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Zweiter Abend.
Die Götterversammlung und die Volksversammlung.

Achilleus sah den Männern düster nach, stand dann rasch auf und setzte sich fern von seinen Genossen abwärts an das Gestade des Meeres, den thränenvollen Blick auf die dunkeln Wogen gerichtet. Er dachte an seine Mutter Thetis, die in der Tiefe dieser Fluten wohnte, breitete die Arme aus und flehte zu ihr, daß sie sich seiner annähme. Und sofort stieg die Göttin herauf; wie ein Nebel schwebte sie über die See daher, setzte sich dann neben den bekümmerten Sohn und liebkosete ihn zärtlich.

»Lieber Sohn«, fragte sie ihn, »was weinst du? Sprich, was betrübt deine Seele? Rede! verhehle mir nichts.«

Er mußte ihr alles erzählen. »Sieh«, so schloß er endlich, »so hat er mich gekränkt, der übermütige Mann, und ich sitze nun ehrlos hier bei den Schiffen; für alle meine Thaten wird mir kein Lohn, und mein Leben, das mir vom Schicksale schon so kurz zugemessen ist, soll nun auch untergehen ohne Ruhm. O Mutter, räche meine Schmach! Du vermagst ja so viel über Zeus! Bitte ihn doch, daß er mir die Ehre verleihe und den Trojanern so lange Sieg auf Sieg gewähre, bis Agamemnons Völker unter den feindlichen Schwertern gefallen sind und er es reuig empfindet, welch ein Unglück er sich selber dadurch bereitete, daß er den tapfersten der Achäer von sich stieß.«

Die Mutter billigte des Sohnes Zorn und versprach ihm, die Kniee des Göttervaters bittend zu umfassen. Nur jetzt, sagte sie ihm, gehe es noch nicht an, denn gestern sei Zeus mit allen Göttern zu einem Mahle bei den Äthiopen gezogen, die am Ende der Welt, am Flusse Okeanos, wohnen, und kehre erst nach zwölf Tagen wieder zurück. Dann aber werde sie sogleich den Weg zum Olymp antreten und jenem die Bitte vorlegen.

Es war noch früh am zwölften Tage, seitdem sich Achilleus von dem Kampfe zurückgezogen hatte, da stieg Thetis aus den dunkeln Wogen des Meeres zum zackigen Olympos empor. Sie fand den Zeus seitwärts von den übrigen Göttern auf dem höchsten Gipfel des Berges sitzend, beugte sich vor ihm nieder, umschlang mit der Linken seine Kniee und streichelte ihm mit der Rechten den Bart. »Vater Zeus«, sagte sie schmeichelnd, »wenn ich dir je etwas wert gewesen bin, so gewähre mir jetzt meine Bitte und ehre meinen Sohn, den ich ohnehin nur zu kurzem Leben geboren habe. Räche ihn an Agamemnon und stärke die Troer mit Siegeskraft, bis die Achäer gezwungen werden ihm die schimpfliche Kränkung mit doppelter Ehre zu vergelten.«

Zeus schloß schweigend und unmutig die Lippen. Da schmiegte sich die Göttin noch enger an die fest umschlungenen Kniee und flehete aufs neue: »Winke mir Gewährung, o Vater; und willst du das nicht, so verweigere mir's entschieden, damit ich selbst höre und sehe, daß ich die verachtetste unter allen Göttinnen bin.«

»Ach!« rief endlich der Vater der Götter und Menschen, »da bringst du mir wieder neue Gelegenheit zu Hader mit der Here, die schon genug mit mir zankt, weil ich immer den Troern helfe. Ich thäte dir's gern zu Gefallen, wenn nicht ... Doch, entferne dich schleunigst, ehe die Argwöhnische dich hier sieht; fürwahr, ich werde deiner nicht vergessen!«

Also sprach und winkte mit schwärzlichen Brauen Kronion;
Und die ambrosischen Locken des Königes wallten ihm vorwärts
Von dem unsterblichen Haupt: es erbebten die Höh'n des Olympos. Das sind die drei berühmten homerischen Verse (Iliade I. 527 ff.), die dem unsterblichen Phidias bei seinem Wunderwerke, der kolossalen Bildsäule des Zeus, welche den Tempel zu Olympia schmückte, vorgeschwebt haben sollen. Der allmächtig herrschende, überall siegreiche Gott in huldvoller Gewährung und gnädiger Erhörung der an ihn gerichteten Bitten das war die Vorstellung, welche der Künstler auszudrücken suchte.

