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Borsig

Wir haben nun schon eine ganze Menge von Berlin erlebt; wir haben uns um Marktwesen und um Straßenhandel, um den Verkehr, um die alten Berliner Schulen, um das unheimliche Berlin vor hundert Jahren, um den Berliner Dialekt, sogar ein wenig um die Baugeschichte Berlins gekümmert, von unserer großen Spielzeugwanderung gar nicht zu reden, und dabei sind wir doch eigentlich um eine Hauptsache nur immer behutsam herumgestrichen: um das nämlich, wodurch Berlin schließlich so wichtig geworden ist, wodurch es mit der Zeit seine drei Millionen Einwohner sich zugelegt hat, unter denen auch wir sind, kurz und gut über das, dem wir's vielleicht selber verdanken, daß wir hier als Berliner miteinander Bekanntschaft machen. Das sind Großindustrie und Großhandel. Vom Handel werden wir heut noch nicht sprechen, aber eine Industrie oder vielmehr nur eine einzige Firma werde ich euch zeigen, in der ihr sogleich auf den tausendsten Teil von den drei Millionen Bewohnern Berlins trefft. Ja auf mehr: 3900 Mann ist die Belegschaft des Borsig-Werkes groß, von dem ich hier sprechen will, und 1000 Beamte dazu, da kommt ihr auf einen Betrieb, der in seinen guten Zeiten 5000 Mann beschäftigt.

Was ist Borsig? Viele von euch haben schon den Namen gehört. Unter denen werden die meisten auch wissen, daß Borsig eine Maschinenfabrik ist. Und wo die steht, das werden nun wieder viele von ihren Sonntagsausflügen wissen. Wenn man nämlich Berlin auf der Straße nach Oranienburg und Velten verläßt, kommt man über Tegel, wo es schon allerhand zu sehen gibt. Erstens mal, wenn ihr etwa mit der Schule mal einen Ausflug nach Tegel gemacht habt, hat euch der Lehrer bestimmt die Villa von der Familie Humboldt gezeigt. Ich meine die beiden Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt, die auf den Pfeilern vor der Universität sitzen, als wenn sie noch immer nicht ausstudiert hätten oder am Ende Kolleg schwänzen. Der eine von diesen beiden Humboldts wird uns nachher, genau nach 17 Minuten, noch einmal vorkommen. Dann gibt es in Tegel das Zuchthaus, von dem man von außen mehr sieht als sonst von Zuchthäusern. Sehr viele Zellenfenster gehen nämlich nach der Straße. Ich denke aber, sie werden so hoch sein, daß die armen Eingesperrten nicht werden heraussehen können. Dann geht ihr noch ein paar Minuten auf der Straße nach Oranienburg, und ihr seid bei Borsig. Am Außentor empfängt eine Halle euch. Sie ist, wie alle übrigen Borsiggebäude, aus roten Ziegeln errichtet, und gleich in dieser Halle gibt es etwas, wovor ihr stutzt. Da habt ihr eine Reihe Ständer oder Stative, die sind über und über mit Nummern besät, neben jeder Nummer ein Name, unter jedem Namen ein kleiner Schlitz. In manchen stecken Karten. Diese Karten, die da hervorkucken, sagen, der und der, Nr. 698 oder Nr. 82 oder Nr. 1014 von der Belegschaft sind augenblicklich nicht im Betrieb. Denn jeder, der kommt, muß hier seine Karte aus seinem Fach nehmen, um sie an einer automatischen Stempeluhr in der Werkstatt beim Eintritt und dann, meist nach acht Stunden, wieder beim Fortgehen stempeln zu lassen. Nach der Stundenzahl, die auf dieser Kontrollkarte steht, wird er bezahlt.

Wenn ihr nun aber durch das Tor getreten seid, dann ist das erste, was euch auffällt, wahrscheinlich, wie schwer es ist, sich hier zurechtzufinden, wie fremd man sich hier fühlt, wie man gleich merkt, daß hier eigentlich jemand, der nicht zum Werk gehört, gar nichts zu suchen hat. Was soll man sich auch bei diesen mehr als zwanzig Hallen und Werkstätten, Schuppen und Schornsteinen denken, die unregelmäßig über ein großes Terrain verteilt, weniger durch Straßen als durch Schienen miteinander verbunden sind? Denn die Eisenbahn fährt hier gleich in das Werk hinein. An Ort und Stelle werden die Kessel, die Schiffsmaschinen, die Dampfturbinen, die Rohre, die chemischen Apparate und all die unzähligen andern Fabrikate verladen. Verladen werden sie aber nicht nur per Eisenbahn. Dieses große Gelände stößt an der anderen Seite, gegenüber vom Eingang, an den Tegeler See. Hier laufen die Kähne an, die dann langsam über Havel und Elbe die Maschinen verfrachten, die von überseeischen Kunden bei Borsig bestellt sind und in Hamburg verladen werden. Das zweite aber, was euch auffällt, ist ein Turmhaus. Zwölf Stock hoch, aus schönen, glasierten Ziegeln errichtet und damals, 1923, mit seinen 65 Metern das höchste Berlins. Übrigens ist es noch nicht ganz fertig, weil immer irgendetwas im Betrieb zu tun ist, wofür das Geld nötiger ist.

