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Straßenhandel und Markt in Alt- und in Neuberlin

Kennt ihr das Märchen vom Goldnen Topf, erinnert ihr euch an das seltsame Äpfelweib, dem der Student Anselmus da am Anfang begegnet? Oder kennt ihr Hauffs Märchen »Zwerg Nase«, das mit einem Markt beginnt, auf dem die Hexe mit spinnedürren Fingern die Waren betastet, um das Beste für sich nach Hause zu nehmen? Ist es euch nicht selbst schon, wenn ihr mit der Mutter den Markt betratet, spannend und festlich vorgekommen? Denn noch im einfachsten Wochenmarkt steckt etwas vom Zauber der orientalischen Märkte, der Bazare von Samarkand. Oder habt ihr den neuen Film gesehn, wo einer den Markt am Wittenbergplatz aufgenommen hat, und es ist spannender geworden als mancher Detektivfilm? Eins aber geht in den Film natürlich nicht hinein, und auch Bücher handeln davon nur selten: das Marktgespräch nämlich, das eigentliche Verhandeln und Handeln, all dies Hin und Her um Ware und Geld, das auf seine Weise ebenso saftvoll und üppig ist wie das Bild, das der Markt für die Augen bietet. Ganz besonders gilt das für den Berliner Markt. Vor mehreren Monaten sprach ich euch hier vom Dialekt von Berlin. Der Markt und der Straßenhandel überhaupt ist nun eine der Stellen, an denen sich das Berlinische am besten erlauschen, in seiner Entwicklung, Bewegung erfassen läßt. Vom alten und neuen Berliner Straßenhandel will ich euch heute erzählen.

