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Berliner Puppentheater

Wenn ihr Berliner Kinder einmal ins Puppentheater gehen wollt, habt ihr es gar nicht leicht. In München gibt es zum Beispiel den berühmten Papa Schmidt, der in einem eigenen Theater, das die Stadt München für ihn gebaut hat, mindestens zweimal die Woche spielt. In Paris gibt es auch ein ständiges Kasperltheater, sogar mehrere, die stehen im Luxembourg, das ist dasselbe wie hier der Tiergarten. In Rom gibt es das berühmte »Teatro dei piccoli«, d.h. »Das Theater der Kleinen«: nicht etwa für die Kleinen, sondern von den Kleinen, nämlich den Puppen, und schon ebensosehr für die Großen. Es ist überhaupt dem Puppentheater so gegangen. Lange war es eine Sache für Kinder und für die einfachen Leute, dann ist es allmählich heruntergekommen, niemand hat sich mehr drum gekümmert, und als es wieder entdeckt wurde, war es auf einmal etwas sehr Vornehmes, nur für Erwachsene und sogar nur für die feinen Leute. Nur der Kasperle hat immer zu den Kindern gehalten. Im Sommer kann man sogar in Berlin noch einen ganz schönen Kasperle sehen. Im Lunapark, am Ende der großen Eingangsallee, spielt er den ganzen Nachmittag, nur etwas zu kurz und zu oft dasselbe.

Vor hundert Jahren war es gerade umgekehrt. Da kam der Kasperl im Winter. Und zwar genau um diese Zeit, kurz vor Weihnachten. Und mit ihm eine Menge von andern Puppen, meist unter seinem Oberbefehl. Denn das ist ja das Merkwürdige am Kasperl, daß er nicht nur in den Stücken vorkommt, die man für ihn geschrieben hat, sondern immer frech die Nase in allerhand große, richtige Theaterstücke für die Erwachsenen steckte. Er wußte eben, er kann es riskieren. In den schrecklichsten Trauerspielen passierte ihm nichts. Und wenn der Teufel den Faust holt, muß er den Kasperl doch leben lassen, der es gar nicht besser getrieben hat als sein Herr. Er ist eben ein kurioser Kerl. Oder, wie er selbst sagt: »Ich bin immer 'n kurioser Mensch gewesen. Schon als Junge sparte ich mir immer mein Taschengeld. Und wenn ich etwas zusammen hatte, wissense, wat ick denn damit machte, ich ließ mir 'n Zahn ausziehen.« Also, wenn Weihnachten herankam, erschienen dann an den Straßenecken Anschlagzettel, rote oder grüne, blaue oder gelbe, auf denen zum Beispiel zu lesen stand:

»Der geschundene Raubritter oder Liebe und Menschenfraß oder Gebratenes Menschenherz und Menschenhaut. Danach großes Metamorphosenkunstballett, worin mehrere, ganz nach dem Leben tanzende Figuren und Verwandlungen durch ihre niedlichen, kunstgerechten Bewegungen das Auge des Zuschauers angenehm überraschen werden. Zum Schluß wird der Wunderhund Pussel sich sehr auszeichnen. Um keine Störung zu befürchten, so werden ungesittete Knaben nicht hereingelassen; so ist der Eintrittspreis gestellt: 2 Silbergroschen, 6 Pfennig, für Kinder wie erwachsene Personen.«

Solche Aufführungen waren immer mit den sogenannten »Humoristischen Weihnachtsausstellungen« verbunden, die alljährlich in ein paar berühmten Konditoreien stattfanden. Auf diesen Ausstellungen war eigentlich nichts ausgestellt als ein paar große, farbige Figuren aus Zucker. Da hieß es zum Beispiel:

»Bei dem Konditor Zimmermann in der Königstraße sind feine Zuckerbilder von allen Sorten, nebst dem Brandenburger Tor aus Tragant ausgestellt.« Die Hauptsache aber war dann natürlich das Puppentheater. Dabei ging es im Zuschauerraum nicht immer sehr zimperlich und manierlich zu. Besonders, als später die Vorstellungen in den Konditoreien abgelöst wurden von Julius Lindes mechanischem Marionettentheater oder Nattkes großem Badebassin-Theatersalon, Palisadenstraße 76, wo angezeigt stand: »Unterhaltung durch Laune und anständigen Witz sind von allbekannter Güte«. Die anständige Unterhaltung hinderte aber nicht, daß, wie wir hören, oben im Rang Jungens von 10 bis 14 Jahren mit großen Pfeifen oder Zigarren dasaßen und aus hohen Gläsern Bier tranken.

