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Elfter Abend.
Der überlistete Zeus.

Die achäischen Helden, welche am Morgen des unglücklichen Tages verwundet aus dem Treffen geschafft waren, hatten bis dahin unmutsvoll in ihren Zelten geharrt und ihre Wunden gepflegt. Der alte Nestor saß noch bei Machaon. Er hatte ihn verbunden, mit Trank und Speise gelabt und sodann ein warmes Bad bestellt, das eine der Sklavinnen eben bereitete. Aber so lange Zeit nichts von dem Gange der Schlacht zu sehen noch zu hören, war dem Alten unmöglich. Er stand unruhig auf und sprach zu dem Verwundeten:

»Freund, ich kann nicht länger unthätig bei dir sitzen; ich muß sehen, wohin sich her Sieg wendet. Bleibe nur ruhig hier und trinke vom funkelnden Wein; bald wird die Dienerin dir im lauen Wasser die Glieder erquicken und allen Schweiß und blutigen Staub von dir abthun. Nach dem Bade aber gedenke ich wieder bei dir zu sein.«

Er ergriff den Schild seines Sohnes, denn dieser hatte ihm heute den eigenen weggenommen; dazu nahm er eine tüchtige Lanze und ging dann hinaus auf die Höhe. O wehe, was erblickte er da! die Mauer zur Hälfte niedergerissen, das Thor zerschmettert, alle Troer innerhalb des verschanzten Raumes zusammengedrängt und ein entsetzliches Getümmel, so daß man niemand unterscheiden konnte. Er seufzte tief auf und bedachte sich, ob er hinab ins Gewühl zu den Kämpfenden eilen oder den Agamemnon in seinem Zelte aufsuchen sollte. Er wählte das letztere. Und als er sich eben nach der Gegend hinwandte, wo des Königs Schiffe standen, siehe, da kamen ihm die verwundeten Fürsten selbst entgegen langsamen Schrittes, um ihrer Wunden zu schonen, und Diomedes hinkte gar und stützte sich auf seine Lanze.

»Ei, Nestor«, rief Agamemnon, »wie kommst du denn hierher und hast das Treffen verlassen können? Nicht wahr, es ist alles verloren? Ach, ich erkenne es wohl, daß alles so kommen wird, wie Hektor immer gedroht hat, daß die Troer nicht rasten werden, bis unsere Schiffe verbrannt und unsere Völker erschlagen sind. Und gestehe es nur, mir fluchen alle Achäer und hassen mich, wie mich Achilleus haßt, weil ich allein sie zu solchen Drangsalen geführt habe! Gewiß verlassen sie den Kampf oder sitzen in dumpfer Ruhe bei den Schiffen?«

»Ach nicht doch!« versetzte Nestor. »Und was geschehen ist, ist doch nun einmal geschehen, und Zeus selbst könnte es nicht mehr ändern. Schlimm steht es freilich um uns; aber so lange nicht alles verloren ist, laßt uns, ihr Fürsten, klug auf Rat sinnen, statt zu verzweifeln. Nur in die Schlacht geht mir nicht; ein Verwundeter taugt nicht zum Kämpfen.«

Da sprach Agamemnon wieder: »Soll ich dir sagen, was ich denke? Siehe, weil wir doch aufs äußerste gebracht sind und der Kampf schon um die Steuerruder wütet, weil selbst die Mauer den Rasenden nicht Einhalt gethan: so ist mein Rat, wir ziehen, sobald es finster wird, die Schiffe ins Meer und segeln still in der Nacht, wenn die Troer schlafen, von dannen. Ich hoffe ja doch, sie werden uns da in Ruhe lassen, und dadurch entkommen wir auf einmal dem Jammergeschick. Mögen sie uns immer feig nennen! Besser ist es der Gefahr entrinnen als ihr erliegen.«

»Ha! was für Reden sind das!« brach plötzlich Odysseus mit kraftvollem Scheltworte los. »Ich wollte, du hättest ein Heer von Feiglingen hierher geführt, anstatt Männern wie uns zu gebieten, die gelernt haben von früher Jugend auf bis spät ins Alter die Lasten des Krieges zu tragen und auszudauern, bis der letzte tot niedersinkt. Wie? es wäre dein Ernst jetzt dich einzuschiffen und wie ein ertappter Dieb dich durch nächtliche Flucht zu retten? O schweige doch, daß kein anderer aus dem Argeiervolke es höre, dies unwürdige Wort, das keiner auch nur nachsprechen möchte, dessen Mund gewöhnt ist, ehrliche Worte zu reden!

