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Dritter Abend.
Zweikampf und Vertragsbruch.

Es ward den Troern angesagt, welch ein unabsehbarer Haufe gegen sie im Anzuge sei. Polites, schien es, brachte ihnen die Nachricht, einer von Priamos' Söhnen, der gewöhnlich die Wacht auf einem Turme der Mauer hatte. Aber so schien es nur; der Dichter wußte es besser: es war Iris, sagt er, die Himmelsbotin, welche Zeus zur schnellen Warnung an die Troer gesandt und in die Gestalt jenes Jünglings verwandelt hatte. Eben hielten die edelsten der Trojaner Rat vor der Wohnung des alten Königs, als sie auf jene Nachricht hastig davon stürzten. Jeglicher Führer rief in Eile die Seinigen zusammen, so daß sie alle schon gerüstet standen und den Griechen entgegengeführt werden konnten, ehe diese noch die Mauer erreichten. Ihr wißt schon, daß es die Griechen jetzt nicht mehr mit den Troern allein zu thun hatten, sondern daß diesen viele Völker aus dem westlichen Teile Kleinasiens zu Hilfe gekommen waren, Phrygier, Mysier, Lykier, Paphlagonier, Karier und selbst von dem europäischen Festlande Thrakier, Päonier und Kikonen, die manchen tapfern Helden in ihrer Mitte zählten, z. B. den Pandaros, Adrastos, Amphios, Glaukos, Sarpedon und andere. Vor allen aber ragte an unbezwinglicher Stärke und kühnem Heldenmute Hektor, des Priamos' Sohn, und nächst ihm mehrere seiner Brüder hervor, auch Äneias (Äneas), ein Verwandter des königlichen Stammes, der in der Folge wegen seiner seltsamen Schicksale noch mehr berühmt geworden ist.

Wie eine zahlreiche Herde aus den Thüren des Stalles springt und schnell den geräumigen Hof füllt, so drangen die Haufen aus den geöffneten Thoren der Stadt und ordneten sich draußen in langen Reihen. Immer näher und näher rückte der Zug der Achäer heran; aber noch konnte man nichts unterscheiden, denn der gewaltige Staub, der vor den Kommenden aufstieg, hüllte sie wie ein dichter Nebel ein. Jetzt standen sie still, und allmählich erkannten sich die gegenseitigen Führer. Vor den Trojanern schritt im Schmucke eines Pardelfells der schöne Paris einher, den Bogen auf der Schulter, das Schwert an der Hüfte, und in der Rechten zwei Wurfspieße schwingend. So forderte er mit höhnenden Worten die Tapfersten der Achäer zum Kampfe heraus. Das hörte zunächst Menelaos, sein Erzfeind, und rachedürstend eilte er, dem Räuber seiner Ehre zu begegnen. Er ließ seinen Wagen flugs dem Übermütigen entgegenfahren, sprang dann hastig hinab und stürmte kampfbegierig, wie ein Löwe im Anblick der Beute, auf ihn zu. Da ergriff Schrecken den schönlockigen Jüngling; und wie ein Wanderer, der auf seinem Wege plötzlich eine Natter erblickt hat und entsetzt zurückspringt und dann diesen Teil der Straße vermeidet, so nahm er unwillkürlich die Flucht und entwich durchs Gewühl der übrigen Trojaner.

Hektor, sein Bruder, sah ihn, und Schmach und Zorn empörten ihm das Herz im Busen. »Weichling!« schrie er ihm zu, »Weiberheld mit dem glatten Gesicht! wärest du doch nie geboren oder gestorben, ehe du Weiber verführen lerntest! Wahrlich, es wäre dir besser als jetzt allen Troern zum Schimpf dazustehen und den Achäern zum Gelächter, die doch glauben mußten, du wolltest die Schlacht allein ausfechten, weil du in stattlich prangender Gestalt so stolz den Reihen voranschrittest. Aber du hast weder Kraft noch Mut in deinem Herzen. Wunder nur, wie du's gewagt hast einst in ein fremdes Land zu schiffen und aus der Mitte kriegerischer Männer ein schönes Weib zu rauben, deinem Vater zum Gram wie uns allen, dir selbst aber zu ewiger Schande. Nicht wahr, heute erschien dir Menelaos anders als damals? Und hätte er dich nur erreicht, dann möchte dir deine Laute und dein lockiges Haar, der schlanke Wuchs und die Huld der Aphrodite nichts geholfen haben. Ja, wären die Trojaner nicht ein zages Gesindel, du hattest längst mit dem Tode gebüßt, was du Unglücksstifter Böses über sie gebracht hast.«