Thetis ging und tauchte erfreut über die verheißene Gewährung ihrer Bitte in das Meer hinab. Zeus aber erhob sich, um sich in seinen Palast zu begeben. Als ihn die Götter von ferne kommen sahen, standen sie alle von ihren Sitzen auf und gingen ihm ehrfurchtsvoll entgegen. Er setzte sich auf seinen hohen Thron, ohne des eben Geschehenen Erwähnung zu thun. Aber die eifersüchtigen Augen der Gemahlin hatten die Thetis wohl bemerkt, und streitsüchtig, wie Here war, konnte sie diese Gelegenheit nicht vorüberlassen mit dem Gemahle zu hadern, zumal sie durch diese Begünstigung sich schwer verletzt wähnte. »Wer ist schon wieder bei dir gewesen?« begann sie. »Immer weißt du's doch zu veranstalten, daß ich nichts von dem höre, was andere mit dir verhandeln; im geheimen wird alles abgemacht. Seht doch! ob ich wohl ein einziges Wort erfahre!«

.

»Du mußt auch nicht alles wissen!« versetzte der Vater der Götter. »Du würdest ohnehin manches gar nicht verstehen können. Was du wissen kannst, siehst du, das sollst du künftig allemal zuerst erfahren; was mir aber allein zu beschließen beliebt, das hüte dich wohl von mir auszuspähen oder abzuhorchen.«

»Wann habe ich wohl schon gehorcht?« schnaubte sie heftig entgegen. »Du lässest dir wohl viel abhorchen? Nein, aber gesehen habe ich's, wie Thetis zu deinen Füßen lag und deine Kniee umfing, und wie du ihr gnädig winktest und wie sie so fröhlich von dannen ging. Ganz gewiß sollen nun wieder die Achäer um Achilleus', des Lieblings, willen leiden und die übermütigen Troer beschützt werden? Denn was hätte sie sonst gewollt?«

»Ja, ja«, erwiderte Zeus, »du vermutest immer und spürest mir immer nach, und es hilft dir doch nichts, nicht das mindeste! Vielmehr wirst du mir damit nur immer verhaßter im Herzen. Mag es doch sein, wie du denkst; was geht es dich an? Es beliebt mir nun so! Also sitze ganz ruhig und schweige beizeiten; denn bringst du mich noch durch ein einziges Wort auf, so möchte dich wohl der ganze Kreis der hier im Saale Versammelten vor meinen mächtigen Händen nicht schützen!«

Nun war es hohe Zeit zu schweigen; aber solche Worte mußte Here auch erst hören, ehe sie schwieg. Die übrigen Götter saßen betroffen und in stummer Betrübnis da. Am meisten war Hephästos, der hinkende Gott des Feuers, für Here besorgt; denn sie war seine Mutter, und er hatte an sich erfahren, daß der alte Vater seine Drohungen oft schrecklich wahr mache. Darum trat er jetzt gutmütig als Vermittler des Zwistes seiner Eltern dazwischen und sagte:

»Wahrlich, kaum ist's zu ertragen, wenn ihr euch zankt! Und das um sterbliche Menschen! Kaum bleibt noch die Freude am Mahl in dem freud- und friedlosen Olymp! Liebe Mutter, obgleich du meines Rats nicht bedarfst und dir der eigene Verstand das Rechte sagt, so möchte ich dir doch raten zum Vater hin zu gehen und ihn zu bitten, daß er nicht mehr schelte und uns das Gastgelag verderbe. Denn ach! wenn er wollte, er schmetterte uns ja alle von unsern Sitzen herunter; seine Macht hat nimmer ihresgleichen. Gehe geschwind hin und schmeichle ihm mit freundlichen Worten, daß er uns wieder hold werde. Doch zuvor erst trink dir wieder heitern Mut er schenkte ihr Wein in den Becher und dann thue, wie ich gesagt habe. Ach, wenn ich das noch einmal erlebte, daß er Hand an dich legte, ich würde dich nicht retten können! Denn weißt du noch, wie er dich auch einmal schlug, und wie ich dazwischen treten wollte? Da packte er mich unten an der Ferse und schleuderte mich über die Schwelle ins Weite hinaus, daß ich einen ganzen Tag flog, ehe ich unten auf die Erde kam. Erst als die Sonne unterging, fiel ich schier ohne Athem und Leben in Lemnos nieder; ich hinke noch heutigestages davon.«

