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Das dämonische Berlin

Ich werde heute mit einem Erlebnis beginnen, das in mein vierzehntes Jahr fällt. Damals war ich Schüler auf einem Internat. Wie das in solchen Anstalten üblich ist, versammelten sich Kinder und Lehrer allwöchentlich abends mehrere Male, und es wurde musiziert, eine Rede gehalten oder aus einem Dichter vorgelesen. Eines Abends hielt der Musiklehrer die Kapelle, wie man diese Abendversammlung nannte. Das war ein kleiner putziger Mann von unvergeßlichem Ausdruck in den ernsten Augen, mit der spiegelndsten Glatze, die ich je sah und um die ein halboffener Kranz scharf geringelten, dunklen Lockenhaars stand. Sein Name ist unter den deutschen Musikliebhabern bekannt: er hieß August Halm. Dieser August Halm kam in die Kapelle, um uns Geschichten von E.T.A. Hoffmann vorzulesen, eben dem Dichter, von dem ich heute mit euch sprechen will. Ich weiß nicht mehr, was er las; es kommt auch nicht darauf an; desto genauer habe ich einen einzigen Satz aus der Ansprache im Sinne behalten, mit dem er seine Vorlesung einleitete. Er kennzeichnete Hoffmanns Dichtungen, seine Vorliebe für das Bizarre, Schrullige, Geisterhafte, Unerklärliche. Ich glaube, was er sagte, war sehr danach angetan, uns Jungen auf die nachfolgenden Geschichten zu spannen. Dann aber schloß er mit diesem Satze, den ich bis heute nicht vergessen habe: »Wozu einer solche Geschichten schreibt, das werde ich euch nächstens einmal erzählen.« Auf dieses »nächstens« warte ich immer noch, und da der Gute inzwischen gestorben ist, müßte diese Erklärung, wenn überhaupt, auf so unheimliche Weise mich erreichen, daß ich es vorziehe, ihr zuvorzukommen und heute versuchen werde, euch gegenüber ein Versprechen einzulösen, das mir vor 25 Jahren gegeben wurde.

Wenn ich ein bißchen mogeln wollte, könnte ich es mir mit der Sache leicht machen. Ich brauchte nur statt des Wortes »wozu« zu setzen »warum«, und die Antwort wäre sehr einfach. Warum schreibt ein Dichter? Aus tausend Gründen. Weil es ihm Spaß macht, sich etwas auszudenken; oder weil solche Vorstellungen, Bilder, von ihm Besitz ergreifen, daß er sich erst beruhigen kann, wenn er sie niedergeschrieben hat; oder weil er sich mit Fragen und Zweifeln herumträgt, für die er eine Art Lösung in den Schicksalen von erdichteten Menschen findet, oder einfach weil er schreiben gelernt hat; oder, das ist leider ein sehr häufiger Fall, weil er überhaupt nichts gelernt hat. Warum Hoffmann geschrieben hat, ist nicht schwer zu sagen. Er gehörte zu den Dichtern, die von ihren Figuren besessen sind. Doppelgänger, Schauergestalten aller Art, wenn er sie schrieb, sah er sie wirklich um sich. Nicht nur wenn er schrieb, sondern mitten im unschuldigsten Gespräch am Abendtisch, beim Glase Wein oder Punsch, und mehr als einmal unterbrach er den oder jenen seiner Tischgenossen mit den Worten: »Entschuldigen Sie Teuerster, daß ich in die Rede falle. Aber bemerken Sie denn nicht dort in der Ecke rechter Hand den kleinen ganz verfluchten Knirps, wie er sich unter den Dielen hervorhaspelt; sehen Sie doch, was der Teufelskerl für Kapriolen macht! Sehen Sie, sehen Sie, jetzt ist er weg! Oh, genieren Sie sich doch nicht, liebenswürdigster Däumling, bleiben Sie gefälligst bei uns – hören Sie unseren überaus gemütlichen Gesprächen gütigst zu – Sie glauben gar nicht, was uns Ihre höchst angenehme Gesellschaft für Freude machen würde – ach, das sind Sie ja wieder – wäre es Ihnen nicht gefällig, etwas näher zu treten – wie – Sie belieben was weniges zu genießen – was belieben Sie doch zu sagen – wie – Sie gehen ab – gehorsamer Diener.