»Bruder«, antwortete Paris, »du hast recht; ich schäme mich vor mir selbst, aber ich weiß nicht, was mich ergriff, als ich den Menelaos erblickte. Ich war wirklich vorgetreten, um mit jedem zu kämpfen; aber auf ihn war ich nicht gefaßt. Doch vergieb mir, ich will's wieder gut machen. Ich will mit Menelaos allein vor allem Volke fechten; und wer von uns beiden fällt, der überläßt dem andern die Helena und sämtliche Schätze, und die Troer und Achäer scheiden in Freundschaft und Frieden voneinander.«

»Das wolltest du thun?« sprach hocherfreut Hektor.

»Ja, und sogleich will ich's thun; du hemme nur alsbald den Streit der andern, und laß die Achäer davon benachrichtigen.«

Hektor lief voller Freuden zu den vordern Reihen hin, welche mit Pfeilen und Wurfspießen auf die Griechen schossen, drängte sie mit der ganzen Länge seines Speeres zurück und rief ihnen zu, sich des Kampfes zu enthalten. Die Feinde richteten jetzt ihre Geschosse auf ihn; als aber Agamemnon ihn bemerkte, rief er laut:

»Haltet ein, ihr Männer, und werfet jetzt nicht; denn Hektor begehrt zu reden.«

»Ja«, sprach dieser mit erhobener Stimme, »ich habe euch ein Wort zu verkündigen, beiden, den Troern und den Achäern. Hört! Alexandros, mein Bruder, der alles Unglück verursacht hat, der will's auch enden, und bietet dem Menelaos offenen Zweikampf um Helena und sämtliche Schätze an. Wer obsiegt, der soll beides dahinnehmen, und des Fallenden Tod soll das Ende des Krieges sein. Ihr zieht dann nach Hause, und wir beschwören gegenseitig einen gastfreundschaftlichen Bund.«

Menelaos hörte das Wort mit Wohlgefallen, trat hervor und erklärte sich geneigt den Zweikampf anzunehmen, nur wollte er, daß man zur Vorsicht über die bedungenen Punkte einen feierlichen Vertrag mit allen üblichen Opfergebräuchen schlösse, und daß auch der alte König Priamos herbeigerufen würde, um diesen Bund mit zu beschwören. Das ward ihm willig zugestanden, und jeder freute sich den langwierigen Kampf auf einem so kurzen Wege geendet zu sehen. Die Anführer sprangen von ihren Wagen, legten ihre Waffen und die Rüstung ab, und das Volk lagerte sich auf der Erde, in behaglicher Ruhe den Zweikampf erwartend und voller Freude, daß der Augenblick zur Schlichtung des Haders gekommen war.

Agamemnon sandte unterdessen ins Lager und Hektor in die Stadt, um die nötigen Opfertiere holen zu lassen, letzterer auch zugleich, um den alten Vater zu sich zu entbieten. Der saß indessen oben auf der Stadtmauer am skäischen Thore mit mehreren Greisen, die jetzt nicht mehr die Lanze führen konnten und deshalb den Jünglingen zusahen, die den Kampf mit den Achäern aufnahmen. Sie wunderten sich des plötzlichen Stillstandes, doch hörten sie die Absicht bald und waren auf den Ausgang begierig. Da ward es auch der Helena angesagt: »Siehe deine beiden Männer wollen jetzt um dich kämpfen. Welcher von ihnen gewinnt, dem sollst du folgen als traute Gemahlin.« Das hörte sie mit Vergnügen und wünschte im Herzen doch wieder dem Menelaos zuzufallen. Denn sie beklagte das Unrecht, das er erlitten; es reute sie herzlich dem Verführer gefolgt zu sein, und schon hatte der Gedanke sie bekümmert, an so vieler Menschen Verderben schuld zu sein. Sie erkannte es gerührt im Herzen, wie schonend man ihr in Troja begegne; und hätte es nur an ihr gelegen, sie hätte längst alles wieder gut gemacht.