Da sagte Agamemnon: »Odysseus, schwer empfinde ich deinen harten Verweis; aber es war ja nicht so gemeint, daß wir fliehen sollten und müßten. Wider ihren Willen sollen die Argeier nicht die Schiffe ins Meer ziehen. Wer bessern Rat weiß, wohlan! der mag ihn sagen; sei er ein Jüngling oder ein Greis, er soll mir herzlich erwünscht sein.«

Jetzt nahm Diomedes das Wort: »Der Mann ist nicht weit«, sprach er, »den braucht ihr nicht lange zu suchen, wenn ihr anders mich hören wollt und guten Rat aus meinem Munde nicht verschmäht. Zwar bin ich der jüngste von allen, aber nicht unedleren Geschlechts als der beste von euch, und ich denke, Heldenmut und Kraft zu männlichen Thaten hat Zeus mir gegeben. So ist denn mein Rat, wir gehen in die Schlacht, nicht um zu fechten, sondern um die andern zur Tapferkeit und Ordnung zu ermuntern, die sonst auf uns sahen und jetzt ohne unsere Gegenwart kleinmütig verzagen möchten.«

Diese Rede gefiel allen, und sie folgten ihm geraden Wegs zum Kampfplätze. Als sie diesen eben erreicht hatten, kam Poseidon in der Gestalt eines alten Kriegers, dem der Schweiß der harten Arbeit von der Stirne rann, freudig überrascht ihnen entgegen und rief dem Agamemnon zu:

»Ha! geht's schon wieder? Wahrlich, es thut not, daß ihr kommt, denn jetzt steht es übel. Heute mag er recht lachen, der schadenfrohe Achilleus, wenn er da oben von seinem Verdeck das Getümmel bei den Schiffen sieht. Aber laß den Übermütigen in seinem Wahnsinn! Ihn müsse ein Gott mit Schande zeichnen! Noch hoffe ich das Beste. Die himmlischen Götter zürnen dir nicht unversöhnlich, und du siehst gewiß noch den Tag, wo die Troer besiegt von den Schiffen in ihre Stadt flüchten und ihre Helden unter unsern Speeren fallen.«

Mit diesen Worten kehrte der Gott wieder in die Schlacht zurück und mahnte durch mutigen Zuruf die ermattenden Völker zur Ausdauer. Seine Stimme aber dröhnte über das Schlachtfeld, wie wenn tausend Männer riefen, und ihr gehorchten die Achäer schnell. Die Fürsten aber sahen ihm verwundert nach, denn keiner kannte den Mann, und doch war er so erhaben und stattlich, ja fast königlich von Ansehen. Da ahneten sie wohl, es werde ein Gott gewesen sein, der ihnen Trost gebracht habe in ihrer Bedrängnis.

Sie irrten nicht: es war Poseidon, der aus Erbitterung gegen die Troer heimlich, dem Befehle des Zeus zuwider, den Achäern zu Hilfe gekommen war. Aber es würde ihm übel bekommen sein, wenn ihn der Kronide entdeckt hätte, der, vom Gipfel des quellensprudelnden Ida herab ruhigen Blickes dem Schlachtgewühl zuschaute. Um die Entdeckung wenigstens für die erste Zeit zu verhindern, ersann Here, die alles, was unten vorging, vom Olympos aus gesehen hatte, eine täuschende List.

Aphrodite war bekanntlich die schönste der himmlischen Göttinnen. Auch die andern waren schön; aber jenen wunderbaren Reiz, dem alle Herzen unterliegen müssen und der immer gewaltiger wird mit der wachsenden Liebe, den hatten sie nicht. Diese süße Gewalt lag allein in dem Gürtel der Göttin, ohne den sie zwar immer noch schön, aber nicht so unwiderstehlich bezaubernd war und der, wenn sie ihn andern lieh, auch diesen die Liebe und das unbedingte Vertrauen aller Menschen gewann. Daß Here dem Zeus trotz ihrer Schönheit verhaßt war, rührte eben nur von dem Mangel solcher Eigenschaften her. Ihr fehlten die schönsten Zierden des Weibes, Sanftmut, Freundlichkeit und Bescheidenheit, kurz alle jene Tugenden, welche die alles bezwingende Aphrodite in ihren Gürtel zu weben nicht vergessen hatte.