Here lächelte und nahm den Becher aus seiner Hand; aber daß sie ihren Gemahl um Verzeihung gebeten hätte, davon findet sich nichts bei dem Dichter. Zeus erheiterte sich erst wieder beim Anblick des gutmütigen Hephästos, der geschäftig von Tische zu Tische hinkte und den Mundschenk machte, um die Götter durch den Genuß des lieblichen Nektar auf andere Gedanken zu bringen. Der gute Sohn erreichte auch ganz seinen Zweck, denn sein emsiger Eifer erregte lautes Gelächter. Darauf stimmte Apollon mit seinen Musen liebliche Gesänge an, und so verging auch dieser Tag, wie alle Tage, den seligen Göttern in wonniglicher Zufriedenheit.

So weit die olympische Familienscene.

Jetzt wollen wir sehen, was Zeus thut, um die Bitte der Thetis zu erfüllen. Ihr werdet's kaum glauben, aber Homer erzählt es ohne Scheu von seinem Gotte: er spielte dem Agamemnon einen wirklich bösen Streich. Er sandte ihm in der Nacht einen Traum, der ihm verkündigen mußte, folgenden Tages würden die Götter ihm vollständigen Sieg verleihen, zumal keine Spaltung mehr zu Gunsten der Trojaner im Götterrate sich zeige. Kaum erwacht, teilte auch Agamemnon diesen Traum den übrigen Fürsten mit; und so unwahrscheinlich auch der glückliche Erfolg dem ruhig überlegenden Nestor zu sein schien, so meinte er doch dem mächtigen Könige Glauben schenken zu müssen. Agamemnon versammelt darauf die Häupter des Volks und weiß alle zu überzeugen; man ordnet das Heer zur Schlacht und eilt dem eignen Unglück entgegen.

Entkleidet von aller Dichtung mag etwa die Wahrheit diese sein: Achilleus kam grollend fortan weder ins Feld, noch in die Volksversammlung. Agamemnon dagegen, in der Hoffnung auch ohne ihn zu siegen, beschließt sogleich einen Hauptangriff auf das trojanische Heer und beruft deshalb, wie gewöhnlich, am Tage vorher eine Volksversammlung. Aber er weiß nicht, ob er es noch einmal wagen darf das längst schon murrende Volk zum Kampfe aufzufordern; daher prüft er erst den Mut und die Ausdauer seiner Griechen, indem er selbst sie auffordert zur Heimat zurückzukehren. »Liegen wir doch nun schon im zehnten Jahre hier«, sagte er, »und die Schiffe verfaulen, und die Ankertaue vermodern, und nichts haben wir ausgerichtet, vielmehr scheinen uns alle Götter zuwider zu sein. Darum ist mein Rat, wir ziehen die Schiffe je eher je lieber ins Wasser und segeln nach Hause, ehe uns die Trojaner noch größeres Übel bereiten. Die Stadt erobern wir nun doch nicht, das sehet ihr wohl alle.«

Kaum hatte er diese Worte geredet, so drängte sich lautjubelnd die ganze Versammlung durcheinander, wie wenn ein stürmender Wind die Meereswellen aufwühlt und daher jagt. Das hatten die Griechen nur zu hören gewünscht; denn alle verlangten nach Haus und Herd, nach Weib und Kind. Wie ein im Winde wallendes Kornfeld wogte die ungeheure Schar, eilenden Laufs zu den Schiffen hinstürzend, daß der Staub unter ihren Füßen in dichten Wollen emporstieg. Aber das hatte der König nicht erwartet; so heiß hatte er sich den Drang des Volkes nach der Heimkehr nicht vorgestellt. Er stand zweifelnd da, auch die andern tapfern Anführer knirschten; indessen hätte vermutlich keiner den lärmenden Schwarm noch einmal zum Stehen zu bringen versucht, wäre nicht Odysseus mit rascher Geistesgegenwart allen Fliehenden zuvorgeeilt und hätte Führer und Volk zur Ruhe und zur Rückkehr in die Versammlung ermahnt. »Lauf doch nicht sogleich«, rief er, wo er einen der Fürsten antraf, »sondern höre erst das Ende! Du weißt ja noch gar nicht, wie der König gesinnt ist. Er hat uns nur prüfen wollen, und wehe dir, wenn sein Zorn gegen dich ergrimmt; denn er ist sehr gewaltig.«