Jetzt wollte sie doch sehen, wie der entscheidende Kampf um sie enden werde, und bestieg deshalb den Ort auf der Mauer, wo die Greise saßen. Ihre Schönheit entzückte selbst diese ehrwürdigen Alten, und sie verglichen ihr Ansehn dem einer unsterblichen Göttin, Priamos aber, als er sie sah, rief ihr freundlich entgegen:

»Komm doch näher heran, mein Töchterchen! Hier, setze dich zu mir, da kannst du sie alle sehen, deinen ersten Gemahl und deine lieben Verwandten. Weine nicht, du trägst ja nicht die Schuld; das ist eine Fügung der Götter, daß es so hat kommen müssen! Nun aber sage mir doch, wer ist denn der stattliche Mann, der dort unter allen hervorragt? Es sind zwar mehrere darunter, die noch größer sind; aber so schön und edel an Gestalt und so königlich von Ansehn erblicke ich keinen weiter.«

In Helenas Herzen klangen noch die ersten Worte seiner Anrede wider, und sie entgegnete mit Thränen: »O wie gütig, bist du ehrwürdiger Vater, und wie unglücklich bin ich! Ach, wäre ich doch gestorben, ehe ich deinem Sohne hierher folgte und meinen Gatten und meine Freundinnen und mein einziges Kind daheim ließ! Aber du wolltest wissen, wer der stattliche Held ist. Das ist der tapfere Streiter Agamemnon, der mächtige König von Mykenä. Vormals war er mein Schwager!«

»Das ist also Agamemnon!«, sagte Priamos langsam, und betrachtete ihn nun mit doppelter Aufmerksamkeit. »Glücklicher Mann, der solch ein erlesenes Heer in das Treffen führt! Ach, als ich noch jung und rüstig war, damals, als ich ins Phrygerland gegen die Amazonen zu Felde zog, da waren wohl auch der Männer viele versammelt! Aber so viel waren ihrer doch nicht, als hierher gekommen sind. Nun aber sage mir weiter, da sehe ich einen, der ist etwas kleiner, aber breitschultriger; die Waffen hat er auf die Erde gestreckt, und nun schreitet er da durch die Scharen der Männer hin von einem zum andern, just wie ein Bock die Herde durchwandelt, immer geschäftig! sieh nur, da, der!

»Ja, ich sehe ihn wohl!« sprach Helena, »das ist Odysseus von Ithaka, der Sohn des Laërtes, ein tüchtiger Mann im Streite, und im Rate der klügste von allen.«

»Ja recht!« sagte der alte Antenor, »das ist er wirklich, nun erkenne ich ihn selbst. Er war ja schon einmal bei uns in der Stadt mit Menelaos; die beiden kamen von den Achäern gesandt, um deinetwegen zu unterhandeln; da beherbergte ich sie in meinem Palaste, wie du weißt. Ja, fürwahr Odysseus war ein ganzer Mann! Als sie zuerst so beide nebeneinander standen, da ragte Menelaos ansehnlicher hervor; nachdem sie sich aber gesetzt hatten, schien mir Odysseus größerer Ehre würdig. Menelaos sprach nur kurz und bündig, er liebte nicht viele Worte; als aber jener aufstand, da erstaunten wir alle über die Gewalt seiner Rede und über seine Klugheit. Wir waren dessen wahrlich nicht gewärtig gewesen, denn zuvor hatte er geschwiegen und den Blick so starr und gleichgültig zur Erde geheftet, daß man ihn hätte für einen Mann stumpfen oder tückischen Sinnes halten sollen.«

»Aber sieh einmal, liebes Kind«, fuhr Priamos fort, »da geht einer auf ihn zu, und dahinter kommt noch einer, beides stattliche Männer; das müssen auch wohl zwei mächtige Könige sein!«

»Gewiß«, erwiderte Helena, »das ist ein tapferes Heldenpaar. Der vordere ist Aias (Ajax) von Salamis, und der andere Idomeneus, der Kreter König. Der kam sonst oft zu uns, und Menelaos beherbergte ihn gern, denn er ist ein trefflicher Mann. Aber meine leiblichen Brüder, Kastor und Polydeukes (Pollux), sehe ich nirgends in der Schar der Kämpfer; sollten sie allein dem Heereszuge nicht gefolgt sein oder nur jetzt nicht wagen an der Schlacht teilzunehmen, weil sie sich meiner schämen müssen?« Sie ahnte nicht, daß beide schon daheim im Schoße der Erde ruhten! Indem sie so auf der Mauer sich unterredeten, trugen die Herolde die Lämmer herbei und Wein zum Opfer in ziegenledernen Schläuchen, auch goldene Becher und einen Mischkrug. Dann trat ein Bote zum alten Könige und hieß ihn heruntersteigen, denn der Wagen sei bereit und man harre seiner auf dem Schlachtfelde. Der Greis stieg zitternd hinab, trat in den Wagen und zog die Zügel an; neben ihm stand sein lieber Sohn Antenor und lenkte den Wagen rasch zum skäischen Thore hinaus in die Ebene.