Deshalb nun kam Here jetzt zu ihr und fragte sie schmeichelnd: »Thätest du mir wohl etwas zu Gefallen, mein Töchterchen, oder wirst du mir's abschlagen, weil ich die Achäer beschütze und du die Troer?«

Aphrodite, die anmutige Göttin, erwiderte: »Erhabene Here, rede, was ist's, das du verlangst? Kann ich's gewähren, so thue ich's gewiß.«

Da sprach Here listig: »Gieb mir den Zaubergürtel der Liebe und Sehnsucht, der dir alle Herzen der Götter und Menschen gewinnt. Ich will hingehen zu dem Allvater Okeanos, der längst schon in bösem Groll mit seiner Gemahlin Thetis lebt, und sehen, wie ich etwa durch freundliche Worte ihren endlosen Hader schlichten möchte. Meinst du nicht, ich thue damit ein gutes Werk und könne mir herzlichen Dank verdienen?«

»Sicherlich«, antwortete der falschen Rede trauend die Göttin. »Wie könnte ich dir dazu meine Hilfe verweigern? Nimm hin den Gürtel. Möge es dir glücken!«

Und alsbald löste sie von ihrem Busen den strahlenden Gürtel, in dem jeglicher Zauber lag, und reichte ihn der Here dar. Diese nahm ihn zufrieden lächelnd, verbarg ihn in dem Busen und eilte damit in ihr Gemach. Hier badete sie den zarten Leib, salbte ihn mit ambrosischem Öle, ordnete ihr Haar und ringelt es in glänzende Locken. Dann legte sie das lange, feine Gewand an, das ihr Athene künstlich gewebt hatte, schloß es mit goldenen Spangen über dem Busen zusammen, und darunter band sie den Wundergürtel fest. Die schönen Ohrgehänge, der schimmernde Schleier und die goldenen Sohlen vollendeten die prächtige Kleidung, und nun schwebte sie, umhüllt von süßem Duft, über die Höhen des Olympos und die Gebirge und Gewässer der Erde hin, zuerst nach Lemnos, wo sie den göttlichen Schlaf, den Bruder des Todes, fand. Er war ihr zu dem Trugstück, das sie ausführen wollte, unentbehrlich; daher faßte sie ihn freundlich bei der Hand und sprach zu ihm:

»Mächtiger Schlaf, der du Menschen und Götter beherrschest, hast du mir je einen Dienst erwiesen, o, so thue es jetzt auch, und ich werde dir's ewig Dank wissen! Mein Sohn Hephästos soll dir einen unzerbrechlichen Sessel verfertigen, dessen Polster nie hart wird, strahlend von Golde, und unten einen Fußschemel daran, damit dir bei Tische die Füße behaglich ruhen können.«

Ein Lächeln flog wie Sonnenschein über das Angesicht des Gottes. Und was hätte auch den Schläfer wohl mehr reizen können, als das Versprechen eines solchen Sessels? »Nun, was verlangst du denn von mir, erhabene Königin?« fragte er.

»Komm mit mir«, sprach sie, »und wiege mir den Vater der Götter auf kurze Zeit in Schlummer! Ich selbst will ihn zuvor mit heiterem Geschwätz bethören; dann hast du leichteres Spiel, und wir können wieder eine Weile ungestört das Kriegsregiment führen.«

»Das ist viel gefordert!« antwortete der Schlaf. »Wohl an die anderen Olympier alle wagte ich mich eher, ja selbst den alten immer strömenden Okeanos würde ich einschläfern; nur dem Zeus scheue ich mich zu nahen, wenn er nicht selbst meiner begehrt. Ich bin durch Schaden belehrt worden. Oder hast du vergessen, wie gewaltig er tobte, als ich ihn in jener Zeit auf dein Anstiften berückt hatte, da du ihm seinen lieben Sohn Herakles mit Stürmen verfolgtest und auf die Insel Kos verschlagen wolltest! Vor seinem Zürnen erbebte der ganze Olympos; kaum entrann ich, und hätte mich nicht aus alter Freundschaft die Nacht in Schutz genommen, auf die er selbst etwas hält, so wäre ich vielleicht dennoch verloren gewesen.«