Die Marktweiber waren schon im alten Berlin etwas ganz Besonderes. Sie hatten eben, als einzige unter allen Händlerinnen, Erlaubnis, ihre Ware auf dem Wochenmarkt auszubieten, und werden meist Bauernfrauen gewesen sein, die Erzeugnisse aus der eigenen Wirtschaft feilboten. Ganz anders die sogenannten Hökerfrauen. Sie durften keine besseren Waren führen und mußten obendrein als Entgelt für ihre Handelserlaubnis im Monat vier Pfund Wolle fürs Lagerhaus spinnen. Da ihnen auch das Einkaufen außerordentlich beschränkt war – sie durften nicht von den Bauern aufkaufen, sondern nur an Markttagen zu später Stunde die Reste an sich bringen – so machten die Hökerinnen elende Geschäfte und schlugen sich mit ihrer Familie notdürftig durch. Das war schon im 18. Jahrhundert so. Und wollte damals eine Frau aus niederem Stand zum Familienunterhalt beitragen, wie so viele Soldatenweiber, so blieb ihr manchmal gar nichts weiter übrig, als Hökerin zu werden. Für eine regelrechte Marktfrau gab es denn auch keine größere Beleidigung, als wenn man sie »Hökerin« nannte. Glassbrenner hat in einer von seinen besten Szenen so eine Marktfrau und ihre weltberühmte Berliner Schnauze geschildert und was ihr alles einfällt, um einem Kunden, der sie grad eben »Hökerin« geschimpft hat, heimzuleuchten. »Hökerin?« wiederholt sie, steht auf und stemmt den Arm in die Seite: »Hörn Se mal, Sie olle Bulldogge, nu blaffen Se mal nen Ogenblick vor ne andre Tiere oder ick tret Ihnen uffn Fuß, det Se acht Tage lang winseln sollen.« – Der Herr sagt: »Nein, das ist doch merkwürdig, was diese Hökerinnen schimpfen können.« – Hökerin: »Schimpfen? – Son dämlicher Lulatsch wie er is, dem kann man ja gar nich schimpfen, der is ja schon allens doppelt und dreifach jewesen, wat man Niederträchtjes von ihm sagen kann. Son Schatten von Mannsperson will Leute zum besten haben. Er ausjehungerter Federfuchser, er will die Leute hier schikanieren? Die Leute will er hier schikanieren? Soll er sich doch lieber an nen Jaljen hängen, damit kein anständijer Mensch mehr an ihm ein Verbrechen bejeht. Soll er sich doch lieber zusammenknautschen und zum Lumpenmann jehn und sich forn viertel Pfund Lumpen verkoofen. Nehm er sich doch Kiessand und scheuer sich reene, damit nuscht mehr von ihm übrig bleibt. Häng er sich an nen Mond, damit die Lüderjahns früh zu Hause jehn! Und nehm er sich ja in acht, det er die Kurrendejungens nicht zu nah kommt, sonst singen die: Jott bewahre mir in Jnaden.« – Es war ein richtiger Sport geworden, die Marktweiber zum Schimpfen zu reizen. Man sieht ja hier, daß es sich lohnte. Richtig von Herzen und mit Ausdauer schimpfen können, ist eben ein großes Talent. Das kann nicht jeder, der es gern möchte. Dazu gehört nicht nur viel Grobheit und eine gesunde Lunge, sondern ein großer Wortschatz und nicht zuletzt Geist. Daß man den Budenbesitzerinnen und Marktweibern von Berlin den gern zuspricht, davon zeugt manche hübsche Geschichte. Zum Beispiel diese, in der erzählt wird, wie eine Obstverkäuferin auf dem Totenbett liegt, und das Sterben wird ihr sehr schwer. Ihr Mann steht daneben, weiß nicht recht, was er sagen soll, und versucht, sie zu trösten: »Gräme dir nich darüber, det du sterben mußt; det find sich allens, det wird allens schon jehn! Seh mal, eenmal müssen wir ja alle in unserm Leben sterben!« – »Schafskopp«, lispelt die arme Frau, »det is es ja eben! Wenn man zehnmal oder zwölfmal sterben müßte, denn würd ick mir aus det eine Mal jar nischt machen.« Das große Berliner Schlagwort »Bange machen gilt nicht« ist auch für diesen Typus der Wahlspruch gewesen. Besonders läßt sich der Berliner bekanntlich von Bildung nicht imponieren. Oder wenn er es tut, dann läßt er sich's doch nicht merken. Wir haben ein schönes Berliner Bild aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Damals gab es ja noch kaum Witzblätter. Dafür waren in den Buch- und Papierhandlungen einzelne Bilder mit Unterschriften zu kaufen, die oft von großen Künstlern, von Hosemann, Franz Krüger, Dörbeck und andern gemacht waren, häufig in Tuschfarben. Also von einem dieser Bilder spreche ich hier. Da sieht man in der Nähe des Brandenburger Tores eine dicke Obstfrau vor ihren Körben sitzen, und neben ihr stehen ein besserer Herr nebst Begleitung, Fremde, wie man ihnen ansieht, die sich in Berlin nicht auskennen. »Liebste Frau«, sagt der Herr und zeigt auf die Victoria auf dem Brandenburger Tor, »können Sie mir nicht sagen, was das da oben auf dem Tor für eine Puppe ist?« – Antwort: »Ja nu, wat wird det sind. Alte römische Geschichte, Kurfürsten von Brandenburj, siebenjährijer Kriej, det is et!« – »Ach so«, sagt der Herr, »na ich danke auch sehr.«

Ich möchte nicht behaupten, daß dieser Berliner Typ heute ausgestorben ist. Nur sind die Klassenunterschiede schärfer geworden, das Volk bleibt mehr unter sich, es ist heute nicht mehr so leicht, als Kunde im Rummel der Markttage diesen Leuten näher zu kommen. Darum ist auch für so klassisch schöne Schimpfereien, wie Glassbrenner sie uns überliefert hat, keine Zeit mehr. Die heutigen Marktfrauen sind mehr Geschäftsfrauen geworden, und die Fleischer, die auf den Markt kommen, haben ihre Vorratskammern in den großen Kühlhallen, wo sie vor Beginn des Marktes aufladen und nach dem Markt wieder abladen. Dafür haben wir ein andres Schauspiel, das es als Augenweide gewiß mit dem Ohrenschmaus des alten Berliner Wochenmarktes aufnehmen kann: die Markthallen. Für mich war es, wie ich klein war, ein großes Fest, in die Markthalle am Magdeburger Platz mitgenommen zu werden, wo es im Winter so warm und an heißen Tagen so kühl war. Alles ist da anders wie auf Wochenmärkten im Freien. Zunächst die riesigen Haufen von Ware der gleichen Art, die hier in den Ständen scharf aneinandergrenzen. Vor allem aber der Geruch, der sich im geschlossenen Raum aus Fischen, Käse, Blumen, rohem Fleisch und Früchten ganz anders als unter freiem Himmel mischt, und der in seinem Unentschiedenen und Schummrigen so gut zu dem Licht paßt, das durch die trüben, in Blei gefaßten Scheiben hereindringt. Nicht zu vergessen den Steinboden, der immer in Abwässern oder Spülicht gebadet daliegt, und über den man wie über schlüpfrigen, kalten Meerboden hinspaziert. Weil ich, seitdem ich klein war, kaum je in einer Markthalle wieder gewesen bin, darum hat ein Besuch in ihnen für mich den ganzen Reiz von früher behalten. Und wenn ich mir ein besonderes Fest machen will, dann gehe ich nachmittags zwischen vier und fünf manchmal in der Markthalle an der Lindenstraße spazieren. Vielleicht begegne ich da mal einem von euch. Aber wir werden uns nicht erkennen. Das ist die Schattenseite vom Rundfunk.

