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Neunzehnter Abend.
Hektors Lösung und Bestattung.

Die Kampfspiele hatten mit ihren mannigfaltigen Unterbrechungen den ganzen Tag gefüllt, und die Sonne war schon untergegangen, als der Kreis der versammelten Achäer sich auflöste und jeder nach seinem Schiffe und Zelte zurückkehrte, um zuerst das Nachtmahl zuzurichten und dann zu ruhen. Alle waren zufrieden und heiter heimgekommen und sprachen noch lange von diesem und jenem, was ihnen gefallen oder mißfallen hatte; nur in Achills Seele wollte die Heiterkeit noch immer nicht zurückkehren. Die Leere der Stelle, wo sonst Patroklos gesessen, der trauliche Becher des Mahls, den ihm sonst der Verstorbene gereicht hatte, und tausend andere Erinnerungen an den unvergeßlichen Freund ließen ihn weder essen noch schlafen. Vergebens wälzte er sich auf seinem Lager von einer Seite auf die andere, versuchte es auf dem Rücken und vorwärts gestreckt; kein süßer Schlummer wollte über ihn kommen und die finstern Bilder seines Grames verscheuchen. So verbrachte er weinend die halbe Nacht; dann plötzlich sprang er auf, rannte im Dunkel hin ans Gestade des rauschenden Meeres und schweifte unstät und bangen Herzens daselbst umher. Dann wollte er zu Patroklos' Grabmal eilen, besann sich einen Augenblick, schirrte seine Pferde an den Wagen, band Hektors Leichnam wieder hinten daran und schleifte ihn dreimal um den Totenhügel. Aber auch diese traurige Rache konnte ihn nicht befriedigen; er ließ den Leichnam wieder los, trieb die Rosse in das Gehege zurück und warf sich abermals auf sein Lager, versuchend ob er nun vielleicht die süße Gabe des Schlafs empfangen könne.

In Troja wurden seit jenem unglücklichen Tage nicht weniger schlaflose Nächte verseufzt, und das Haus des alten Priamos war eine Wohnung des Jammers geworden. Er selbst, der bekümmerte Greis, hatte seit seines Sohnes Tode weder Speise noch Trank zu sich genommen, und die Klagen der Mutter und der Gattin rührten alles Volk so sehr, daß es täglich in großen Haufen das Haus umstand, als wollte es der königlichen Familie auf diese Weise zeigen, wie sehr es ihren Schmerz teile. Mitleidsvoll sahen selbst die Götter auf die Unglücklichen herab, und Apollon ließ sich in einer holden Traumerscheinung zum Priamos hernieder und stärkte sein Herz mit Mut, daß er sich aufmache zum Lager der Griechen, um mit Lösegeschenken den Leichnam seines Sohnes von dem Sieger zu erstehen. Zeus selbst befahl dem Hermes den Greis zu geleiten, damit kein böser Feind ihn hindere oder ihm Leid zufüge auf dem Wege.

Priamos, getröstet durch die Göttererscheinung, vergaß nun endlich der Klage und ging eilig zur Kammer, wo die Kisten standen, in denen er seine Kostbarkeiten verwahrte. »Wohlan«, rief er der alten Hekabe zu, »ich will mich aufmachen, um den fürchterlichen Mann mit Geschenken zu versöhnen; ein Gott hat mir Mut in die Seele gelegt; er wird mich auch schützen.«

Da schluchzte die Gattin laut auf und rief ihm tadelnd zu: »Unglückseliger, wohin ist dir der Verstand entflohen! Wie wolltest du doch allein zu den Schiffen der Achäer gehen und dem Manne unter die Augen treten, der dir so viele und so tapfere Söhne erschlagen hat? Wahrlich, du hast ein eisernes Herz! Ha! wenn er dich sieht und dich ergreift, der falsche, entsetzliche Mann, nimmermehr ja hat er Erbarmen mit dir, noch Scheu und Ehrfurcht vor deinem Alter! O, bleibe hier und laß uns den Verlorenen aus der Ferne beweinen, dem es nun einmal die Parze bei seiner Geburt zugeteilt hat fern von den Seinen dem stärkeren Manne zu erliegen und ein Raub der Hunde zu werden. Bleibe, du Teurer, bei uns, damit du dein eignes Leben erhaltest.«

Aber der greise König erwiderte mit Zuversicht: »Nimmer würde ich ja gehen, wenn nur ein Opferpriester oder ein Zeichendeuter es mir geboten hätte. Aber ich habe den Gott selber gesehn, er wird mich nicht täuschen; und zu sehr treibt mich auch das eigne Herz, als daß ich den Versuch nicht wagen sollte. Er wird mich töten, sagst du, der Wüterich? O, mag er es doch, wenn er mich nur in meines geliebten Sohnes Armem, an seiner Brust niederstößt!«