Als sie auf dem Gefilde angekommen waren in der Mitte der Troer und Achäer, trat Agamemnon hervor, und um ihn stellten sich die übrigen Fürsten. Da gingen Herolde herum und besprengten jedem die Hände mit Wasser, denn niemand durfte mit unreinen Händen eine heilige Handlung verrichten. Darauf zog Agamemnon ein großes Messer aus dem Gürtel, schor den Lämmern die Wolle von den Köpfen, und die Herolde gaben jeglichem der Troer- und Griechenfürsten davon. Eines der Lämmer hatten die Griechen gestellt, die beiden andern die Troer, und zwar ein weißes männliches für den Helios, ein schwarzes weibliches für Gäa, die Erdgöttin. Diesen beiden opfern die Troer, weil es ihr Land ist, auf welches Helios jetzt herabschaut; dem Zeus aber die Griechen, weil er der Gott des Gastrechts ist, welches Paris verletzt hat und dessen Verletzung zu rächen sie den Krieg unternommen haben.

Dann hob Agamemnon seine Hände empor und flehte zu den Göttern:

»Vater Zeus, ruhmwürdigster Herrscher, und du, Helios, alles sehender Sonnengott, ihr Ströme, und du, Erde, und ihr, die ihr unten im Reiche der Schatten die Treulosen bestraft, welche hier Meineide geschworen haben, seid uns Zeugen unserer Schwüre und dieses heiligen Vertrages: wenn etwa Paris den König Menelaos erlegt, dann soll er Helena und ihre Schätze behalten, und wir kehren in unser Vaterland zurück; fällt aber jener im Kampfe, so entlassen die Troer das Weib und geben sämtliche Schätze zurück und zahlen uns noch eine gerechte Buße, auch in künftigen Jahren. Weigern sie sich jemals dies Gelübde zu erfüllen, so überziehe ich sie aufs neue mit Krieg und lasse nicht ab, als bis mir völlig genuggethan ist.«

Alle schwuren, so solle es sein, und nun zerschnitt er die Kehlen der Lämmer und legte die zuckenden Tiere auf die Erde, daß ihr Blut in den Staub rann. Dann schöpfte sich jeder von dem in dem Mischkruge zusammengegossenen griechischen und troischen Weine in seinen Becher und goß den Göttern zu Ehren die ersten Tropfen aus, und sprach dabei die Verwünschung: »Höre es Zeus und ihr andern Götter! wer von uns zuerst das heilige Gelübde bricht, dem werde sein und seiner Kinder Blut ebenso auf dem Boden verspritzt als jetzt dieser Wein, und die Gattin diene als Sklavin dem Fremden.«

Jetzt trat dem alten Priamos eine Thräne ins Auge. »Werte Männer«, sprach er zu den Troern und Achäern, »laßt mich nun wieder nach Hause zurückkehren, daß ich nicht mit eigenen Augen meinen geliebten Sohn mit dem streitbaren Helden Menelaos fechten sehe. Zeus und die übrigen Götter wissen es wohl, wem das Los des Todes bestimmt ist; ich aber weiß es nicht, und die Himmlischen mögen mich bewahren etwa den Tod meines Sohnes mit ansehn zu müssen.« Mit diesen Worten ließ er sich in den Wagen heben, legte auch die geschlachteten Lämmer vor sich hin, damit kein unwürdiger Gebrauch davon gemacht würde, und Antenor fuhr ihn rasch wieder nach seiner Wohnung zurück.

Hektor und Odysseus, die Ordner und Hüter des Kampfs, maßen nun den Kampfplatz ab und warfen zwei Lose in einen Helm, eines für Menelaos, das andere für Paris, um zu entscheiden, welcher von beiden den ersten Wurf mit der Lanze thun sollte. Hektor schüttelte, rückwärts gewandt, den Helm das war die alte Art zu losen bis eines der Lose herausflog. Es war das des Paris.