« Und so weiter. Und kaum daß er solch kauderwelsches Zeug mit stieren Augen nach der Ecke gerichtet, woher die Vision kam, gesprochen hatte, fuhr er auch wieder auf, wandte sich gegen die Tischgenossen und bat, ganz ruhig fortzufahren. So wird Hoffmann uns von seinen Freunden geschildert. Und wir selber werden von diesem Wesen uns angesteckt fühlen, wenn wir Geschichten lesen wie »Das öde Haus«, »Das Majorat«, die »Doppeltgänger« oder den »Goldnen Topf«. Wenn nun gar günstige äußere Umstände hinzukommen, so kann sich die Wirkung dieser Geistergeschichten bis zum erstaunlichsten steigern. Mir selbst ist es so gegangen, und der günstige Umstand, welcher in diesem Falle hinzukam, war, daß meine Eltern mir die Lektüre verboten hatten. Ich konnte, wie ich klein war, Hoffmann nur heimlich lesen, abends, wenn die Eltern von zu Hause fort waren. Und ich erinnere mich an so einen Leseabend, an dem ich unter der Hängelampe am riesigen Eßzimmertisch allein saß – es war in der Carmerstraße – im ganzen Hause kein Laut, und während ich in den »Bergwerken zu Falun« las, alle Schrecken wie Fische mit stumpfen Mäulern sich allmählich in der umgebenden Dunkelheit um die Tischkanten sammelten, so daß meine Augen wie an eine rettende Insel sich auf die Buchseiten hefteten, aus denen doch all diese Schrecken kamen. Oder ein ander Mal, früher am Tage – ich weiß noch, daß ich da am spaltbreit geöffneten Bücherschrank stehend, bereit, beim ersten Geräusch den Band in den Schrank zu werfen, mit gesträubten Haaren und so gedoppeltem Entsetzen vor den Schrecknissen des Buches und der Gefahr, ertappt zu werden, im »Majorat« las, daß ich kein Wort von der ganzen Geschichte begriffen habe.

»Der Teufel«, hat Heinrich Heine von Hoffmanns Schriften gesagt, »kann so teuflisches Zeug nicht schreiben.« In der Tat: mit dem Gespenstischen, Geisterhaften, Unheimlichen dieser Schriften geht Hand in Hand etwas Satanisches. Und wenn wir diesem nachzugehen versuchen, so kommen wir schon von der Antwort auf das Warum von Hoffmanns Geschichten zur Antwort auf ihr geheimnisvolles Wozu. Der Teufel hat bekanntlich neben vielen andern Besonderheiten auch die der Findigkeit und des Wissens. Wer nun Hoffmanns Geschichten ein wenig kennt, der wird mich sofort verstehen, wenn ich sage, daß der Erzähler in diesen Geschichten immer ein sehr spürsamer, feinnerviger Kerl ist, der die Geister unter ihren raffiniertesten Verkleidungen aufspürt. Ja dieser Erzähler besteht mit einem gewissen Eigensinn darauf, daß all die ehrbaren Archivare, Medizinalräte, Studenten, Apfelweiber, Musikanten und höheren Töchter ebensowenig das sind, was sie den Anschein haben zu sein, wie er selbst, Hoffmann, etwa nur der pedantische exakte Kammergerichtsrat war, als der er seinem Broterwerb nachging. Mit anderen Worten aber heißt das: die gespenstischen, geisterhaften Figuren, die in Hoffmanns Geschichten auftreten, hat sich der Erzähler nicht einfach im stillen Kämmerlein bei sich selbst ausgedacht. Wie vielen großen Dichtern ist es ihm so ergangen, daß er das Außerordentliche nicht irgendwo frei im Räume schwebend, sondern an ganz bestimmten Menschen, Dingen, Häusern, Gegenständen, Straßen usw. gesehen hat. Wie ihr vielleicht gehört habt, nennt man Leute, die andern Menschen am Gesicht, oder am Gang, oder an den Händen, oder an der Kopfform ihren Charakter oder ihren Beruf oder sogar ihr Schicksal ansehen, Physiognomiker. So war Hoffmann weniger ein Seher als ein Anseher. Das ist nämlich die