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Literarische Rundfunkvorträge

Kinderliteratur

Verehrte Unsichtbare!

Sie haben gewiß schon häufig sagen hören: »Ach Gott, in meiner Jugend hatten wir's nicht so gut. Wir mußten noch vor den Zensuren bangen, wir durften noch nicht barfuß am Strand gehen.« Aber haben Sie schon einmal jemand gehört, der sagte: Ach Gott, in meiner Jugend spielten wir noch nicht so schön. Oder: Als ich klein war, gab es noch keine so schönen Geschichtenbücher. – Nein. Was jeder in seiner Kindheit las oder spielte, das scheint ihm in der Erinnerung nicht allein das Schönste und Beste, es kommt ihm oft und fälschlich genug sogar einzig vor. Und es ist eine ganz alltägliche Sache, Erwachsene das Verschwinden von Spielsachen beklagen zu hören, die sie im nächsten besten Laden kaufen könnten. Im Gedanken an diese Dinge wird jeder ein laudator temporis acti, ein Reaktionär. Darum muß es mit ihnen eine besondere Bewandtnis haben. Und ohne für den Augenblick davon zu reden, wollen wir im folgenden nicht vergessen, daß für Kinder wie in allen Dingen so auch in Büchern sehr anderes liegen kann als der Erwachsene darinnen findet.

Wie vieles könnte man – um mit der Fibel zu beginnen – nicht über das Verhältnis des Kindes zum Buchstaben ausspinnen? Von den frühesten Stadien, in denen jedes Zeichen ein Joch ist, durch das Hand und Zunge gedemütigt schlüpfen müssen, bis zu den späten, wo das Kind die Laute spielend behandelt und im Dickicht der Räuber – und Erbsensprache seinen ersten Geheimbund gründet. Sicher rückt dem herangewachsnen Knaben keine Seefahrer- oder Gespenstergeschichte so auf den Leib wie es die Fibel tat als er klein war. Zwar kamen die frühesten deutschen Fibeln den Kindern noch, mit naivem pädagogischen Geschick entgegen. Diese »Stimmenbüchlein« waren onomatopoetisch eingerichtet. Das O erscholl im Munde eines Fuhrmanns, der auf dem Bilde die Pferde antreibt, das Seh kommt von der Frau, die auf einem andern Blatte die Hühner scheucht, das R ist das Knurren des Hundes und das S wird der Schlange in den zischenden Rachen gelegt. Aber bald tritt dies Lautwesen zurück und seit der Gegenreformation begegnen wir Fibeln, in welchen sich die Majestät des Schriftzeichens mit Wolken von Floskeln und Arabesken vor dem erschreckten Kinderauge darstellt. Dem folgte dann das Fächer- und Kastensystem des 18ten Jahrhunderts, in welchen die Lesewörtchen in soldatische Kaders gepreßt freudlos und eng beieinanderstanden und die Buchstaben die Sergeanten waren, die als Majuskeln ihre Substantive befehligten. Aus dieser Zeit stammen dann etwa Fibeln, auf deren Titelblatt dem Abc-Schützen 248 Abbildungen versprochen werden. Sieht man näher zu so hat das ganze acht Seiten und die Abbildungen stehen eine neben der andern in winzigen Rähmchen. Freilich kann keine Fibel so schrullig sein, daß nicht das Kind zuletzt von ihr sich das Seine nähme, wie Jean Paul es so schön von der des Schulmeisters Wuz zeigt. »Er schrieb das Abc in schöner Kanzleischrift, lustig und ungestört herab. Zwischen alle schwarzen Buchstaben steckte er rote auf, um allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen; daher die meisten Kinder Deutschlands sich noch der Freude entsinnen, mit welcher sie aus den schwarzen die rot gekochten wie gare Krebse herausfischten und genossen.«