Vielleicht fragt man euch nun, wo ihr eintreten wollt. Ob vielleicht in eine Halle, wo grade Mammut-Pumpen, oder Härte-Apparate mit Rührwerk, oder Gruppenrohrkessel, oder Niederdruckläufe mit Überdruckverschaufelung gebaut werden. Da steht ihr natürlich mit offenem Mund da und seht, was das heißt: Deutsch können. Ihr könnt ruhig überzeugt sein, daß ihr mindestens drei Viertel der wichtigsten Worte, die hier jahraus, jahrein, von früh bis spät gebraucht werden, nie im Leben gehört habt, und daß ihr euch nicht das mindeste drunter vorstellen könnt, selbst wenn ihr von den einfachen ein paar kennen solltet und z.B. Bescheid wißt, was eine Drehbank ist oder eine Fräsmaschine. Andere Jungens allerdings, vielleicht selbst jüngere als ihr, wissen genau Bescheid. Mindestens die aus der Lehrlingsabteilung von Borsig. Da gibt es nämlich oben, im vierten Stock von einem dieser Fabrikhäuser – ich bin in einem Fahrstuhl hinaufgefahren, dem komisch zumute gewesen sein muß, weil er sonst nur Ketten, Maschinenteile und ähnliches zu befördern hat – eine Lehrlingsabteilung, wo fast 300 Lehrlinge, zum großen Teil Kinder von Männern, die in dem Werk schon länger beschäftigt sind, zu Arbeitern herausgebildet werden. Sie haben da 100 Werkzeugmaschinen für sich, an denen sie lernen. Die Firma ist auf diese Abteilung stolz, weil sie als eine der ersten begann, Lehrlinge nicht nur von Fall zu Fall einzustellen, wie der Betrieb es gerade verlangte, sondern sie von vornherein planmäßig auszubilden. Dazu hat sie neben der Lehrlingswerkstatt auch eine Werkschule mit Klassen, Lehrern, Kino und richtigem theoretischen Unterricht, den die Jungens vier Jahre mitmachen müssen.