Er öffnete den zierlichen Deckel der Lade und nahm die feinen Gewänder heraus, die er zu Geschenken mitnehmen wollte: zwölf herrliche Feierkleider, zwölf wärmende Decken und ebensoviele Leibröcke und prächtige Mäntel. Dann aus einer andern Lade nahm er zehn Talente Goldes, vier glänzende Becken und zwei dreifüßige Kessel; selbst des köstlichen Bechers schonte er nicht, den ihm einst thrakische Männer zum Gastgeschenk verehrten, da er als Botschafter seines Vaters zu ihnen kam. Denn er wollte sein Bestes nicht sparen, um nur des harten Mannes Herz zu erweichen und seinen liebsten Sohn auszulösen.

Als er den Kasten wieder verschlossen hatte und sich umwandte die Geschenke wegzutragen, sah er sich von einem großen Haufen müßigen Volks umringt, welches aus Neugier herzugelaufen war, um die Kostbarkeiten anzugaffen, die für Hektors Leichnam fortgesandt werden sollten. Zornig rief er ihnen zu: »Fort! hinaus! ihr Tagediebe! Habt ihr nicht eigne Not zu Hause genug, daß ihr kommt, um meine Trauer anzusehen? Wahrlich, ihr werdet bald genug empfinden, was ihr an Hektor verloren habt! Ohne seine Hilfe werden die Achäer euch leichter unterwerfen, dann werdet auch ihr jammern. Ich aber werde wohl tot sein.« Mit diesen Worten jagte er sie alle, den Stab hoch erhebend, zum Hofe hinaus. Darauf rief er, noch mit einem Überreste des Zorns, den ihm die albernen Gaffer erregt hatten, seine Söhne herbei und schalt, als sie nicht sogleich erschienen. »Wo bleibt ihr denn? So viele Söhne und keiner bei der Hand, wenn man sie braucht! Die besten sind mir alle gestorben, nur die Schwächlinge sind übrig geblieben. Nun, sieht man euch endlich? Hurtig her und packt mir das alles ordentlich in den Wagenkorb, und wenn's finster wird, schirrt mir die Pferde an und ruft mir meinen alten erfahrenen Idäos her; den nehme ich mit, sonst niemand. Habt ihr's verstanden?«

Die Söhne gehorchten erschrocken, zogen das Wagengestell aus der Halle hervor, fügten die Deichsel ein, banden das Joch an und befestigten auch oben mit zierlichen Riemen den Korb auf dem Wagen. Da hinein legten sie nun die schönen Gewänder und das Gold und das Erz, und fütterten dann die Rosse. Darauf, als der Tag sich neigte, spannten sie dieselben vor und riefen den treuen Herold Idäos herbei. Hekabe aber sorgte noch in der Geschwindigkeit für einen kräftigen Labetrunk auf die Reise, wobei vor allen Dingen der Götter nicht vergessen ward. Mit emsiger Eile kam sie herbei, in der Rechten den goldenen Becher tragend, und rief, vor die Rosse tretend, ihrem Gemahle zu:

»Hier, du Trauter, nimm und sprenge dem Zeus und flehe ihn um glückliche Heimkehr aus der Gewalt der feindlichen Männer an, da doch einmal dein Eifer dich wider meinen Willen hintreibt. Denn nimmermehr würde ich dich ziehen lassen, wenn ich Macht über dich hätte. Und noch jetzt möchte ich dir raten, daß du den Zeus anriefest, dir seinen heiligen Vogel rechtsher zu senden, damit du erkennest, ob es wirklich sein Wille sei dich zu schützen. Wird dies Gebet nicht erhört, dann würde ich sagen: Bleibe hier! Denn wehe dem, der sich ohne göttlichen Beistand in die Gefahr begiebt!«

Ihr antwortete der ehrwürdige Greis: »Ja, liebes Weib, ich will dir gehorchen, weil du mich so ermahnst. Gut ist's zum Zeus die Hände zu erheben.«

So sprach er und rief die Schaffnerin aus dem Hause heraus in den Hof, daß sie ihm Wasser bringe, und sie trug's herbei in silberner Kanne, besprengte ihm daraus mit der Rechten die Hände und hielt mit der Linken das Waschbecken unter. Als er sich nun gewaschen hatte, empfing er aus den Händen der Gattin den Becher Weins, goß die ersten Tropfen dem Zeus zu Ehren aus und betete laut, den Blick zum Himmel gerichtet:

»Vater Zeus, du größter und mächtigster Herrscher! laß mich doch als Freund dem Achilleus nahen und Mitleid vor ihm finden! Gewähre mir auch ein Zeichen, daß du mich schützen wollest, damit ich getrost und voll Vertrauens die Reise antrete.«

Sein Wunsch ward erfüllt. Denn nicht lange darauf flog einer von den Adlern, die hoch in den Gebirgsklüften des Ida nisteten, ihm zur Rechten vorüber. Darob freuten sich alle, die es sahen, und der König bestieg nun voll Vertrauen den Wagen und sein Wagenlenker mit ihm. Bis vor das Stadttor hinaus begleiteten ihn die Söhne und wünschten ihm weinend Glück auf den Weg, denn ganz ohne Besorgnis konnten sie ihn nicht scheiden sehen.

Aber jetzt erinnerte sich der rasche Götterbote seines Auftrags, schwebte hernieder vom Olymp zur Küste des Hellespont und wandelte dann den Weg entlang, den Priamos kommen mußte. Er hatte die Gestalt eines griechischen Jünglings angenommen, der, aus höherem Geschlecht entsprossen, durch sein edles Ansehen Zutrauen einflößen konnte. Priamos war eben an das Grabmal des Ilos gekommen, wo nur seicht der Skamandros vorüberfließt, und hielt daselbst ein wenig an, die Pferde zu tränken. Da sah der alte Idäos durch die graue Dämmerung den Götterjüngling an dem Flusse herkommen und sprach ängstlich zum König: »Siehe doch, Sohn des Dardanos, da kommt ein fremder Mann! Ach, sicher wird der uns beide vertilgen und mit unsern Gütern von dannen ziehen! Was thun wir? Fliehen wir noch in die Stadt zurück, oder steigen wir von dem Wagen und umfassen ihm bittend die Kniee?«

Priamos blickte auf und sah mit starrem Schrecken den rüstigen Mann schon ganz nahe am Wagen. Die plötzliche Furcht hatte ihm alle Glieder gelähmt, er konnte weder sprechen noch sich von seinem Sitze erheben. Aber er faßte sich bald, als er das Gesicht des Jünglings in der Nähe sah und derselbe ihm mit freundlicher Stimme zurief:

»Heil dir, alter Vater! Wo willst du denn noch so spät hin durch die neblige Nacht, während andere Sterbliche schlafen? Ist dir denn gar nicht bange vor den Achäern, die doch nicht fern von hier liegen? Wenn dich nun einer sähe mit allem, was du hier Schönes geladen hast? Und doch bist weder du selbst bei Kräften, um einen Feind abwehren zu können, noch ist es der alte Mann dort, der dich begleitet. Aber ich thue euch nichts zu leide, vielmehr will ich mit euch gehen und wohl noch andere von euch abhalten, denn du gehst mir nahe, ehrwürdiger König; ich habe zu Hause auch einen alten Vater, der dir zum Erstaunen gleicht.«

»O, wohl mir«, rief mit erleichterter Brust der Greis. »Nun sehe ich, daß Zeus mich schützen will, da er mir einen so edeln Begleiter in finsterer Nacht zuführt, so wunderherrlich an Wuchs und Bildung und so verständigen Geistes. Wahrlich, du stammst von glückseligen Eltern!«

Der Fremdling fuhr fort: »Sage mir doch, o Greis, wohin führst du diese Güter? Willst du etwa deine kostbaren Schätze in Sicherheit bringen bei einem fernen befreundeten Volke, damit dir doch etwas übrig bleibe, wenn Troja zerstört wird; oder verlaßt ihr wohl gar jetzt schon heimlich die Stadt aus Furcht vor dem siegenden Feinde? Denn freilich, nun fehlt euer tapferster Hort. So lange der wackere Hektor noch lebte, nahmt ihr's noch immer mit den Achäern auf.«

Das erfreute dem alten Vater das Herz. »Aber wer bist du denn, Bester«, fragte er, »der mir so schön von dem Tode meines teuersten Sohnes spricht?«