Sogleich traten die Umstehenden alle weit zurück und setzten sich ringsum nach der Ordnung nieder. Paris, ganz in blinkendes Erz gerüstet, auf dem Haupte den undurchdringlichen Helm mit dem wallenden Roßschweif, in den Händen Schwert und Schild und Speer, trat von dieser, Menelaos von jener Seite hervor in die Mitte der beiden Völker. Sie schüttelten zornig ihre Waffen, und zuerst mit heftigem Schwunge warf Paris seinen Wurfspieß auf den Gegner. Aber ach! er traf den eisernen Beschlag an Menelaos' Schilde, die Spitze bog sich krumm, und der Speer fiel kraftlos zur Erde.

»Nun, allwaltender Zeus«, rief Menelaos, »so verleihe mir Kraft den Jüngling zu strafen, der an mir so bitter gefrevelt hat, damit jeder gewarnt werde vor Entweihung des heiligen Gastrechts!« Sprach's und schmetterte ihm mit gewaltigem Wurfe die Lanze auf den Leib, daß sie den Schild durchbrach und gewiß ihm ins Herz gedrungen wäre, hätte nicht Paris rasch sich gewendet. Aber indem er noch in der Bestürzung auf seinen Schild sah, sprang Menelaos mit entblößtem Schwerte auf ihn ein und führte einen so kräftigen Streich auf seinen Kopf, daß er ihm sicher den Schädel gespalten hätte, wäre nicht an der Härte des Helms die spröde Klinge in Stücke zersprungen. Da knirschte Menelaos vor Unwillen: »Grausamer Zeus!« rief er aus, »verweigerst du mir abermals den verdienten Lohn der Tapferkeit? habe ich umsonst die Lanze geschleudert? umsonst das Schwert geschwungen?« Und zum drittenmale fuhr er auf Paris los mit bloßer Hand, packte ihn beim Helmbusch, um ihn ringend zu Boden zu werfen; und sicher hätte er ihn geschleift, aber indem er ihn niederzog, riß der Riemen, mit welchem der Helm ihm unter dem Kinn zugebunden war, und mit heftigem Ruck fuhr Menelaos' Arm in die Höhe, so daß der bloße Helm in der Hand des ergrimmten Kämpfers zurückblieb. Diesen Augenblick benutzte Paris sofort, um eilenden Laufs sich unter die Troer zu stürzen; und als Menelaos zum zweitenmale den von der Erde entrafften Speer auf ihn losschleudern wollte, war er schon im Gedränge verschwunden. Das bewirkte Aphrodite, seine göttliche Freundin. Sie war's, die ihrem Lieblinge das Helmband gesprengt hatte; sie war's auch, die ihn jetzt der Verfolgung des Menelaos entzog.

Atemlos kam Paris in der Stadt und in seiner Wohnung an. Helena hatte dem ungleichen Kampfe von der Mauer zugesehen und schämte sich des schimpflichen Ausgangs. Voll Unwillens trat sie in das Gemach, wo der unglückliche Kämpfer mit wirrem Haare und schweißbedeckt auf einer Bank lag. »Ha, Elender!« , rief sie aus, »nun prahle noch länger, du wollest den braunlockigen Menelaos besiegen! Aber ich denke, du wirst es nicht zum zweitenmale versuchen, es möchte schwerlich wieder so glücklich enden!«

»Liebe Gattin«, sprach er, »laß ab mich noch durch bittere Schmähungen zu kränken. Das sind Fügungen der Götter, die den Sieg geben, wem sie wollen. Heute hat Menelaos über mich obgesiegt! ich überwinde ihn morgen vielleicht. Ist doch der Mensch nicht Herr seines Schicksals!«

Während diese so sprachen, triumphierten alle Achäer im Lager, und Agamemnon erklärte laut seinen Bruder für den Sieger. Er verlangte daher von den Troern kraft des Bündnisses die Auslieferung der Helena und ihrer Schätze und einen fortdauernden Tribut als Entschädigung für die lange Kriegsnot.