Nun wollen wir uns aber nicht länger aufhalten lassen, weder durch die sonderbaren Maschinennamen noch durch manches, was ich gerne erzählen würde, sondern entschlossen in eine von diesen Hallen eintreten. Nehmen wir an, wir haben Glück, so werden bei Borsig grade Lokomotiven gebaut. Denen können wir dann in den verschiedensten Abteilungen begegnen. Wir wollen uns aber nur um die erste und letzte kümmern. Und wirklich haben wir Glück. Grade jetzt baut Borsig 70 Lokomotiven für Serbien auf Reparationskonto. Die erste Station ist die Kesselschmiede. Da treten wir also ein. Hier werden im Jahre ungefähr 600 Lokomotivkessel zusammengeschmiedet. Ein Lärm empfängt uns, als würden jetzt grade die 600 auf einmal zusammengeschmiedet. 40 bis 50 Menschen, nicht mehr, mögen in dieser Riesenhalle an der Arbeit sein. Und da sie über 100 Meter lang ist, verlieren sich natürlich die Einzelnen. Das ist gerade das Merkwürdige: der Lärm ist betäubend, aber Menschen sieht man nicht viele. Zuerst, solang es einem ungewohnt ist, kommt man nicht vorwärts, so vorsichtig bewegt man sich schrittweise. Denn nicht nur unter uns sind überall Schienen, sondern erst recht über uns, auf denen auf Rädern die großen Krane laufen, die die Lasten, Eisenwaren, Kesselstücke, Radhälften denn die großen Räder werden immer in Hälften fabriziert und danach zusammengeschweißt – von einem Ende der Halle zum anderen schleppen. Man weiß nie, ob nicht grade so ein zierliches Schmuckstück über einem hin- und herbaumelt. Genietet werden die Kessel mit sogenannten hydraulischen Nietmaschinen, das sind eine Art von Pumpen, deren Kolben unter riesigem Druck stehen. So eine Nietmaschine, die die Stücke unter einem Druck von 2000 Zentnern zusammennietet, wird von einem einzigen Menschen bedient. Dabei müßt ihr nicht denken, daß der Herstellungsprozeß bei Borsig damit anfängt. Nein, schon die einzelnen Stücke, aus denen diese Kessel zusammengeschmiedet werden, werden im eigenen Betrieb hergestellt. Das ist in einer anderen Halle, der sogenannten Hammerschmiede, wo zwölf Schmiedeöfen und 18 Dampfhämmer, sieben hydraulische Pressen und was noch sonst für Maschinen das Roheisen zu den gewünschten Formen verarbeiten. Die Eisenerze freilich, aus denen dieses Roheisen gewonnen wird, besitzt Borsig nicht selbst. Die kauft er in Deutschland oder aus Skandinavien. Von da ab aber bleibt nun alles bis zur fertigen Lokomotive im eigenen Betrieb. Dabei wird die Gewinnung des Roheisens aus den Erzen nicht hier, sondern in den Werken betrieben, die Borsig in Oberschlesien an der polnischen Grenze hat. Eine solche Anlage, wo alles vom Rohprodukt bis zur fertigen Ware von einer einzigen Firma hergestellt wird, nennt man vertikale Konzentration; auf deutsch eigentlich: senkrechte Zusammenfassung. Man stellt sich vor, das Eisen ist gewissermaßen am tiefsten, unter der Erde, und dann steigt der Erzeugungsvorgang immer höher, verfeinert sich immer mehr, bis er bei der fertigen Ware anlangt, hier also bei der Lokomotive. Ihr ahnt ja gar nicht, was für verschiedene Arten Lokomotiven es gibt, die alle dort fabriziert werden. Elektrische Lokomotiven, Lokomotiven für Kohlen-, aber auch für Holzfeuerung; für Brasilien zum Beispiel, wo der Brennstoff sehr teuer ist, so daß sie besonders sparsam arbeiten müssen, feuerlose Lokomotiven, die durch Heißdampf betrieben werden und die man für feuergefährliche Betriebe braucht oder für Schlachthöfe, wo es nicht rußen darf. All diese Dinge entstehen bei Borsig. Jeder Staat verlangt etwas anderes, jeder Auftraggeber hat seine besonderen Wünsche, denen manchmal mit unheimlicher Geschwindigkeit entsprochen werden muß. Als für die Untergrundbahn-Strecke Spittelmarkt-Alexanderplatz die Spree untertunnelt werden mußte, senkte sich der Kopf des fertigen Tunnelteiles. Es drang Wasser in den Tunnel, und der ganze Bau wurde schwer gefährdet. Morgens um zehn Uhr hatte die Bauleitung eine Besprechung mit Borsig. Borsig schlug vor, fünf Riesenpumpen aufzustellen, die pro Minute alle zusammen 125 Kubikmeter Wasser heben sollten. Nachmittags um drei Uhr ging die Bestellung auf Lieferung der vorgeschlagenen Pumpen in Tegel ein. Trotzdem alle Zeichnungen neu gemacht werden mußten, rollten abends um elf Uhr alle fünf Riesenpumpen fertig zum Tor hinaus. Am nächsten Morgen wurden sie in Betrieb gesetzt, und in zwei Stunden war die Baustrecke der U-Bahn gerettet.

Nun aber zurück zu unserer Lokomotive. Viele Stationen überspringen wir, um sie zuletzt in der Montagehalle wiederzufinden, wo sie aus ihren einzelnen Teilen zusammengesetzt und schließlich lackiert wird. Das Lackieren allein dauert gegen acht Tage. Als ich die Halle betrat, war grade Mittagspause. Es war also still. Die Arbeiter saßen auf dem Boden und packten ihr Frühstück aus. Es roch nach Lack. Vorn war die große Klappe, sozusagen das Bruststück der Lokomotive, geöffnet, und man konnte ins Innere hineinsehen. Zwischen den Geleisen, in denen sie stand, war ein tiefer Schacht, so daß man an ihrem Untergestell arbeiten konnte. Diese Lokomotivstände sind so gebaut wie die Schiffsdocks, an denen es ja auch das Wichtige ist, daß man von unten an die Schiffe heran kann. Solcher Lokomotivdocks gibt es 39 bei Borsig. Wenn nun diese Lokomotiven fertig geworden sind, dann werden sie von Borsigschen Leuten selber nach Serbien heruntergefahren. Aber das ist so nicht nur mit Lokomotiven, sondern mit den meisten großen Maschinen, seien es nun Dampfturbinen, Pumpen, Anlagen für die Veredelung von Öl oder ähnlichem, die bestellt werden. Solche Waren kann man den Auftraggebern nicht einfach zuschicken wie einen Kleiderschrank; die müssen an Ort und Stelle genau richtig eingepaßt und in Betrieb gesetzt werden. Für diese Aufgabe hat man eigene Arbeiter. Das sind die sogenannten Richtmeister, die durch ihren Beruf oft weit in der Welt herumkommen. Es kommt vor, daß solche Leute lange fortbleiben, wie zum Beispiel einer der Borsigschen Richtmeister 1925 nach Lahore in Indien abfuhr und zwei Jahre dort blieb, um eine bei seiner Firma hergestellte Rohrleitung in ein Kraftwerk einzubauen. Woher ich das weiß? Nun, es hat natürlich kein Mensch in so einem Werk Zeit, sich mit einem stundenlang hinzustellen und alles zu erzählen, wofür man sich interessiert. Da muß man sich schon selber ein bißchen umtun. Und da ich wußte, daß es bei Borsig, wie bei manchen anderen sehr großen Werken, eine Zeitung für die Werksangehörigen gibt, so habe ich darin ein bißchen geschnuppert. Da steht nicht nur die ganze Geschichte von Lahore drinnen, da findet man vor allem die neuesten technischen Erfindungen auf dem Gebiet des Maschinenbaus. Man findet auch Beiträge von Arbeitern drin, Ratschläge, manchmal sogar Beschwerden. Und vor allem in jeder Nummer ein Verzeichnis der Leute, die Verbesserungsvorschläge für irgendwelche Einzelheiten des Betriebes, die sie gerade besonders gut kennen, gemacht haben. Diese Verbesserungsvorschläge werden im Büro geprüft und manchmal prämiiert.