»O, wer wüßte von deinem Sohne nicht zu sprechen?« entgegnete der Fremde. »Oft genug habe ich ihn in der stürmenden Feldschlacht gesehen, wie er die Argeier scharenweise vor sich her drängte und mit sicherer Waffe tötete. Wir standen oft von fern und bewunderten ihn, wenn uns Achilleus verwehrte selbst in den Kampf zu gehen; denn ich bin einer seiner Genossen und auf einem Schiffe mit ihm hierher gekommen. Mein Vater ist ein edler Myrmidone, Polyktor mit Namen, er hat Geld und Gut, ist aber schon ein alter Mann, wie du. Unser sind sieben Brüder, und ich bin der jüngste. Als Achilleus aufbrach, mußten mir losen, wer von uns mitgehen solle, und das Los traf mich. Jetzt wandelte ich hier soeben ein wenig umher und dachte an Trojas Schicksal, denn morgen wollen Achäer insgesamt wieder gegen die Stadt ausziehen, des langen Ruhens müde und voll Begierde den Krieg zu endigen.« »Ei, mein Freund«, sagte Priamos darauf, »wenn du ein Genosse des Achilles bist, so kannst du mir ja wohl sagen, ob meines Sohnes Leichnam noch dort bei den Schiffen liegt, oder ob vielleicht der grausame Mann ihn schon in Stücke zerhauen und den Hunden vorgeworfen hat.«

Hermes entgegnete ihm: »Noch nicht, o Greis, haben Hunde oder Vögel ihn angerührt, obwohl er schon zwölf Tage dort liegt und Achilleus ihn jeden Morgen um das Grab seines Freundes schleift. Auch die Verwesung traf ihn noch nicht, und in wunderbarer Frische haben sich bis jetzt die schönen Glieder erhalten. Wer ihn sähe, würde glauben, er sei eben erst verschieden. So sorgsam walten selige Götter über ihn sogar im Tode, denn immer ja war er von ihnen im Herzen geliebt.«

Wie freute sich der alte Mann solcher Kunde! »O Kind«, rief er aus, »wie gut ist's doch, wenn der Mensch jederzeit den Göttern die schuldigen Geschenke bringt! Nein, das hat mein Sohn bei seinem Leben nie vergessen! Immer opferte er jenen zuerst, ehe er selbst etwas Gutes genoß; das wird ihm nun im Tode belohnt! O, ich glücklicher Vater! Da, da, mein Freund, nimm hier den schönen Becher zum Dank, behalte ihn zum Andenken von mir; ich hatte auch ihn für Achilleus bestimmt, denn zu dem will ich hin, meinen Hektor zu lösen; aber für ihn bleiben mir noch Geschenke genug. Nimm und geleite mich zu seinem Zelte, du mußt ja den Weg am besten wissen.«

Hermes erwiderte bescheiden: »Du willst mich versuchen, o Greis, aber ich kann widerstehen. Nimmer empfinge ich ja ein Geschenk von dir ohne Wissen des Achilleus und beraubte ihn selbst! Nein, zu sehr scheue ich ihn, es möchte mir sonst ein Übel begegnen! Aber geleiten will ich dich doch und gingst du nach Argos; zu Schiff und zu Fuß wollte ich dein Begleiter sein, und kein Verwegener sollte ungestraft dir nahen.«

Mit diesen Worten schwang er sich auf den Wagen, stellte sich zwischen die beiden Greise und nahm dem Herold Zügel und Geißel ab. Kühn und sicher trabten die Rosse nun durch das Gefilde hin und brachten die Wanderer bald an die Mauer des Lagers. Hier sahen sie noch von ferne die Wachen mit den Resten der Nachtkost beschäftigt; aber der verkleidete Gott schwang unbemerkt seinen Stab und versenkte sie alle in tiefen Schlummer, öffnete dann die Riegel des Thores und fuhr mit dem Wagen hindurch und lenkte ihn sofort in raschem Lauf an das Gehege, in welchem die Zelte und Schiffe der Myrmidonen standen.

Hier verabschiedete er sich und verschwand; vorher aber zeigte er dem Greise noch Achills Zelt und sprach dem Zitternden Mut ein: »Gehe nur getrost hinein«, sagte er, »und umfasse ihm die Kniee; gewiß, dein Anblick wird ihn rühren, denn seine Seele ist von Wehmut erfüllt wegen des Freundes. Beschwöre ihn bei seinem Vater, auch bei der göttlichen Mutter; diese alle liebt er aufs innigste; erinnerst du ihn an diese, so bewegst du sicher sein Herz.«

Da stieg der König ab und ließ den Wagen und die Geschenke draußen im Gehege unter der Obhut seines alten Begleiters stehen. Das Herz klopfte ihm schneller, als er die Schwelle des furchtbaren Mannes betrat; nach einem Augenblicke unschlüssigen Zauderns trat er ein. Er fand den Achill noch sitzend an dem Tische, an welchem er das Mahl verzehrt hatte; zur Seite standen die beiden Gefährten, welche ihm nächst Patroklos die liebsten waren: der Wagenlenker Automedon und der lanzenkundige Alkimos. Er selbst ruhte, der starke Held, auf den Ellenbogen gestützt und in düstre Betrachtungen versunken, und ward des eintretenden Greises nicht eher gewahr, als bis dieser ihm zu Füßen fiel und seine Kniee umfaßte. Er staunte, denn seltsam überraschte ihn der unerwartete Besuch. Einen Augenblick sahen sich beide starr ins Gesicht, Achilleus verwirrt und erschüttert, Priamos bittend und beklommen. Endlich machte ein Strom von Thränen dem gepreßten Herzen des Greises Luft, und mit zitternder Stimme sprach er die flehenden Worte:

»Denke an deinen Vater, du göttergleicher Achilleus, der alt und kraftlos wie ich zu Hause schmachtet! Ach, vielleicht umdrängen auch ihn jetzt die Nachbarn, und niemand ist da, der ihn schirmt. Aber er weiß doch, daß einer ihm lebt, wenn auch fern, ein lieber und trefflicher Sohn, der, wenn er zurückkehrt allem Jammer ein Ende macht. Des freut sich der hoffende Greis, und alle Tage erneuert sich ihm der süße Gedanke an dich. Aber ich! wehe mir! Ich war der glücklichste Vater: fünfzig Söhne hatte ich groß gezogen, und ihrer neunzehn waren von einer Mutter geboren. Sie waren meine Freude und mein Stolz. Da zogt ihr gegen meine Stadt, und der unselige Krieg raffte sie einen nach dem andern bis auf wenige dahin. Unter den wenigen aber war mir der beste doch übriggeblieben, der mich und uns alle bisher geschirmt hatte; auch der ist nun nicht mehr! Ach! für sein Leben kann ich nicht mehr flehen, aber den Toten wünschen wir alle nur einmal noch wiederzusehen, um ihm die schuldige Ehre zu erweisen. Zu Hause jammern Geschwister, Gattin, Mutter, und siehe, hier liege ich selbst, der unglückliche Vater, zu deinen Füßen! Gieb ihn mir wieder; ich bringe reiche Geschenke mit. Scheue die Götter! Denke, wenn dein alter Vater so vor einem jüngeren Manne knieen müßte! Und ich o Jammer ohne gleichen! ich küsse die Hand, die meine Kinder erschlagen hat!«

Solchen Worten und solchen Thränen widerstand das Herz des Unbezwinglichen nicht. Ja, er war tief erschüttert durch den Anblick des flehenden Greises am Boden; das Bild seines eignen ergrauten Vaters trat ihm lebhaft vor die Seele und eine wehmütige Sehnsucht nach seiner Umarmung erfüllte sein Herz. Er weinte laut und beugte sich sanft zu dem Greise hernieder, um ihn aufzuheben; aber Priamos hielt noch immer seine Kniee fest umfaßt, und so schluchzten sie beide, ein jeder sein eignes Schicksal im Grame des andern beschauend. Endlich, als sie beide der Thränen genug vergossen hatten, sagte Achilleus:

»Ja fürwahr, unglücklicher Greis, du hast der Leiden viele erfahren! Und doch wagst du's so allein in der Nacht zu den Schiffen der Achäer zu kommen, zu dem Manne, der dir deine tapfersten Söhne tötete. So mutig ist dein treues Vaterherz! Aber wohlan, vergiß des Grames, und laß mich nicht mehr deine Thränen sehen! Stehe auf und setze dich hier auf den Sessel. Komm her, daß wir uns beide das Herz ein wenig beruhigen, denn wir erreichen ja doch nichts mit unsern schwermütigen Klagen. Die Götter haben es nun einmal dem Menschen bestimmt in Kummer zu leben, indes sie selbst von Sorge nichts wissen. Manchem vermischen sie wohl die traurigen Lose mit den heitern, aber mancher empfing nur Übles, so daß er sein Leben hindurch kläglich umherirrt, weder von Göttern noch von Menschen geehrt. Ist doch auch mein Vater nicht glücklich zu preisen! Zwar verliehen ihm die Himmlischen hohe Gaben und segneten ihn mit Gütern und Macht, ja eine Göttin ward seine Gemahlin; aber ihm ist kein glücklicher Erbe seiner Macht beschieden, denn ach! mich sieht er nicht wieder, so sehr auch sein Herz nach mir verlangt; mir ist nicht bestimmt, als friedlicher Herrscher heimzukehren und ein glückliches Alter zu schauen. So auch raubte das Schicksal dir den trefflichen Sohn. Aber er ist nun dahin, drum klage nicht länger, du erweckst ihn ja doch nicht und mehrst nur deinen Kummer. Wer vermag etwas wider die mächtig waltenden Götter!«