Aber während die Griechen noch so laut triumphierten, gab Zeus einem darob ergrimmten Trojaner ins Herz einen Pfeil auf Menelaos abzuschießen. Verblendet lud so jener die Schuld und die Strafe des Meineids auf die schuldlosen Trojaner. Pandaros hieß der vorwitzige Schütz, und Athene selbst hatte unter der Gestalt eines Waffengefährten ihm den bösen Pfeil in die Hände gegeben. Eben schritt Menelaos stolz unter der Mauer vorüber. Aber der Schuß streifte nur die Haut des Helden und war nicht gefährlich. Machaon, der die Heilkraft der Kräuter kannte, sog schnell das Blut aus der Wunde und legte eine Salbe darauf, die er für solche Fälle bei sich führte. Das Siegesgeschrei der Achäer verwandelte sich nun in die heftigsten Verwünschungen gegen die Trojaner. Alle schmähten das treulose Volk und flehten die Rache des Zeus auf dasselbe herab; Agamemnon aber schwur nunmehr nicht zu rasten, als bis dies bundbrüchige, hinterlistige Geschlecht vertilgt und die Stadt von den Flammen verzehrt sei, und er zweifelte nicht, daß Zeus selbst und alle Götter der Ober- und Unterwelt, bei denen der Eid geschworen war, den Verrat rächen würden.

Er rief also seine Scharen abermals mit starker Stimme zum Kampfe auf und durcheilte die langen Reihen. Die Mutigen und Beherzten schlug er freudig auf die Schulter, aber die Saumseligen mahnte er mit strengem Ernst und drohte jedem Feiglinge mit seinem Zorne. Besonders weilte er bei den Anführern. Zuerst kam er zum Idomeneus, der gerüstet unter seinen Kretern stand. »Brav, mein wackrer Idomeneus!« sprach er, »du bist doch immer voran im Kriege sowohl wie sonst in jedem Geschäfte. Darum ehre ich dich auch vorzüglich, und beim Mahle ist dein Becher beständig gefüllt.«

»Ja, mein König«, rief jener entgegen; »gern bin ich immer dein treuer Genosse. Geh nur und stachle die andern zum Kampfe. Denn jetzt müssen die Trojaner doppelt gezüchtigt werden.«

Von hier eilte Agamemnon weiter und kam zunächst an die Völker, welche von den beiden Aias befehligt wurden. Auch diese standen schon in Ordnung und zum Angriff bereit; darüber freute sich der König und rief im Vorübereilen dem Heldenpaare zu:

»Euch braucht man nicht zu ermuntern, edle Freunde, ihr treibt selbst euer Volk an. Ha! wenn ich lauter solche tapfere Mitstreiter hatte, dann sollte man bald die feste Stadt des Priamos in Trümmern schauen!«

Er eilte in Hast zu den nächsten Scharen: das waren die Pylier, die von jungen Fürstensöhnen angeführt wurden, denen der alte Nestor fleißig mit seinem klugen Rate beistand. Auch jetzt ging der rührige Greis umher und ordnete die Mannschaft und gab gute Regeln, wie sie sich immer beisammenhalten sollten, die Schwächern in der Mitte, die Mutigsten vorn und an den Seiten; keiner sollte sich allein zu weit hervorwagen, keiner zurückweichen; die jungen Fürsten, die auf Wagen fuhren, sollten ihre Rosse festhalten, mit ihren Streitwagen in einer Linie bleiben und diese ja nicht brechen, und was des guten Rats noch mehr war. »Brav! brav!« rief ihm Agamemnon freudig zu. »Wo du bist, da ist die Jugend gewiß gut beraten. Wollte Gott, du könntest noch so kräftig die Lanze schwingen, als dein Geist rege ist; aber leider, Alter, ist das vorbei!«

»Ei nun«, erwiderte der Greis, »wenn ich euch nur zu etwas noch tauge! Alles zugleich geben ja die Götter nicht Einem. Freilich wohl, wenn ich noch wäre wie vor fünfzig Jahren, damals, als ich den Helden Ereuthalion erlegte

Agamemnon merkte schon an dem Anfange, daß die Geschichte wieder etwas lang werden möchte, er ging also geschwind davon und kam zu den Athenern und Kephallenern, von denen jene Menestheus, diese aber Odysseus anführte. Beide Feldherren fand er in sorglosem Gespräche begriffen nebeneinander sitzend, weil sie mit ihren Leuten erst in zweiter Linie zum Angriffe vorrücken wollten. Da rief Agamemnon ihnen zu: »Ei, ei, ihr Fürsten, denkt ihr so des Krieges? Alle andern stehen gerüstet, um sich alsbald auf den Feind zu stürzen, und ihr wolltet die letzten sein? Euch gerade geziemt es unter den Vorkämpfern zu stehen; seid ihr doch immer die ersten beim Mahle, das die Achäer den Fürsten bereiten! Aber freilich, angenehmer ist's der vorderste zu sein, wo es Braten zu schmausen und süßen Wein zu trinken giebt, als hier in der blutigen Schlacht vor den übrigen Männern zu kämpfen.«