Die Schulmeister sind natürlich schnell dahintergekommen, daß nicht nur das Kind mit der Fibel sondern, von allen Büchern, die Fibel es mit dem Kinde am schwersten hat. Das Naheliegendste war, die Anschauung so weit wie nur möglich vom Wort, geschweige vom Buchstaben zu emanzipieren. 1658 erschien als der erste Versuch auf diesem Wege der »Orbis pictus« des Amos Comenius. Er bringt alle Gegenstände des täglichen Lebens, aber auch die übersinnlichen, in einfachen, rohen Darstellungen auf mehreren hundert Tafeln von Kartenblattgröße. Der Text war auf ein deutsch-lateinisches Inhaltsverzeichnis beschränkt. Dieses Werk ist einer der großen und seltenen Erfolge im Reiche des pädagogischen Kinderbuches gewesen und wenn man es recht bedenkt, so erscheint es als Anfang einer überaus folgenreichen und noch heute, nach zweieinhalb Jahrhunderten nicht abgeschlossenen Entwicklung. Ja: heute weniger denn je. Die außerordentliche Aktualität, die alle Versuche eines Anschauungsunterrichtes besitzen, beruht ja darauf, daß ein neues, ein genormtes und wortloses Zeichensystem heute auf den verschiedensten Lebensgebieten – in Verkehr, Kunst, Statistik – im Andringen scheint. Es berührt sich an diesem Punkt gerade jetzt ein pädagogisches Problem mit einem ganz umfassenden kulturellen, das man in die Parole fassen könnte: für das Zeichen gegen das Wort! Vielleicht werden bald Anschauungsbilderbücher kommen, die das Kind in die neue Zeichensprache des Verkehrs oder gar der Statistik einführen. Was die alten betrifft so bezeichnen der »Orbis pictus« des Comenius, das »Elementarwerk« von Basedow und endlich Bertuchs »Bilderbuch für Kinder« die Marksteine seiner Entwicklung. Dieses letzte umfaßt zwölf Bände mit je hundert kolorierten Kupfertafeln und erschien unter Bertuchs Leitung in Weimar von 1792 bis 1847. In seiner sorgfältigen Ausführung beweist es, mit welcher Hingabe damals für Kinder gearbeitet wurde. Das Anschauungsbilderbuch auch textlich zu durchdringen, es textlich elementar zu gestalten, ohne es der Fibel zu nähern, das ist freilich eine schwierige, fast unlösbare Aufgabe. Sie ist selten bewältigt worden. Um so bemerkenswerter das geniale Anschauungsbuch von Wich: »Steckenpferd und Puppe«, das 1843 in Nördlingen erschienen ist. Ihm entnehmen wir die folgenden Verse.

»Vor dem Städtlein sitzt ein Zwerglein,
Hinterm Zwerglein steht ein Berglein,
Aus dem Berglein fließt ein Bächlein,
Auf dem Bächlein schwimmt ein Dächlein,
Unterm Dächlein steckt ein Stüblein,
In dem Stüblein sitzt ein Büblein,
Hinterm Büblein steht ein Bänklein,
Auf dem Bänklein ruht ein Schränklein,
In dem Schränklein steht ein Kästlein,
In dem Kästlein liegt ein Nestlein,
Vor dem Nestlein sitzt ein Kätzlein,
Merken will ich mir das Plätzlein.«

Wenn es irgendein Gebiet auf der Welt gibt, wo das Spezialistentum immer wird versagen müssen, so ist es das Schaffen für Kinder. Und der Anfang des Elends in der Kinderliteratur läßt sich mit einem Worte bezeichnen: es war der Augenblick da sie in die Hände der Spezialisten fiel. Das Elend der Kinder literatur, das nun freilich durchaus nicht das Elend des Kinder buchs ist. Denn das große Glück war eben, daß die Pädagogen dem illustrativen Teile der Bücher lange nur eine geringe Beachtung schenkten, zumindest ihm mit Normen nicht beikommen konnten. So erhielt sich hier, was in der Literatur immer seltner wurde: der reine Ernst der Meisterschaft und die reine Spielfreude des Dilettanten, die beide ohne es zu wissen für Kinder schaffen. Rochows »Kinderfreund« von 1772, das erste Lesebuch, ist zugleich der Beginn der eigentlichen »Jugendschriftstellerei«. Man muß da zwei Epochen unterscheiden, die moralisch-erbauliche der Aufklärung, die dem Kinde entgegentrat und die sentimentale des vorigen Jahrhunderts, die sich ihm insinuierte. Die erstere war gewiß nicht immer so langweilig und die zweite nicht immer so verlogen wie die arrivierte Pädagogik von heute es wahrhaben will, aber beide sind durch einen Durchschnitt von trostloser Mittelmäßigkeit charakterisiert. Ein schönes, vor allem sprachlich höchst mißglücktes Probestück, das auf der Wasserscheide der beiden Gattungen steht, mag hier folgen.