»Laß mich nicht niedersetzen«, schluchzte der alte Mann; »hier will ich liegen, bis du mir ihn losgegeben, den einzig geliebten, teuern Sohn, daß ich ihn mit Augen sehe und ihn mit meinen Thränen benetze. Du aber nimm die Geschenke und genieße ihrer Segen, wenn du heimgekehrt bist ins Vaterland, dafür, daß du mir vergönnt hast mit Liebe und Dank von dir zu scheiden.«

»Ei, schweige und reize mich nicht!« fuhr Achill hitzig auf; denn es verdroß ihn, daß der Alte an seinem Herzen zu zweifeln schien, nachdem er ihm so unverhohlene Beweise des tiefsten Mitgefühls gegeben hatte. »Stehe auf, sage ich dir, es war längst bei mir beschlossen dir den Sohn zu überlassen! Was kränkst du mich noch durch Furcht und Mißtrauen!«

Schweigend gehorchte der Greis der ernsten Rede, stand von der Erde auf und setzte sich auf den Stuhl. Indes erhob sich auch jener kraftvoll wie ein Löwe und schritt zur Thür hinaus; ihm folgten die beiden Freunde. Draußen im Hofe besah er die Geschenke und sagte heimlich den Genossen seinen Willen. Diese löseten darauf die Rosse vom Wagen, führten den alten Herold zu Priamos hinein in das Zelt und setzten ihn auf den Sessel. Dann nahmen sie die kostbaren Gaben aus dem Korbe bis auf zwei weiche Gewänder, in welche sie Hektars Leichnam hüllen wollten. Doch ehe das geschah, mußten zwei Sklavinnen ihn mit warmem Wasser und weichen Schwämmen waschen, auch das verwirrte Haar reinigen, ordnen und salben, heimlich und abseits, daß nicht der alte Vater den grausam zugerichteten Leichnam des Sohnes in seiner ganzen Entstellung sähe und sich noch mehr betrübte. Nachdem sie ihn gebadet und gesalbt hatten, hüllten sie ihn in die zierlichen Gewänder ein, und Achilleus selbst hob ihn auf den Wagen und legte ihn auf ein untergebreitetes Lager, stand dann einen Augenblick in schmerzlichen Gedanken und sprach:

»Zürne mir nicht, Patroklos, wenn du vielleicht in der Wohnung des Hades vernimmst, daß ich Hektors Leiche dem bekümmerten Vater zurückgab! Siehe, er bringt mir nicht unwürdige Lösung, und auch dir soll ein gebührender Anteil derselben geweiht sein.«

Jetzt kehrte er wieder ins Zelt zurück und setzte sich auf seinen Platz, den beiden Gästen gegenüber. »Nun Heil dir, Alter!« sprach er; »dein Sohn ist gelöset, wie du wünschtest, und ruht schon auf deinem Wagen, in weiche Gewänder gehüllt. Jetzt aber laß uns des Mahles gedenken und unser Herz erquicken. Selbst Niobe gedachte ja der Speise, obwohl ihr Herz von bitterm Gram zerrissen war, als ihr Artemis und Apollon sechs blühende Töchter und sechs herrliche Söhne an einem Tage erlegten, weil die überglückliche Mutter in freudigem Stolz sich gerühmt hatte, Leto (Latona) habe nur zwei Kinder, sie aber so viele geboren. Darob ergrimmten die beiden und vertilgten die Kinder alle. Und die verzweifelnde Mutter irrte sinnlos neun Tage umher und genoß weder Speise noch Trank; endlich am zehnten hörten die Thränen auf zu fließen, und der ermattete Leib sehnte sich wieder nach erquickender Nahrung. So auch, edler Greis, laß jetzt uns des lieblichen Mahles gedenken! Deinen Sohn beweine daheim, denn wohl ist er der Thränen wert.«

Mit diesen Worten stand er auf, holte ein dickwolliges Schaf herbei und schlachtete es. Die Genossen zogen die Haut ab, schnitten das Fleisch in Stücke und brieten es sorgfältig an Spießen, zogen dann alles herunter und legten es auf den Tisch. Automedon verteilte darauf das Brot aus dem Korbe, das Fleisch aber legte Achilleus selbst vor. Und sie aßen und tranken und opferten den Göttern, und des Vergangenen ward nicht weiter gedacht. Während der Mahlzeit betrachteten beide Könige sich näher und schauten sich zuerst ohne Furcht und Unmut ins Gesicht. Da bewunderte der Greis die herrliche Bildung des furchtbaren Mannes, den göttergleichen Wuchs und den kühnen, feurigen Blick. Auch Achilleus staunte im Herzen, als er den ehrfurchtgebietenden, majestätischen Anstand und das würdevolle Antlitz des Königs ruhiger betrachtete und seine sanfttönende Rede vernahm. Nachdem sie nun beide durch Trank und Speise gesättigt waren, sagte Priamos:

»Jetzt, du Göttlicher, weise mir ein Plätzchen an, wo ich ruhen kann, damit ich einmal wieder des sanften Schlummers genieße, nach dem mich so herzlich verlangt. Denn seit dem Schreckensabend, an welchem mein Sohn zu den Toten hinabsank, haben sich meine Augen nicht geschlossen, sondern in Staub und Erde auf meinem Hofe mich wälzend, habe ich in Jammer und Thränen die Nächte zugebracht, und dies ist die erste Speise, dies sind die ersten Tropfen Weins, die meine Lippen kosteten. So lange habe ich gehungert und gedurstet.« Achilleus befahl sogleich den Genossen draußen unter der Halle ein weiches Lager für Priamos und seinen Gefährten zu bereiten. Da holten schnell die Mägde prächtige Polster und wärmende Decken und Mäntel herbei, legten alles gehörig zurecht und leuchteten den Fremden mit der Fackel. Achilleus geleitete darauf den Greis bis an die Thür und drückte ihm scheidend die Hand, um ihm alle etwa noch übrige Furcht zu benehmen.

Nur wenige Stunden Schlafs genügten dem alten Manne, da stand er schon wieder auf und weckte den Achill. Denn er wünschte sehr noch vor Beginn des Tages aufzubrechen, damit kein anderer im feindlichen Lager ihn bemerke und auf dem Rückwege beängstige!

»Unruhiger Alter«, sagte Achilleus lächelnd, »so ziehe denn heim! Doch eins sage mir noch zuvor. In wie viel Tagen gedenkst du den edeln Sohn zu bestatten? Das sage mir, damit ich mich so lange des Streites enthalte und auch das Volk am Kampfe verhindere.«

Priamos empfand mit Rührung das Edelmütige dieser Nachfrage und antwortete ihm: »O Achilleus, wenn du uns das vergönnen willst, so gewähre uns neun Tage den Toten zu beweinen und die Anstalten zu seiner Bestattung zu treffen. Dann wollen wir ihn am zehnten Tage verbrennen, am elften das Grabmal aufrichten, und am zwölften beginne dann wieder der Krieg, wenn es doch leider Krieg sein muß!«

»Gut«, versetzte Achill, »also geschehe es. Ich werde so lange das Heer abhalten, als du begehrt hast.«

So freundlich entließ der Überwinder Hektors den unglücklichen Vater und der wütende Feind der Troer den König dieses Volks. Er geleitete den Wagen bis ans Thor der Verschanzung und gab acht, daß keiner der etwa schon erwachten Achäer den alten Mann beleidige. So kam derselbe glücklich wieder in das wohlbekannte Gefilde an die Furt des wallenden Skamandros, wo ihm gestern Abend der hilfreiche Götterjüngling genaht war. Jetzt, als er wieder an derselben Stelle seine Rosse tränkte, ging eben die Sonne auf; da erkannte die Kommenden Kassandra, Priamos' liebste Tochter, die schon seit früher Morgendämmerung auf der Warte gestanden und mit klopfendem Busen der Ankunft des Vaters entgegengesehen hatte. Sie wartete noch einige Augenblicke, bis sie alles und auch den verhüllten Leichnam ihres Bruders in dem Wagen genau erkannt hatte; und nun sprang sie eilig die Stufen hinab, lief in die Königswohnung zurück und rief Mutter und Geschwister mit lauter Stimme herbei.

»Auf! Auf! sie kommen, sie bringen ihn mit. Eilt ihr Troer und Troerinnen, den gefallenen Helden zu schauen, dem ihr im Leben so oft entgegengejauchzt, wenn er wiederkehrte aus der Feldschlacht! Denn er war ja die Freude der Stadt und alles Volkes.«

Da lief herbei wer nur die rufende Stimme hörte, Mann und Weib; keiner blieb zu Hause, denn alle hatten den Hektor geliebt und eilten nun ihn zu sehen. Vor allem aber drängten sich Hekabe und Andromache, die blühende Gattin, hervor; sie zogen den Kommenden entgegen und umringten mit lautem Geschrei den Wagen noch vor dem Stadtthore. Im Übermaß des Schmerzes stürzten sie sich auf den Leichnam und netzten ihn mit Thränen, berührten sein zerschundenes Haupt und deckten die Tücher auf, um seine Wunden zu schauen. Nun aber traten auch die übrigen heran; und sicher hätten sie ihn dort vor dem Thore den ganzen Tag betrauert, wenn nicht der König die Geißel geschwungen und laut gerufen hätte: »Gebet Raum! und laßt mir jetzt die Pferde hindurch! Nachher mögt ihr weinen bei der Leiche, wenn wir sie erst daheim haben werden.«

Da wichen sie alle zurück, und der König fuhr in die Stadt. Ihm folgte die Schar in seine Wohnung; und als man den Leichnam vom Wagen hob und auf ein zierliches Gestell legte, begann die allgemeine Wehklage von neuem, und zwischen dem üblichen Klagegesange der Weiber tönte die ungezwungene Stimme der Natur aus dem Munde derer, die ihr Liebstes, ihr alles auf der Welt in diesem Toten verloren hatten.