»Ha! was sprichst du da!« antwortete Odysseus mit finsterm Blick, »Wann hast du uns je säumig zur Schlacht gefunden? Laß nur den Kampf beginnen, wir werden nicht weit sein! Und haben wir erst angefangen, und es wollte dir dann belieben uns einmal ein Weilchen zuzusehen, da solltest du dein Wunder schauen. Geh, geh! komm mir nicht wieder mit so nichtiger Rede!«

Agamemnon erkannte sein Unrecht, und diesmal verleitete seine schnelle Hitze ihn nicht wieder den Freund noch heftiger zu erzürnen. »Laß es gut sein, wackerer Odysseus«, erwiderte er lächelnd, »wir kennen uns ja. Ich weiß es, du bedarfst meiner Ermunterung nicht, und noch weniger verdienst du meinen Tadel. Du hast mich nie in Nöten verlassen und bist gesinnt wie ich. Vergieb, ich war zu rasch; und ist mir ein hartes Wort entfallen, so laß es schnell vergessen sein!«

Von hier eilte er weiter zum nächsten Haufen. Da fand er den Diomedes und den Sthenelos, beide auf einem Wagen stehend, den ersteren mit trüber, beinahe unmutiger Miene. »Wie? Sohn des Tydeus«, rief er ihm zu, »du scheinst bestürzt und zitterst gar? Ha, schäme dich! das hat dein edler Vater nimmer gethan. Der kannte keine Furcht, und wenn es fünfzig Männer zu bezwingen galt oder noch so plötzlich ein schlauer Feind ihm aus dem Hinterhalt entgegensprang! Was hat der Mann nicht für Thaten vollführt! Noch leben sie in aller Munde und werden laut gepriesen. Und dir fehlt's doch auch nicht an Stärke. Aber freilich du gebrauchst sie nicht; Reden gelingt dir besser!«

»O still!« entgegnete Sthenelos ihm, als Diomedes ehrfurchtsvoll zu dem Verweise des Königs schwieg, »du schiltst ohne Not und weißt es doch besser. Wir rühmen uns tapferer zu sein als unsere Väter, denn sie haben viel Fußvolk und Reisige nach Theben geführt und haben die Stadt nicht erobert; wir aber haben sie erstürmt, und unser waren nur wenige im Vergleich mit den Vätern. Geh mir mit ihnen und mit ihrem Ruhme!«

»Schweig still, trauter Freund!« unterbrach ihn Diomedes. »Agamemnon meint es so böse nicht. Aber es ist ja sein Geschäft die Achäer rings zum Kampfe anzutreiben, und darum verarge ich ihm die harten Worte nicht. Denn sein ist ja der Gewinn und der Ruhm, wenn das Heer obsiegt und der Krieg ein glückliches Ende gewinnt, sein auch die Schande und der Gram, wenn wir überwunden nach Hause schiffen müßten.«

Mit diesen Worten sprang der Held, der hochherzig alle Empfindlichkeit unterdrückt hatte, herab von seinem Wagen, daß ihm die eherne Rüstung klirrte, und schickte sich an in die Schlacht zu eilen. Agamemnon aber wandte sich weiter von Schar zu Schar. Während er den rechten Flügel so ermunterte, rückte der linke schon vor, um den Feind anzugreifen. Eine große Staubwolke stieg hinter den Kämpfern auf; sie bewegten sich langsam, und keiner gab einen Laut von sich. Jeder Fürst führte die Seinen besonders an. Endlich stießen die Achäer mit den Troern, die lärmend herangezogen waren, zusammen. Schilde klirrten gegen Schilde, Lanze brach an Lanze. Unter wütenden Stößen stürzten hüben und drüben die Krieger. Jetzt erhob sich lautes Getöse, und zu dem tobenden Schlachtruf gesellte sich das Gewimmer der Verwundeten und der Sterbenden, die von den Ihrigen bei den Beinen zurückgeschleift wurden, um nicht zertreten zu werden oder den Mißhandlungen der Feinde ausgesetzt zu sein. Die Schwerter zischten durch die Luft, Speere sausten, und mitten aus dem Getümmel scholl der Ruf der Feldherrn und das Geschrei der Kämpfenden. Das tönte von Ferne wie das Brausen zweier Ströme, die von dem Schneewasser angeschwellt im Frühjahr aus den Felsen gegeneinander stürzen und schäumend herabdonnern, bis eine Öffnung des Thals ihnen einen gemeinschaftlichen Ausweg bahnt. Der weidende Hirt hört das Tosen hoch oben auf seinen Bergen mit Staunen, und Schauer ergreift ihn.

