeug, die mein Vater als Junge gesammelt und in Alkohol präpariert aufgehoben hatte – der Alkohol war in manchen Gläsern so weit gesunken, daß die Rücken einiger Schlangen und anderer Tiere freilagen und weiß geworden waren – wenn man sich so weit zurückerinnert, besinnt man sich auf eine Menge Leute. Um für sie alle ein Ave Maria und ein Vaterunser zu beten, brauchte man viel Zeit, und schließlich war es dann hell und man konnte einschlafen, wenn man sich an einem Ort befand, wo man im Tageslicht schlafen konnte.« Man hat diese Kunst nackten Realismus, literaturfremd, genannt. Ich denke, sie ist es nicht. Ist einer stundenlang auf der Jagd oder auf der Flucht in den Bergen umhergelaufen, kommt er dann hungrig, gesund, mit geröteten Backen nach Hause, so mag man das wohl als primitive, realistische Lebensführung künstlichem Training, etwa der Massage, gegenüberstellen. So mag man Tolstoi, der alle literarischen Bravourstücke im Zusammenhang großer epischer Pläne nebenher und wie unabsichtlich zuwege brachte, trotz seiner gewaltigen Meisterschaft vielleicht primitiv, realistisch, literaturfremd nennen; Hemingways Verfahren aber ist es ebensowenig wie das eines Masseurs, der durch seine Kunst einen Körper in die gesundeste, beste Verfassung bringt.

Diese Bücher, deren erstes Tiefe mit nüchterner scharfer Zeichnung, deren zweites die vollste Sinnlichkeit der Schilderung mit nüchternstem Wissen verbindet, haben, damit schließen wir, neben allem, was sie den Leser genießen lassen, ihn dies zu lehren: Amerika, wo es auf der Höhe der Form-Kultur steht, hat unsere Probleme, und wir sollen seine besten Autoren nicht suchen, um diesen Problemen uns zu entziehen, sondern um der beispielgebenden Situation inne zu werden, die das europäische Schrifttum gerade für die größten unter den amerikanischen Dichtern noch heute behauptet.


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