Manche Art Handel ist nun freilich ganz und gar aus den Straßen Berlins verschwunden. So die Sandwagen, die bis ungefähr 1900 vor jedem Hause und auf jedem Hof ihr: »Sand, weeßen Sand!« ausriefen. Sie kamen aus den Rehbergen im Norden, vom Kreuzberg aus dem Süden und aus allen andern Richtungen mit dem weißen Sand, den die Hausfrauen einst zum Bestreuen der weißgescheuerten Dielen brauchten. Oder die Bücklingswagen. Oder die Kolporteure, Hunderte von ärmlichen Existenzen, die mit Schundromanen mit bunten Bildern oder am häufigsten vielleicht mit Noten und Liedertexten gehandelt haben. Vor der Entwicklung des Reklamewesens war ja der Buchhandel, wenn er seine Erzeugnisse bis ins Volk herunter vertreiben wollte, auf Kolporteure angewiesen. Man möchte sich gern den vollkommnen Bücherreisenden dieser Zeit und dieser Volksschichten vorstellen, den Mann, der es verstand, Geister- und Rittergeschichten in die Dienstbotenkammern der Städte und die Bauernstuben der Dörfer zu bringen. Er mußte selber ein wenig in die Geschichten hineinpassen, die er absetzte. Nicht als Held natürlich, nicht als junger, verstoßner Prinz oder fahrender Ritter, wohl aber als der zweideutige Greis, der Warner oder Verführer, der in so vielen dieser Geschichten auftritt. Die Blätter, die er damals für wenige Pfennige verkaufte, und besonders die sogenannten Neuruppiner Bilderbogen von Gustav Kühn sind heute sehr selten und gesuchte Kostbarkeiten geworden.

Kolporteure also gibt es wenigstens in Berlin heute so gut wie gar nicht mehr. Dafür gibt es aber die Bücherwagen. Der Bücherverkäufer von der Berliner Straße ist der einzige Buchhändler, den man heute noch bei der Lektüre seiner eigenen Bücher antreffen kann. Oft sitzt so ein Mann auf der schmalen Steinrampe eines Gartens oder auf einem Feldstühlchen, das er mitgebracht hat, und läßt sich durch die Leute, die seinen Wagen beschnuppern, nicht stören. Denn er weiß, daß unter zehnen vielleicht noch nicht einer ist, der da ernstliche Absichten hat. Überhaupt, wäre er auf die angewiesen, die mit ernsthaften Absichten kommen, dann wäre es hoffnungslos. Aber der Trick der Bücherwagen ist eben: hier kaufen Leute Bücher, die eigentlich morgens, als sie von Hause fortgingen, nicht im Traum dran gedacht haben. Gelegenheitsleser, Gelegenheitsliebhaber. Nur in der Inflation war es anders. Wer da noch einen Pfennig für Bücher ausgeben konnte, der fand auf den Bücherwagen Kostbarkeiten zum hundertsten oder tausendsten Teil ihres Werts. Denn zu der Geldentwertung kam die Ahnungslosigkeit dieser meist nicht sehr beschlagenen Verkäufer hinzu, und die Sammler haben davon Gebrauch gemacht.