Der berühmte Berliner Schriftsteller Glassbrenner, der solche Aufführungen beschrieben hat, hat dabei auch die Musik nicht vergessen: das Quartett, von welchem er sagt, daß fünf Mann dazu gehören, von denen einer immer nur mit Kümmel oder Branntwein begleitet.

Wollen wir einmal hören, was da gespielt wurde. Zum Beispiel: »Die Reise um die Erde in 80 Tagen«, »Der Mord im Weinkeller«, »Käthchen von Heilbronn«, »Der Lumpenball oder der verhängnisvolle Affe mit Feuerwerk«, »Der Freischütz«.

Wenn man jemanden fragen würde, woher er glaubt, daß das Puppentheater kam, würde er wahrscheinlich sagen: »Weil es eben viel billiger ist als ein richtiges Theater«. Das ist schon richtig. Aber das ist nur eine kleine, angenehme Nebenerscheinung an diesen Puppen, daß sie nichts essen und kein Gehalt verlangen. In den allerältesten Zeiten war das Puppentheater nicht nur eine spaßige, sondern manchmal auch eine heilige Sache, weil die Puppen Götter vorstellten. (Bei manchen Völkern auf den Südseeinseln ist es noch heute so. Sie machen Puppen aus Stroh bis zur Höhe von 30 Metern. Dann stecken sie einen Mann hinein, der sie bewegt und ein paar Schritt mit ihnen tanzt. Wenn der Mann dann erschöpft unter dem Gewicht zusammenbricht und die Puppe hinfällt, stürzen sich die Wilden darauf, zerreißen sie und bringen die Fetzen als schützende Zaubermittel nach Hause.) Wie aber das Puppentheater später in Deutschland aufkam, ist noch viel merkwürdiger. Das war nach dem dreißigjährigen Kriege. Die Söldnerhaufen zogen im Lande herum, hatten keine Beschäftigung und keinen Sold mehr und machten die Straßen unsicher. So unsicher, daß den Schauspielern, die von Berufs wegen viel unterwegs sein mußten und doch meist nur auf dem Theater fechten und schießen können, die Sache verleidet wurde. Da kam man auf den Gedanken, sie durch Marionetten zu ersetzen, und bei dieser Gelegenheit merkte man bald, was für ein wunderbares Theaterinstrument diese Puppen waren. Vor allem widersprechen sie nie. Sie haben zwar einen eigenen Kopf, noch dazu einen, der im Verhältnis zum Körper viel größer und schwerer ist als beim Schauspieler; und auch im Ausdruck ist er eigensinniger und starrer. Aber das ist nun das Sonderbare, und ihr werdet es ja im Puppentheater beobachtet haben. So ein hölzernes, scharfes Gesicht scheint doch im Mienenspiel alle kleinen und feinen Zuckungen dieses Körperchens zu begleiten, wenn ein richtiger Puppenspieler dahintersteht. Ein richtiger Puppenspieler ist ein Despot, gegen den der Zar nur ein kleiner Gendarm ist. Stellt euch vor, er dichtet seine Stücke allein, malt die Dekorationen selber, schnitzt sich die Puppen so, wie er sie haben will, spricht fünf bis sechs, ja manchmal noch viel mehr Rollen mit seiner eigenen Stimme. Und nirgends trifft er auf Schikanen, Hemmungen, Hindernisse. Auf der anderen Seite aber muß er dann auch mit seinen Puppen mitgehen, die für ihn etwas Lebendiges werden. Alle großen Puppenspieler versichern, das Geheimnis der Sache sei eigentlich, der Puppe ihren eigenen Willen zu lassen, ihr nachzugeben. Der große Dichter Heinrich von Kleist (das sage ich für die paar Erwachsenen, die hier sich zwischen den Kindern versteckt haben und denken, ich sehe sie nicht) hat in seinem Aufsatz über das Marionettentheater sogar bewiesen, daß der Puppenspieler sich ganz und gar wie ein Tänzer verhalten muß, wenn er die Figuren richtig bewegen will. Dann kommt dieser schönste Anblick zustande, wie die Kleinen gleichsam mit ihren Zehenspitzen den Boden kitzeln, weil sie ja, wie die Engel, von oben herunter kommen und nicht, wie richtige Schauspieler, an die Schwerkraft gebunden sind. Aber ihre Überlegenheit hat ihnen auch schon viel Haß und Verfolgungen eingetragen. Erstens durch die Kirche und durch die Obrigkeit, weil die Puppen sich so leicht, ohne boshaft zu werden, über alles mokieren können. Sie brauchen ja die größten Männer nur nachzumachen, dann sieht es so aus: »Was der Mann kann, das kann ja jede Puppe.« So haben sie zum Beispiel im alten Österreich die Tyrannen lächerlich gemacht. Dann aber sind sie bisweilen auch eine gefährliche Konkurrenz für die richtigen Theater gewesen. In Paris zum Beispiel haben die Schauspieler nicht geruht, bis sie sie aus der inneren Stadt in die äußersten Gegenden des Weichbildes verjagt hatten.