Wenn ihr nun mit mir mitgekommen wärt, dann hättet ihr gleich am Anfang etwas gesehen, wovon ich euch nun erst zum Schluß erzähle. Im Vorhof nämlich stehen ganz zierlich im grünen Gras, auf einem kleinen Sockel von roten Ziegeln, beinah wie Denkmäler, zwei Borsigfabrikate, mit denen es eine besondere Bewandtnis hat. Das eine ist eine Maschine mit einem riesigen Schwungrad und das andere ein kleiner Dampfkessel. Sie gehören zu den ältesten Erzeugnissen der Fabrik. Der Kessel ist an die 50 Jahre in einem Betrieb gewesen. Dann hat Borsig für schweres Geld ihn zurückgekauft, um ihn hier, gewissermaßen als Andenken, aufzustellen. Man hält hier viel auf solche Zeugnisse aus vergangenen Zeiten, und wenn man bedenkt, daß Borsig in sieben Jahren sein 100. Jubiläum feiern wird, dann kann man das auch verstehen. Ein so hohes Alter ist bei einer Fabrik genausowenig Zufallssache wie bei einem Menschen. So wie ein Mensch, um alt zu werden, auf lange Sicht leben muß, nicht wegen jeder Kleinigkeit sich aufregen darf und nicht alles naschen, worauf er gerad' Lust hat, so muß auch ein großes Unternehmen, wenn es alt werden will, sehr besonnen, vorsichtig, gründlich arbeiten. Ich könnte euch nun genausoviel, wie ich euch von dem jetzigen Borsig erzählt habe, vom früheren erzählen. Wie nämlich aus der kleinen Lokomotivenfabrik, die 1841 die ersten deutschen Lokomotiven gebaut hat, dieses riesige Werk wurde. Vielleicht ein andermal, wenn ich von den Berliner Stadtteilen erzähle. Borsig, das war nämlich früher Moabit, nicht Tegel, wie denn die ganze Geschichte der Industrialisierung Berlins mit Moabit eng zusammenhängt. Heute ist aber Schluß, und nun schulde ich euch nur noch den Alexander von Humboldt, den ich euch vor 17 Minuten versprochen habe. Wie soll ich das nun noch schnell erzählen? Kurz und gut, der Mann, der Borsig gegründet hat, hat wahrscheinlich als Ausgleich gegen das schwere stumpfe Maschinenwesen, um das er sich früh bis spät kümmern mußte, Treibhäuser angelegt, die damals die berühmtesten von Berlin waren und in denen viele fremde, exotische Pflanzen zu sehen waren. Die hat der große Naturforscher, Alexander von Humboldt, dort studiert und bewundert. Er hat es auch noch erlebt, wie 1847 mit großer Feierlichkeit die Vollendung der hundertsten Lokomotive bei Borsig gefeiert wurde. Und weil das Borsig-Werk, so wie andere Menschen nach Jahren, nach fertigen Lokomotiven rechnet, so wollen auch wir mit einer Lokomotive schließen. Nämlich mit der zwölftausendsten. Die ist vor fünf Jahren als Einheitslokomotive und Vorbild für alle Lokomotiven der deutschen Reichsbahn bei Borsig gebaut worden.


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