Der Mann am Bücherwagen ist schweigsam. Aber er ist eine Ausnahme; denn im allgemeinen ist der Berliner Straßenhandel die hohe Schule der Berliner Schnauze, die eigentliche Berliner Rednerakademie. Ich werde euch jetzt zum Schluß so eine echte Berliner Meisterschaftsrede halten, wie man sie allerdings nicht grade täglich auf der Straße zu hören bekommt. Das werdet ihr selbst schon bemerkt haben, daß so ein Redner, um in Schwung zu kommen, sich gewissermaßen selbst aufzieht, daß er, schon ehe noch irgendwer achtgibt oder zuhört, vor seinem »Universellen Fleckenreiniger«, seinem Selbstbinder, seinem Kristallpalastkitt sich aufstellt und mit Todesverachtung in die leere Luft hinein eine Ansprache hält, sie womöglich mit Gebärden begleitet, bis eben irgend jemand anbeißt. Anbeißt, das heißt hier aber nicht: kauft. Der Kauf ist im Straßenhandel nur das letzte Glied einer Kette. Das erste ist jedenfalls die Begeisterung des Redners, das zweite aber, daß Zuhörer und Zuschauer sich einfinden müssen, je mehr desto besser. Der Straßenhändler steht in der Mitte. Er hat seine Rede auswendig gelernt, wiederholt sie immer von neuem. Das wissen seine Hörer so gut wie er. Und für sie ist eben das Interessante, wie er sich trotzdem mit Abschweifungen, Variationen etc. aus der Affäre zieht, oder wie er dann wieder manche wichtigen Stellen jedesmal in genau der gleichen Betonung und mit der Präzision eines Grammophons herausbringt. Ist dann endlich einer der Umstehenden mürbe und kauft etwas, so muß er vortreten und steht mit dem Verkäufer im Mittelpunkt eines Kreises, wie zwei Schauspieler in der Mitte einer Arena stehen. Und diese Attraktion, etwas aufzuführen, eine Rolle zu spielen, gesehn zu werden, ist ein Hauptanreiz zum Kaufen. Hier also unser Mann mit dem Wäscheschoner: »Meine Herrschaften! Glauben Sie nicht, daß ich Ihnen hier etwas aufschwatzen will, was noch nicht erprobt ist. Sämtliche Kapazitäten des Fachs haben diesen Wäscheschoner untersucht und begutachtet. Wenn Sie sie sehen wollen – wenn Se näher treten wollen! Dieser Wäscheschoner ist das denkbar Praktischste, was Sie sich auf diesem Gebiet leisten können. So einfach – und elegant! Zugleich aber auch sparsam! In dieser Zeit, wo wir alle, wie wir da stehn, das Geld zweimal herumdrehn, eh' wir's ausgeben, und wo doch jeder sauber aussehen muß, der Karriere machen will – in dieser Zeit ist dieser Wäscheschoner der Rettungsengel für die ganze Welt. – Ja meine Herrschaften – Se lachen. Eines Tages werden Se einsehn, det ick nich zuviel jesacht habe.« Inzwischen hat sich schon ein dichter Kreis von 20 bis 30 Personen um den Händler angesammelt. Nun nimmt er seinen Wäscheschoner und erläutert ihn: »Sehn Sie, meine Herrschaften, Sie nehmen den weichen Stehumlegekragen, schlagen ihn auf, legen den steifen Wäscheschoner hinein – schlagen ihn zu – binden den Kragen um – und wie sitzt er nun? Straff und elegant! – Straff und elegant! Und auch die Krawatte sitzt nun besser. Und wenn sonst der Kragen schon nach wenigen Stunden unsauber aussah – jetzt können Sie ihn acht Tage tragen. Und immer ist er noch straff und elegant! Wer einen solchen Wäscheschoner trägt, wird stets alle Mitbewerber aus dem Felde schlagen, wenn er sich um eine Stelle bewirbt. Denn wie wird der Chef von ihm sagen: Ja, der Mann ist straff und elegant!« –

Wenn man so einer Rede zuhört, braucht man dem alten Berlin nicht nachzutrauern. Es steckt noch im neuen und ist so unverwüstlich wie unserm Redner sein Wäscheschoner.


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