So lief er hurtig von einem zum andern und hielt sie zurück. Wo er aber einen Haufen Volks antraf, der etwa schon Hand an die Schiffe legen wollte, da schlug er wohl gar mit dem Stocke drein. »Haltet doch an«, rief er, »und hört auf anderer Leute Rat, die mehr gelten als ihr! So weit ist es noch lange nicht! Ihr dürft euch noch nicht rühren. Kommt schnell zurück und hört erst, was die andern Fürsten beschließen. Weg, weg! zurück von hier!«

Wirklich trieb er die Völker wieder zur Versammlung, und sie drängten dahin mit wildem Getöse, gleich Meeresfluten, welche brandend am Felsengestade sich brechen. Denn Agamemnons Rede hatte ihnen gar zu lieblich geklungen. Vom Odysseus wußten sie wohl, daß er sehr klug und der beredteste von allen war, aber sie kannten auch seine unermüdete Kampflust und besorgten nun, daß er zum Kriege raten möchte. Nur die Furcht vor seinem großen Ansehen konnte sie bewegen noch einmal umzukehren.

Nachdem sich die Fürsten alle gesetzt hatten und die Ruhe unter den Völkern hergestellt war, wollte Odysseus das Scepter ergreifen; aber da trat plötzlich Thersites hervor, ein Mensch, der im ganzen Heere als ein zänkischer, unverschämter Schreier verhaßt war und selten eine Gelegenheit vorüberließ die Fürsten, selbst Agamemnon nicht ausgenommen, mit höhnenden, trotzigen Reden zu schmähen. Häßlicher, widerlicher als er war keiner unter allen, die vor Troja lagen. Schielend und überdies noch lahm, seine Schultern vorn nach der Brust hin höckerig zusammengeschoben, und auf diesen schmalen Schultern ein großer zugespitzter Kopf mit aufgedunsenem Gesicht und dünnem, struppigem Haar so stellte er ein vollendetes Bild der Roheit und Gemeinheit dar. Alle haßten ihn, besonders aber Achilleus und Odysseus, auf die er immer am heftigsten zu schmähen pflegte.

»Nun, was giebt's denn noch weiter?« kreischte er laut dem Agamemnon entgegen, »wird dir's etwa wieder leid? Ich dachte, du hättest nun Geld und kostbare Beute genug zusammengescharrt, daß deine Habgier endlich befriedigt sein könnte. Verlangst du etwa noch mehr? Sollen die Achäer sich noch länger dem Schwerte des Feindes und der Not hinopfern, nur um deinen unersättlichen Schlund zu füllen? Schämen solltet ihr euch, ihr andern, daß ihr einen solchen König länger duldet, der euch geradezu ins Verderben führt. Aber Memmen seid ihr, Weiberherzen habt ihr; sonst ließet ihr ihn wohl sitzen und schifftet euch ohne ihn ein. Dann könnte er seinen Krieg allein führen und sich die Ehrengeschenke selbst erbeuten; dann würde er wohl merken, was wir ihm gewesen sind. Jetzt fühlt er das nicht. Hat er doch den trefflichen Achill nun auch erzürnt, dem er doch nicht von ferne gleicht, weder an Mut noch an Tapferkeit. Der bleibt nun fort; und wenn er nicht auch ein Narr wäre, so säßest du, Agamemnon, wohl nicht mehr auf diesem Platze.«

»Schweig, frecher Schwätzer!« fuhr Odysseus auf ihn ein, »und unterstehe dich nicht noch mit einem Worte die Fürsten zu lästern. Du hast wohl dem Könige schon viele Geschenke erbeutet, armseliger Wicht! Siehst du, ich sage dir jetzt: wenn es dich jemals wieder lüstet so unverschämt einen von uns zu schmähen, so wahr ich lebe, ich reiße dir den Mantel vom Leibe und peitsche dich mit Geißelhieben aus der Versammlung, daß man dich im ganzen Lager schreien hören soll!«