Aber indem Scharen gegen Scharen drängten, suchten die Fürsten einzelne Gegner auf oder forderten sich gegenseitig durch höhnende Worte zum Kampfe heraus. So erschlug der Grieche Antilochos den tapfern Echepolos, der seinen Freund mit in das Unglück riß. Denn als dieser, der treue Elephenor, ihn beim Fuße aus dem Gewühle schleppen wollte, damit der siegende Feind ihn nicht der Rüstung beraube, rannte Agenor den Gebückten schnell über den Haufen und zog ihm sein eigenes Waffengeschmeide aus. Dort focht der ältere Aias mit Simoïsios, einem schlanken trojanischen Jünglinge; er war seiner Eltern einzige Freude, und ach! nun ward er ihr größter Kummer. Denn ihm traf des Aias Speer die Brust rechts an der Warze, daß die Spitze aus der Schulter hervordrang, und tot fiel der Getroffene der ganzen Länge nach wie ein abgehauener Baumstamm zur Erde nieder. Das sah Antiphos, Priamos' Sohn; und rächend wollte er auf Aias die Lanze schleudern, als dieser dem Gefallenen die Rüstung abnahm, aber sie flog dicht neben seinem Haupte hin und traf den Leukos, des Odysseus Gefährten, der nicht weit hinter ihm stand. Tief verwundet im Bauche sank er nieder und schrie laut auf. Da trat Odysseus zornig hervor, schaute sich nach allen Seiten um und warf dann mit gewaltiger Kraft seinen Spieß in das Gedränge hinein, woher der Wurf gekommen war. Und siehe, Demokoon fiel, ein anderer von Priamos' Söhnen, an den Schläfen tödlich getroffen. Die eherne Rüstung krachte, als er niederstürzte, und die Troer um ihn her wichen erschrocken zurück, weil sie sahen, daß Odysseus es war, der gegen sie kämpfte.

Hektor indessen, der seine Gefährten weichen sah, rannte von Haufen zu Haufen, um sie alle zum mutigen Kampfe zu ermuntern. »Ihr werdet doch nicht«, rief er ihnen zu, »den Griechen das Feld räumen, da euer so viele sind? Ihr seht ja, ihre Leiber sind auch nicht von Stahl und Stein, und ihr tapferster Held, der göttliche Achill ist nicht einmal unter ihnen.«

Hierauf erneuerten sie den Streit, und noch fiel mancher von ihren Spießen zu Boden gestreckt. So der Grieche Diores, dem ein schwerer Feldstein das Bein zerschmetterte, daß er sinnlos vor Schmerz hintaumelte. Indem er noch seine Arme nach einem Freunde ausstreckte, der ihn aus dem Getümmel trüge, kam schon, der ihn getroffen, der Trojaner Peiroos, auf ihn losgerannt und stieß ihm die Lanze in den Leib, daß alle Eingeweide hervorquollen; und er fiel zuckend mit dem Haupte zur Erde und Todesnacht umhüllte ihm die Augen. Der Troer freute sich aber des Sieges nicht lange, denn während er noch den Sterbenden entwaffnen wollte, traf der Aetolier Thoas ihn mit der Lanze in die Brust, daß er wankte, sprang dann mit dem Schwerte auf ihn los und gab ihm den Todesstreich; da sank er über des Diores Leiche hin. Thoas konnte ihn nicht berauben; denn als nun die Trojaner heran kamen, um ihn wegzutragen, floh er eilends zurück und suchte sich andere Beute. Von dem Volke aber lagen Unzählige in den Staub gestreckt übereinander, und ihr Blut düngte den dürren Sand. Es war ein heißer Tag, und Roß und Reisige lechzten.


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