Daß die großen Puppenspieler große Originale gewesen sind, ist bekannt. Erstens leben sie nur für ihre Puppen, alles andere ist ihnen egal. Darum werden sie sehr alt. Der Papa Schmidt aus München ist 91 Jahre geworden. Und der berühmte Puppenspieler Winter, der die Kölner Puppenspiele eingeführt hat, in denen der Kaspar »Hänneschen« heißt, sogar 92. Zweitens: die Puppenspieler sind eine Art von Geheimverband. Bei ihnen erbt sich's vom Vater auf den Sohn. Einer lernt's vom andern auswendig. Und nachher trägt er die ganze Geschichte im Kopfe mit sich herum. Jeder von ihnen hat einen Schwur ablegen müssen, daß er niemals eine Zeile niederschreiben will, damit es nicht in unrechte Hände kommt, die ihnen das Brot wegnehmen. So ist es jedenfalls früher gewesen. Heute werden viele Puppenspiele gedruckt, aber die besten sind doch sicher die ungedruckten, die Kinder und Puppenspieler sich selbst machen. Natürlich mit Ausnahme der wundervollen Kasperlekomödien vom Grafen Pocci, die noch überall gespielt werden. Da war so ein ganz großer Puppenspieler, der hieß Schwiegerling. Ich habe selbst noch im Jahre 1918 das Schwiegerlingsche Marionettentheater in Bern gesehen, dann nie wieder etwas davon gehört oder gelesen. Es war schöner als alles, was man sich vorstellen kann. Schwiegerling hat die sogenannten Verwandlungspuppen oder Metamorphosen erfunden. Sein Marionettentheater war eigentlich mehr eine Zauberbude. Er gab nur ein Theaterstück jeden Abend. Vorher aber produzierten sich seine Kunstpuppen. An zwei Nummern kann ich mich noch erinnern. Kasperl kommt tanzend mit einer schönen Dame herein. Plötzlich, wie die Musik gerade am süßesten spielt, klappt die Dame ein, verwandelt sich in einen Luftballon, der Kasperl, weil er ihn aus Liebe festhält, in den Himmel entführt. Eine Minute bleibt die Bühne ganz leer, dann kommt Kasperl mit einem furchtbaren Krach heruntergefallen. Die andere Nummer war traurig. Auf einem Leierkasten spielt ein Mädchen, das aussieht, als wäre es eine verwunschene Prinzessin, eine traurige Melodie. Auf einmal klappt der Leierkasten ein. Zwölf zuckerwinzige Tauben fliegen heraus. Die Prinzessin aber versinkt mit hochgehobenen Armen stumm in der Erde. Und eben, wie ich dies erzähle, kommt mir noch eine andere Erinnerung von damals. Ein langer Clown steht auf der Bühne, verbeugt sich, beginnt zu tanzen. Während des Tanzens schüttelt er einen kleinen Zwergenclown aus dem Ärmel, der genauso rot-gelb geblümt gekleidet ist wie er; und so bei jedem zwölften Walzertakt einen neuen. Bis schließlich zwölf ganz gleiche Zwergen- oder Babyclowns um ihn im Kreise herumtanzen. Ich weiß schon, daß das unglaublich klingt, aber wahr ist es. Auf einer anderen Puppenbühne wieder war die Hauptattraktion ein Soldat, der rauchte und den Rauch von sich blies. Ein Hamburger Konkurrent von Schwiegerling ließ die »Öffentliche Enthauptung des Fräulein Dorothea« spielen; und setzte nach der Enthauptung Beifall ein, so bekam die Puppe ihren Kopf zurück und wurde nochmals geköpft. Dieser selbe Hamburger Puppenspieler gab seinem Kasperle immer eine Taube bei, so wie mit dem Wiener Wurstl ehemals ein Karnickel und mit dem französischen Guignol, so heißt dort das Kasperle, eine Katze auf das Theater kam.