Here versetzte: »Ei du träumst wohl, dem Göttervater lägen die Troer so sehr am Herzen, als damals sein liebster Sohn? Mit nichten! Und damit du mein aufrichtiges, dankbares Herz sehen mögest, so verheiße ich dir Pasithea, die schönste der jugendlichen Charitinnen, zur Gemahlin, nach welcher du selbst dich stets gesehnt hast.«

»Gewiß?« fragte der Gott des Schlafes entzückt. »O, schwöre mir's, daß ich dir trauen darf, und augenblicklich will ich thun, was du befiehlst!«

Die Göttin berührte mit einer Hand die Erde und mit der andern das Meer, und schwur bei den heiligen Wassern des Styx und den Göttern der Unterwelt. Dann eilten sie beide übers Meer nach Phrygien hin. Here schritt geraden Weges den Ida hinauf, der Schlaf aber flog kreisend rings um den Berg in Gestalt eines Nachtadlers, und verbarg sich in dem Wipfel einer hohen Tanne.

Alles, was Here von dem Zauber des Gürtels gehofft hatte, ward, ihr jetzt in vollem Maße gewährt, allerdings eigentlich zu ihrer Beschämung; aber daran dachte sie zunächst nicht. Der alte Göttervater war wunderbar überrascht und traute seinen Augen kaum, denn so reizend war ihm sein teures Gemahl nimmer erschienen. Es waren Heres Augen, aber Aphroditens seelenvoller Blick; es war Heres Stimme, aber die Worte schienen aus dem Herzen der Huldgöttin zu kommen. Here, die herrische, widerspenstige Here, sanft, freundlich, zärtlich, bescheiden zu sehen, das war ihm eine so unerwartete Erscheinung, daß er sich vor Freude auf der Stelle über alle bisher erlittenen Kränkungen mit ihr aussöhnte und sich ohne alles Mißtrauen von ganzer Seele der schönen Täuschung überließ, diese Umwandlung werde von ewiger Dauer sein.

Wie aber in schlechten Händen auch das Gute mißbraucht und entehrt wird, so wandte auch Here die entlehnten Reize nur zur Befriedigung ihrer Leidenschaft an. Sie unterhielt nur darum ihren Gemahl so emsig mit traulichem Geplauder und süßem Getändel, damit er der Troer ein Stündchen vergessen sollte, ja, sie setzte sich geflissentlich so, daß er, um sie anzusehen, jenen den Rücken kehren mußte und folglich seinen ungehorsamen Bruder Poseidon nicht bemerken konnte; zuletzt aber, als sich ihr Zeus so harmlos und treuherzig hingab, winkte sie verstohlen dem lauernden Vogel oben im Tannenwipfel, daß er seine wehenden Fittige sanft über dem Glücklichen schwang, worauf derselbe alsbald friedlich entschlummerte. Eilig flog nun der Schlaf zum Poseidon hinab und brachte ihm die Botschaft: »Zeus schläft; was du thun willst, thue jetzt!«

Da durchrannte der Meergott in Gestalt eines alten Kriegers alle Reihen des Achäerheeres und rief den Völkern Mut zu. Wie ein Orkan gegen den Wald heranbraust, so stürmten beide Heere ungestüm gegeneinander, und viele stürzten nieder, zumeist von den Trojanern. Denn der Gott hatte die tapfersten Helden des Heeres festgeschlossen zusammengestellt, damit sie gleich einer ehernen Mauer mit den vorgehaltenen Lanzen die anstürmenden Feinde aufhalten sollten. Hektor freilich wußte nicht, daß ein Gott gegen ihn kämpfte, darum ließ er nicht ab und hoffte noch immer zu siegen. Jedoch bald ereilte ihn sein böses Schicksal. Er hatte eben die Lanze auf Aias geworfen, aber gerade die Stelle des Panzers getroffen, wo die Riemen des Degengehenks und des Schildes sich übereinander kreuzen; deshalb war der Wurf unschädlich geblieben. Jetzt sah er sich nach einem Steine um, aber Aias kam ihm zuvor und warf ihm einen schweren Feldstein über den Schild an das Brustbein, daß er atemlos zurücktaumelte. Schild und Feldstein sanken dem Troerhelden aus den Händen, und dröhnend fiel er selbst in den Sand. Schon wollte Aias mit den Freunden heranspringen und den Feind entkleiden, aber in diesem Augenblicke umringten ihn die tapfersten Fürsten der Troer, Äneas, Polydamas, Agenor und die trefflichen Lykierfürsten Sarpedon und Glaukos. Alle hielten sogleich ihre Schilde vor, bis einige von den Dienern ihn auf die Schultern hoben und hinaus in seinen Wagen trugen, auf dem ihn der Rosselenker zur Stadt fuhr.