»Zu Hause angekommen, machte sich Emma gleich wieder an die Arbeit, denn sie hatte Augusten versprochen, ihr in sechs Schnupftücher die Buchstaben A. v. T. zu sticken ... Auguste und Wilhelmine setzten sich ihr zu beiden Seiten; Charlotte und Sophie, die ihre Arbeiten mitgebracht hatten, thaten das ebenfalls. Es war ein erfreulicher Anblick, wenn man die vier jungen Mädchen so emsig beschäftigt sah; Jede voll Eifer, die Andere zu übertreffen.

Während der Arbeit wollte Auguste die Zeit zu anderer Belehrung benutzen. Sie fragte daher Emma:

›Was ist heute für ein Tag?‹

Ich glaube, es ist Dienstag.

›Du irrst Dich, Kind! gestern war ja Sonntag.‹

Es ist also heute Montag.

›Richtig, Montag. Wie viele Tage giebt es in einer Woche?‹

Sieben.

›Wie viele aber in einem Monate? – Weißt Du das?‹

Wie viele? – Mir ist es so erinnerlich, als hättest Du es mir schon mehrmals gesagt, daß in Ansehung der Tage die Monate nicht gleich sind.

›Das hab' ich auch. Vier Monate haben dreißig Tage, sieben einunddreißig, und ein einziger acht- und zuweilen neunundzwanzig.‹

Dreißig Tage, das ist sehr lang.

›Kannst Du bis so weit zählen?‹

Nein!

›Wie viel Finger hast Du?‹

Zehn.

›Zähle diese Finger dreimal und Du bekommst dann dreißig, also so viel, als vier Monate im Jahre Tage haben.‹

Das ist ja ein Säculum.

›Ein Säculum? – Wo hast Du das Wort aufgeschnappt. – Weißt Du denn, was ein Säculum ist?‹

Nein, das weiß ich nicht.

›Und doch nennst Du ein Wort, das Du nicht verstehst? – das schmeckt nach Prahlerei! Man will für klüger gehalten werden, als man ist. Ein Säculum besteht aus hundert Jahren, ein Jahr aus zwölf Monaten, die Monate bestehen, wie ich Dir schon gesagt, zum Theil aus dreißig, zum Theil aus einunddreißig Tagen, mit Ausnahme eines in jedem Jahre. Ein Tag besteht aus vierundzwanzig Stunden, die Stunden werden wieder in Minuten und diese in Secunden getheilt. Die Zahl der Letztern beläuft sich in einer Stunde auf sechszig.‹

Nicht wahr? Eine Secunde ist etwas sehr Geringfügiges?

›Eine Secunde entfliegt wie der Blitz, es ist ein Augenblick.‹

Da besteht denn wohl des Menschen Leben aus unendlich vielen Secunden? ›Und doch enteilt es sehr rasch. Wir sollten bei dieser Flüchtigkeit nie den Uebergang in eine andere Welt vergessen, das will so viel sagen, wir sollten immer die Pflichten gegen Gott, gegen unsere Nebenmenschen und uns selbst zu erfüllen suchen, damit wenn der Schöpfer und Regierer des Weltalls nach seinem allweisen Rath uns abzurufen beschlossen hat, wir würdig befunden werden, in den Himmel einzugehen, wo uns dafür der Lohn erwartet, wenn wir auf Erden fromm und rechtschaffen gehandelt haben.‹ Was wird aber mit den kleinen Mädchen, die sich böse aufgeführt haben?

›Die kommen in die Hölle.‹

Sind sie denn dort unglücklich?