Nun aber zurück nach Berlin. Ein andermal werde ich euch mehr von Puppen erzählen, inzwischen könnt ihr euch den »Pole Poppenspäler« von Storm holen, wo so ein großes Puppenspieleroriginal beschrieben ist. Wir hören noch von einer anderen, nämlich stummen Puppenvorstellung, die in Berlin um Weihnachten aufgemacht wurde. Sie ist eigentlich ein berlinisches und weltliches Gegenstück zu den süddeutschen frommen Krippen und hieß »Theatrum mundi«, Welttheater. Man sah in verschiedenen, auf der Bühne parallel laufenden, durch Versatzstücke voneinander getrennten Reihen Vorgänge des täglichen Lebens in beständiger Bewegung auf unsichtbaren Rollen an sich vorüberziehen. Wild vom Jäger und Hunden verfolgt; Wagen, Reiter und Fußgänger; weidendes Vieh; Schiffe mit Dampf oder Segel; ein Eisenbahnzug; Jungen, die sich balgten – alles kam in bestimmten Abständen wieder. Es war eine Art mechanischer Vorläufer des jetzigen Kinos.

Und endlich lebende Bilder, aber von Puppen gestellt. Zum Beispiel: »Die drei Männer im Feuerofen«, oder »Das Erdbeben von Lissabon«, oder »Die Schlacht bei Zorndorf«, oder »Das Kasino in Baden-Baden«, oder »Die Entdeckung Amerikas«.

Und nun wollen wir ganz zum Schluß hören, wie der Mann, der davorsteht, natürlich ein echter Berliner, das den Berliner Kindern erklärt: »Hür präsentiert sich Ihnen eine sehr interessante Gruppe. Der Gesang der drei Männer im feurigen Ofen. Dieses macht sich außerordentlich hübsch und die Flammen sind sehr täuschend. – In der Mitte des Ofens stehen drei Männer und wundern sich, daß sie nich in Schweiß jeraten; außerhalb in der Ecke steht der grausame König Nebukadzneter und läßt eine Kiepe Torf nachschmeißen, indem er ausruft: »Euch will ick schon mürbe kriegen.« Die drei Männer aber kehren sich nicht daran, sondern singen: »Üb immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Jrab.« Über diese Frechheit wird der König sehr eklig, und, um ihn noch mehr zu ärgern, steckt der eine seinen Kopp aus der Türe und ruft mit feuerlicher Stimme: »Haben Sie die Jüte und machen Sie die Klappe zu.«

Oder die Entdeckung Amerikas: »Zuerst präsentiert sich Ihnen Christof Columbus, wie er eben mit der Erfindung Amerikas beschäftigt ist. Der Himmel, wie Sie jefällichst sehen werden, is janz trübe, aber det Meer is ruhig und wart' die Sache ab. Columbussens Schiffsleute loofen teilweise aufs Verdeck rum und schreien: »Land«; teilweise umarmen se sich, teilweise stürzen se ihm zu Füßen. Er steht aber ruhig an det Mast jelehnt, streckt die Hand vor sich hin und sacht mit ernster Stimme: »Det is Amerika!« – Janz hinten im Nebel bemerken se wohl den spitzen, jrünen Strich, wo sich die Wellen brechen, und ein nackender Mensch mit einem Feigenblatt darauf steht. – Dieses ist ein Vorposten, den Amerika gestellt hat. Sowie er det jroße Schiff jewahr wird, schreit er in seiner Muttersprache:»Wer da?« Worauf ihm Columbus antwortet: »Jut Freund, ick nenne mir Columbus.« – »Was wollen Sie hier«, frägt der neue Welter. »Bloß entdecken.« – »Weiter nischt«, sagt der Eingeborene, salutiert, indem er zwee Finger an den Kopp legt und sagt: »Treten se näher, wir ham schon lange jewünscht, mal entdeckt zu werden.« – Auf diese Weise ist Amerika entdeckt worden, welches eine Republik ist, die ich Ihnen aus vielen Gründen nicht empfehlen kann. Sobald diese Republik einen König nimmt, wird sie eine Monarchie und dieses ist begreiflich.«

Mit dieser schönen Rede schließen wir heute. Hoffentlich können wir nächstes Mal mit einer ebenso schönen eröffnen.


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