gute deutsche Übersetzung von Physiognomiker. Und ein Hauptgegenstand seines Ansehens war Berlin, die Stadt und die Menschen, die in ihr wohnten. Mit einem gewissen bittren Humor spricht er in der Einleitung zum »Öden Haus« – das ist in Wirklichkeit ein Haus Unter den Linden gewesen – von dem sechsten Sinn, der ihm verliehen worden, von der Gabe nämlich, an jeder Erscheinung, sei es Person, Tat oder Begebenheit, dasjenige Ausgefallene zu schauen, zu dem wir in unserem gewöhnlichen Leben in keiner Beziehung stehen. Seine Leidenschaft ist es, allein durch die Straßen zu wandeln, die begegnenden Gestalten zu betrachten, ja wohl manchem in Gedanken sein Horoskop zu stellen. Tagelang läuft er hinter ihm unbekannten Personen her, die irgend etwas Verwunderliches in Gang, Kleidung, Ton, Blick haben. Er fühlt sich in beständiger Berührung mit dem Übersinnlichen, und mehr noch als er die Geisterwelt, verfolgt die Geisterwelt ihn. Sie vertritt ihm in diesem vernünftigen Berlin am hellen Mittag den Weg, sie geht ihm durch den Lärm der Königstraße zu den wenigen noch übrigen Resten des Mittelalters in der Gegend des zerfallenden Rathauses nach, sie läßt ihn in der Grünstraße einen geheimnisvollen Rosen- und Nelkenduft verspüren und verhext ihm den eleganten Sammelplatz des feinen Publikums, die Linden. Man könnte Hoffmann den Vater des Berliner Romans nennen, dessen Spuren später, als man Berlin die »Hauptstadt«, den Tiergarten den »Park«, die Spree den »Fluß« nannte, sich in Allgemeinheiten verloren, bis er in unseren Tagen – man denke nur an Döblins »Berlin Alexanderplatz« – wieder aufgelebt ist. »Du hattest«, läßt er eine seiner Figuren zu einer anderen sagen, unter der er sich selbst denkt, »bestimmten Anlaß, die Szene nach Berlin zu verlegen und Straßen und Plätze zu nennen. Im allgemeinen ist es aber auch meines Bedünkens gar nicht übel, den Schauplatz genau zu bezeichnen. Außerdem daß das Ganze dadurch einen Schein von historischer Wahrheit erhält, der einer trägen Phantasie aufhilft, so gewinnt es auch, zumal für den, der mit dem Schauplatz bekannt ist, ungemein an Lebendigkeit und Frische.«

Gewiß könnte ich euch jetzt die vielen Geschichten aufzählen, in denen Hoffmann sich so als Physiognomiker von Berlin bewährt, könnte die Häuser bezeichnen, die bei ihm vorkommen, angefangen von seiner eigenen Wohnung, Charlotten- Ecke Taubenstraße, bis zum Goldnen Adler am Dönhoffplatz, zu Lutter und Wegner in der Charlottenstraße etc. Ich glaube aber, wir haben mehr davon, dem noch deutlicher nachzugehen, wie Hoffmann Berlin studierte und welcher Abdruck davon in seinen Erzählungen hinterblieben ist. Von der Einsamkeit, der freien Natur war der Dichter nie ein besonderer Freund. Der Mensch, Mitteilung mit ihm, Beobachtungen über, das bloße Sehen von Menschen galt ihm mehr als alles. Ging er im Sommer spazieren, was bei schönem Wetter täglich gegen Abend geschah, so war es immer nur, um zu öffentlichen Orten zu gelangen, wo er Menschen antraf. Auch unterwegs fand sich nicht leicht eine Weinstube, eine Konditorei, wo er nicht eingetreten wäre, um zu sehen, ob und welche Menschen da seien. Es war aber nicht nur, daß Hoffmann an solchen Orten sich nach neuen Gesichtern umsah, die ihm seltsame Einfälle eingaben: die Weinstube war vielmehr für ihn eine Art Dichterlaboratorium, eine Experimentierstube, in der er die Verwicklungen und Effekte seiner Geschichten an den Freunden allabendlich ausprobierte. Hoffmann ist ja kein Romanschreiber sondern ein Erzähler gewesen, und selbst im Buche haben viele seiner