»O du mein jugendlich blühender Mann, herrlicher Gatte!« klagte die treue Andromache, »da liegst du nun getötet und hast mich armes Weib und das unmündige Kind zurückgelassen, das uns unglücklichen Eltern geboren ward! Ach, wohl schwerlich erreicht es das männliche Alter, denn nun schützest du Troja und seine Weiber und Kinder nicht mehr, und fallen wird die unverteidigte Stadt, und die Hilflosen werden weggeführt werden in den Schiffen und ich mit ihnen. Da folgst du denn, unglücklicher Knabe, deiner Mutter in die Sklaverei und mußt Arbeit und Zwang erdulden, wenn nicht vielleicht noch früher schon hier in der eroberten Stadt ein grausamer Achäer, dem Hektor einen Freund oder Bruder erschlug, dich voll Rachsucht bei der zarten Schulter ergreift und von der Zinne hinab in die Gasse schleudert. Denn viele der Achäer hat dein tapferer Vater erlegt, darum beweint ihn jetzt die ganze Stadt. O Hektor! Hektor! Viel Trübsal schafft dein Tod den lieben Eltern, aber mir doch das größte! Und so entrissen sie dich mir, die entsetzlichen Feinde! Hättest du mir doch sterbend noch wenigstens einmal die Hand von dem Lager gereicht und mir ein Abschiedswort voll Weisheit gesagt, das ich ewig eingedenk im Herzen behielte und Tag und Nacht in meiner Einsamkeit unter Thränen wiederholte!«

So tönte die Klage der trostlosen Andromache. Von den Jammertönen der alten Mutter laßt mich schweigen. Ihr wißt, wie zärtlich sie diesen Sohn geliebt hatte, wie ängstlich besorgt sie ihn mit Gebeten und Wünschen begleitete, wenn er zum Kampf ins Feld hinauszog. Sie konnte nicht weggebracht werden von der teuern Leiche und berührte bald das Haupt, bald die kalten Hände, gleich als hoffe sie ihn noch einmal ins Leben zurückzurufen. Rührend war auch die Teilnahme, mit welcher die liebenswürdige Helena das Unglück der tiefgebeugten Familie zu ihrem eignen machte. Nachdem der tiefe Schmerz in Mutter und Gemahlin die Stimme der Wehklage erstickt hatte, begann sie weinend mit innigem Ton, sanft hinübergebeugt über den Toten:

»Hektor, einst mir der geliebteste von allen Brüdern meines Gemahls, o daß auch ich, die Fremde, an deiner Bahre weinen muß! Ach, seit dein Bruder mich in dieses Haus führte, wie viel Kränkung und Haß habe ich erfahren müssen! Nur dir entfiel nie ein böses Wort, nie ein Vorwurf; ja oftmals, wenn die Mutter oder der Schwägerinnen eine, auch wohl ein Schwager, mit harter Schmähung mich anließ, hast du zum guten geredet und die Zürnenden besänftigt. O, wie erquickte mich dann dein freundliches Zureden und die liebreiche Entschuldigung! Ach! nie werde ich die milde Stimme wieder hören, auch kein anderer im Hause wird fortan mir Tröster und Freund sein, denn alle wenden sich von mir.«

So klagte sie, und alle Weiber jammerten mit ihr. Die männlichen Genossen des Hauses zogen in den Wald mit Wagen und Maultieren, um Holz zur Verbrennung des Leichnams zu holen. Neun Tage führten sie Holz herbei; draußen vor der Stadt ward der Scheiterhaufen errichtet. Erst am zehnten Tage ward die Leiche hinausgetragen. Achilles aber hielt Wort, und keiner der Achäer störte die Trauernden. Die Verwandten erwiesen dem Toten alle Ehren, welche sie in ihrer eignen Not erdenken konnten. Über die goldene Urne, in welche man die übriggebliebenen Gebeine gesammelt hatte, ward ein Grabmal von Erde und großen Quadern gehäuft, und ein Totenmahl im Palaste, bei dem man die gebührenden Opfer für die Götter nicht versäumte, beschloß die Feier dieser thränenvollen Tage.


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