›Ei freilich! Sie empfinden die Qualen der Reue für ihre Vergehen in Ewigkeit.‹

In Ewigkeit? – O ich werde mich wohl hüten, böse zu handeln.

Auguste sah wohl ein, daß Emma dies nicht so deutlich verstehen konnte, wie sie, die es in ihrem Catechismus gelesen hatte, und der es gründlich erklärt worden. Sie hätte klüger gehandelt, wenn sie ihre kleine Schülerin statt mit der Hölle, mit der Ruthe oder dem Knecht Ruprecht in Furcht gesetzt hätte.«

Skurrileres mag es kaum geben, wohl aber gibt es Besseres. Immerhin ist es bezeichnend, daß trotz Johanna Spyris schönen, mit Recht berühmten »Geschichten für Kinder und solche die Kinder liebhaben«, die spätere Richtung der Jugendliteratur kein Meisterwerk aufweist. Wohl aber besitzen wir ein Meisterwerk des moralisch-erbaulichen Schrifttums, das zugleich ein Meisterwerk der deutschen Sprache schlechthin ist: Hebels »Schatzkästlein«. Eine Jugendschrift im strengsten Sinne ist es bekanntlich nicht; immerhin ist es ganz aus dem philanthropischen Anteil an den breiten, besonders den ländlichen Lesermassen hervorgegangen. Es ist nun, wenn man überhaupt versuchen darf, diesen unvergleichlichen Prosaisten, der die Weitschweifigkeit des Epikers mit der Kürze des Gesetzgebers zu einer nahezu unergründlichen Einheit zusammenschmolz, mit einem Wort zu bezeichnen, das Entscheidende, in Hebel die Überwindung der abstrakten Moral der Aufklärung durch die politisch-theologische zu erkennen. Wie aber das bei ihm nie anders als kasuistisch, von Fall zu Fall vor sich geht, so ist es auch kaum möglich, davon auf andere als ganz konkrete Art einen Begriff zu geben. In einem Bilde. Es ist, wenn er seine Geschichten erzählt, als ob der Uhrmacher uns ein Uhrwerk weist und die Federn und die Rädchen einzeln erklärt und erläutert. Plötzlich (seine Moral ist immer plötzlich) dreht er sie um und wir sehen wie spät es ist. Und auch darin gleichen diese Geschichten der Uhr, daß sie unser frühestes kindliches Staunen wecken und nicht aufhören uns das Leben lang zu begleiten.

Vor einigen Jahren kam, wie das von Zeit zu Zeit zu geschehen pflegt, eine literarische Zeitschrift auf den Gedanken, einer Anzahl bekannter Leute die Frage nach dem Lieblingsbuch ihrer Kindheit vorzulegen. Es wurden in den Antworten gewiß auch Jugendschriften genannt. Merkwürdig aber war: die große Mehrzahl nannte Werke wie: »Lederstrumpf«, »Gulliver«, »Schatzinsel«, »Münchhausen«, »Tausendundeine Nacht«, Andersen, Grimm, Karl May, Wörishöffer, manche verschollnen, von denen sie den Autor gar nicht mehr wußten. Wenn man in die vielgestaltigen Angaben einige Ordnung bringt, dann stellt sich heraus: fast nie ist hier von Büchern die Rede, die für die Kinder oder für die Jugend verfaßt wurden. Immer wieder sind es die großen Werke der Weltliteratur, Kolportagebücher, die Märchen. Unter denen, die auf diese Umfrage geantwortet haben, ist auch Charlie Chaplin. »David Copperfield«. Und hier nun läßt sich einmal an einem großen Falle studieren, was es um ein Kinderbuch sein kann, soll heißen, um ein Buch, das ein Kind sich vornimmt. David Copperfield hat der großen Intuition dieses Mannes den Ort bereitet. In der Tat hat ein französischer Kritiker mit vielem Glück eine Parallele zwischen der Kunst von Dickens und Chaplin gezogen. Und Chaplin »selbst hat erzählt, wie der Gedanke, den Typ des Mannes mit der Melone, den Hackschrittchen, dem kleinen kurzgeschnittnen Schnurrbart und dem Bambusstäbchen in die Welt zu setzen, ihm zum erstenmale beim Anblick der kleinen Angestellten des Londoner Strand kam«. Aber wie nahe stehen nicht auch die andern Typen seiner Filme dem dunklen London des Oliver Twist oder David Copperfield, »das junge, schüchterne, gewinnende Mädchen, der vierschrötige Flegel, der immer drauf und dran ist, mit den Fäusten um sich zu schlagen, und wenn er sieht, daß man vor ihm nicht Angst hat, Reißaus zu nehmen, und der anmaßende Gentleman, den man am Zylinder erkennt«.