Geschichten, wenn nicht die meisten, einen, dem sie in den Mund gelegt werden. Im Grunde ist natürlich immer Hoffmann selbst dieser Erzähler, der mit Freunden um einen Tisch sitzt, an dem jeder der Reihe nach etwas zum besten gibt. Einer von Hoffmanns Freunden sagt uns denn auch ausdrücklich, daß er niemals im Weinhause müßig war, wie man so viele sitzen sieht, die nichts tun als nippen und gähnen. Er schaute vielmehr mit seinen Falkenaugen überall umher; was er an Lächerlichkeiten, Auffallendem, selbst an rührenden Eigenheiten bei den Weingästen bemerkte, wurde ihm zur Studie für seine Werke, oder er brachte es – denn Hoffmann konnte sehr gewandt zeichnen – mit kräftiger Feder auf das Papier. Wehe aber, wenn die Gesellschaft, die sich da im Weinhaus zusammenfand, ihm nicht genehm war, wenn beschränkte, spießige Köpfe an der Tafelrunde ihn störten, dann muß er vollständig unerträglich gewesen sein, einen ganz fürchterlichen Gebrauch von seiner Kunst, Fratzen zu schneiden, Leute in Verlegenheit zu bringen, zu erschrecken, gemacht haben. Den Höhepunkt seines Entsetzens aber bildeten die sogenannten ästhetischen Teegesellschaften, die damals in Berlin Mode waren; Versammlungen schöngeistiger, aber unwissender und unverständiger Personen, die sich auf ihr Interesse für Kunst und Dichtung vieles zugute taten. So eine Gesellschaft hat er sehr possierlich in seinen »Phantasiestücken« beschrieben.

Wenn wir nun jetzt zum Schluß kommen, so soll niemand uns vorwerfen können, wir hätten unsere Frage nach dem Wozu vergessen. Wir haben sie so wenig vergessen, daß wir sie unbemerkt sogar schon beantwortet haben. Wozu hat Hoffmann diese Geschichten geschrieben? Gewiß, er hat sich keine bewußten Zwecke damit gesetzt. Wohl aber können wir sie lesen, als ob er dergleichen Zwecke sich dabei gesetzt hätte. Und diese Zwecke können dann keine anderen sein als eben physiognomische. Als eben: zu zeigen, dieses platte, nüchterne, aufgeklärte, verständige Berlin steckt nicht nur in seinen mittelalterlichen Winkeln, abgelegenen Straßen, öden Häusern, sondern auch in seinen berufstätigen Bewohnern aller Stände und Stadtviertel voll von Dingen, die einen Erzähler reizen und denen man nur auf die Spur kommen, die man ihnen ansehen muß. Und als hätte Hoffmann wirklich mit seinen Werken den Leser dies lehren wollen, ist eine der allerletzten Geschichten, die er auf seinem Totenbette diktiert hat, eigentlich nichts anderes als ein solcher Lehrgang des physiognomischen Sehens. Diese Geschichte heißt »Des Vetters Eckfenster«. Der Vetter ist Hoffmann, das Fenster ist das Eckfenster seiner Wohnung, das auf den Gendarmenmarkt hinausging. Diese Geschichte ist eigentlich ein Zwiegespräch. Der gelähmte Hoffmann sitzt in einem Lehnstuhl, blickt hinunter auf den Wochenmarkt und weist seinen Vetter, der bei ihm zu Besuch ist, an, wie man aus Kleidung, Tempo, Gebärde der Marktweiber und ihrer Kundinnen vieles aufspüren, noch mehr aber ausspinnen und aussinnen könne. Und nachdem wir soviel zu Hoffmanns Ehre gesagt haben, wollen wir zum Schluß feststellen, wovon die Berliner meistens nichts ahnen: daß er der einzige Dichter ist, der Berlin im Auslande berühmt gemacht hat und daß die Franzosen ihn geliebt und gelesen haben zu einer Zeit, als in Deutschland und auch in Berlin kein Hund ein Stück Brot von ihm nehmen wollte. Jetzt hat sich das geändert, es gibt eine große Menge sehr erschwinglicher Ausgaben und auch mehr Eltern als zu meiner Zeit, die ihren Kindern Hoffmann zu lesen erlauben.


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