Als der Wagen unterwegs an die Furt des kleinen Flüßchens Skamandros oder Xanthos kam, hoben die Freunde den noch immer betäubten, schwer aufstöhnenden Hektor vom Sitze herab, legten ihn zur Erde nieder und besprengten ihn mit frischem Wasser. Da erholte er sich ein wenig und schlug die Augen auf. Er wollte in die Höhe gerichtet sein, darum griffen sie ihm unter die Arme und erhoben ihn in eine knieende Stellung. Ein Strom schwarzes Blut stürzte ihm jetzt aus dem Halse, und hierauf sank er in abermalige Ohnmacht zurück.

Ihr könnt wohl denken, welch ein Jauchzen die Nachricht von Hektors Falle im Heere der Achäer hervorgebracht haben werde. Der alte Mut belebte sie wieder, und Poseidons mächtiger Beistand bewirkte neue Heldenthaten. Der jüngere Aias, des Oïleus Sohn, schoß den trefflichen Satnios nieder, einer reizenden Najade Sohn. Zwar wollte Polydamas ihn rächen, aber statt den Aias zu treffen, flog sein Wurfspieß dem Böotier Prothoënor in die Schulter. Auch das ein Gewinn! dachte er und rühmte sich laut den Achäern zum Ärger, die den Prothoënor ungern verloren. Aias der ältere, der ihm zunächst stand, wollte sein Rächer werden und richtete seine Lanze auf Polydamas, aber dieser bog durch einen geschickten Seitensprung aus, und so flog sie Antenors Sohne, Archilochos, der hinter ihm stand, in den Hals. Da rief Aias höhnend dem Polydamas zu:

»Nun was meinst du, Polydamas, sage mir unverhohlen, war der Mann wohl wert für Prothoënor zu fallen? Er sieht ja dem erhabenen Antenor so ähnlich; es muß wohl sein leiblicher Bruder oder sein Sohn sein.«

Der Boshafte kannte ihn recht gut; er wollte die Troer nur reizen. Diese zogen sich immer mehr zurück, und nur wenige Anführer fochten noch im Einzelkampf. Akamas stieß noch einen Achäer nieder, den jungen Promachos, sprang dann mit seinem Bruder heran und hielt den Schild vor, während dieser den Erschlagenen bei den Beinen wegzog, um ihn inmitten der Seinen ruhiger plündern zu können. Die Achäer wagten es nicht ihnen zu wehren, Akamas aber rief ihnen trotzig zu:

»Seht ihr wohl? Nicht aller Schaden ist auf unserer Seite, und mein Bruder Archilochos ist doch nicht ungerächt gefallen. Seht nur her, wie ruhig euer Freund sich fortziehen läßt! Nicht wahr, solch einen Rächer an Ort und Stelle möchte wohl jeder von euch sich wünschen?«

Das verdroß die Achäer nicht wenig, und Peneleos hätte gern den kühnen Schreier gezüchtigt. Wild sprang er auf ihn ein, aber er verfehlte ihn mit der Lanze und traf den Ilioneus, einen andern trojanischen Jüngling, gerade durchs Auge, so daß die Spitze zum Hinterkopfe wieder herausdrang. Aber dabei ließ es sein Zorn nicht bewenden; er ergriff die Lanze wieder, hob den Gefallenen daran empor und hieb ihm das Haupt ab. Dieses spießte er auf die Lanze und schwenkte es herum wie einen Mohnkopf, den man am untersten Ende des Stengels gefaßt hat, und rief höhnend den Troern hinüber:

»Grüßt mir doch, ihr Troer, Ilioneus' Vater und Mutter und erzählt ihnen das, damit sie den stattlichen Sohn daheim betrauern können. Auch unsers Promachos' Gattin wird nun den lieben Gemahl nicht mehr willkommen heißen!«

So schalten noch länger mit trotzigem Spott die Fürsten der Achäer und Troer gegeneinander. Aber der Sieg neigte sich doch im ganzen zu den Achäern hin, und die Trojaner mußten weichen, denn kein Gott stritt mehr für sie, und Hektor lag verwundet am Ufer des Xanthos. Nach kurzer Zeit sahen sie sich wieder an die Mauer, ja zum Teil schon über diese zurückgedrängt.


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