Nur denke man nicht, die substantielle, kräftige Nahrung könne dem Heranwachsenden nur aus den Meisterwerken eines Cervantes oder Dickens, Swift oder Defoe kommen. Sie liegt genauso in gewissen, freilich durchaus nicht allen, Werken der Kolportage, wie sie gleichzeitig mit dem Aufschwung der technischen Zivilisation und jener Nivellierung der Kultur auftrat, die nicht ohne Zusammenhang damit war. Der Abbau der alten sphärisch gestuften Lebensordnungen war damals vollendet. In ihm waren gerade die feinsten, edelsten Substanzen oft zuunterst geraten und so kommt es, daß der tiefer Blickende gerade in den Niederungen des Schrift- und Bildwerks die Elemente findet, die er in den anerkannten Kulturdokumenten vergeblich sucht. Erst kürzlich hat Ernst Bloch in einem schönen Essay aus solchen Überlegungen heraus die Rettung des verrißnen Karl May vorgenommen. Und wie viele Bücher wären nicht hier zu nennen, die man am Ausleihtage in der Klassenbibliothek oder gar in der Papierhandlung nur mit leiser Scham zu verlangen wagte: »Die Regulatoren in Arkansas«, »Unter dem Äquator«, »Nena Sahib«. Wenn aber gerade diese Bücher an manchen Stellen über den Horizont ihrer jungen Leser hinausgehen, so machte sie das nur eindrucks- und lebensvoller. Denn sie schienen mit solchen Redewendungen und Begriffen den Talisman zu enthalten, der glücklich über die Schwelle des Jugendalters in das gelobte Land der Mannheit geleiten mußte. Und darum werden sie seit jeher von allen verschlungen.

Bücher verschlingen. Eine merkwürdige Metapher. Sie gibt zu denken. In der Tat, keine Formenwelt wird im Genuß in solchem Grade mitgenommen, zersetzt und zerstört wie die erzählende Prosa. Vielleicht kann man wirklich Lesen und Verzehren vergleichen. Vor allem muß man freilich sich dabei gegenwärtig halten: warum wir uns ernähren müssen und warum wir essen hat nicht so ganz identische Gründe. Die ältere Ernährungstheorie ist darum so lehrreich, weil sie vom Essen ausgeht. Sie sagte: wir ernähren uns durch Einverleibung der Geister der gegessenen Dinge. Nun ernähren wir uns zwar nicht dadurch, aber wir essen doch um einer Einverleibung willen, die mehr ist als ein Bedürfnis der Lebensnotdurft. Einer solchen Einverleibung wegen lesen wir auch. Also nicht, um unsere Erfahrung, unsern Gedächtnis- und Erlebnisschatz zu erweitern. Solche psychologischen Substitutionstheorien sind die Theorien der Ernährung, die da behaupten: aus dem Blut, das wir verzehren, wird unser Blut, Tierknochen würden unsere Knochen usw. So einfach ist es nicht. Wir lesen nicht um unsere Erfahrungen sondern um uns selber zu mehren. Ganz besonders aber und immer lesen die Kinder so: einverleibend, nicht sich einfühlend. Ihr Lesen steht im innigsten Verhältnis viel weniger zu ihrer Bildung und Weltkenntnis als zu ihrem Wachstum und ihrer Macht. Darum ist es etwas ebenso Großes als alles Genie, das in den Büchern steckt, die sie vornehmen. Und das ist die besondere Bewandtnis, die es mit dem Kinderbuch hat.


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