Bei diesen Worten gab Odysseus dem tückischen Schreier einen Streich über den Rücken, daß er jämmerlich sich krümmte und heulend davonlief. Die andern aber lachten alle, denn sie gönnten es ihm von Herzen, und einer sagte zum andern: »Das muß wahr sein! Odysseus ist immer ein trefflicher Mann gewesen; aber jetzt hat er das Beste gethan, daß er diesen thörichten Schwätzer zum Schweigen gebracht hat. Denn schwerlich wird er hinfort noch die Könige schelten.« Nachher ließ sich Thersites seinen Rücken besehen. Der Hieb ging gerade über die Schultern weg und hatte eine dicke, mit Blut unterlaufene Strieme zurückgelassen.

Darauf geboten nun die Herolde Ruhe in der Versammlung, denn Odysseus hatte sich mit dem Scepter wieder an seinen Ort gestellt, um zu reden. Er wandte sich gegen Agamemnon und sprach:

»O Sohn des Atreus, wie arg verkümmern dir die Achäer deinen Ruhm, und wie schlecht halten sie dir ihr Gelübde! Sie hatten dir versprochen nicht eher heimzukehren, als bis wir Troja erobert, und nun gebärden sie sich wie Kinder und winseln und wollen nach Hause geschafft sein! Freilich verdenke ich's keinem, daß er sich nach der lieben Heimat sehnt. Wünscht sich doch wohl der Schiffer, der nur einen Sommer über in der Fremde war, wenn der Winter kommt, zu seinem Weibe und den lieben Kindern zurück, und wir sind schon ins zehnte Jahr von den Unsrigen entfernt. Aber eben, weil wir so lange geweilt haben, wär's schimpflich nun abzuziehen, da wir dem Ziele so nahe sind. Denn es muß, es muß uns gelingen die Stadt zu erobern, oder alle Götterzeichen, alle Winke des erhabenen Zeus sind Trug. Verkündigte es uns nicht Kalchas schon in Aulis, daß es so geschehen würde? Wißt ihr nicht mehr, wie dicht bei dem Altare, wo wir das große Opfer brachten, ein schöner Ahornbaum stand, in dessen höchsten Zweigen ein Sperling sein Nest hatte? Ich sehe es noch, wie plötzlich eine dunkelgesprenkelte Schlange sich an dem Baume in die Höhe wand und die zwitschernden Jungen, acht an der Zahl, verschlang und zuletzt auch die ängstlich flatternde Mutter beim Flügel erhaschte. Wir alle erschraken ob des seltsamen Zeichens, aber Kalchas deutete uns die Erscheinung. Acht Junge, sagte er, fraß die Schlange und zum neunten die brütende Mutter. So wird auch dieser Krieg neun Jahre verschlingen, aber im zehnten wird Troja fallen. Seht, Freunde, so wird die Verheißung erfüllt; und jetzt wolltet ihr fliehen? Das sei ferne! Harret nur noch kurze Zeit aus, und gewiß! wir werden die stolze Stadt des Priamos erobern, und dann, ja dann laßt uns ziehen, reich mit Beute beladen und mit unsterblichem Ruhme gekrönt!«

Das immer wankelmütige Volk war schnell durch diese Rede von seinem ersten Vorsatze abgewendet worden; und während dem klugen Redner noch lauter Beifall zurauschte, erhob sich der alte Nestor schon, um durch seinen Rat die etwa noch Zögernden völlig zu bestimmen.

»So ist's recht«, sprach er, »laßt die Vernunft wieder zu euch reden! Wie? ihr wolltet wie die Kinder alles liegen lassen, weil euch zuletzt die Zeit darüber lang wird? So viel große Pläne sollten in Rauch aufgehen? und was wir dem tiefgekränkten Menelaos und seinem trefflichen Bruder Agamemnon so heilig gelobt haben, das sollten wir nun leichtsinnig und ehrlos brechen? Nicht also! Führe du, großer König, mutig die Achäer ins Feld, und die meisten, so hoffe ich, werden dir freudig folgen. Wage es noch einer zurückzubleiben oder gar sein Schiff zur Abfahrt zu rüsten: ich rate es ihm nicht, denn es möchte sein Unglück sein! Laß nun die Männer alle nach ihren Geschlechtern zusammentreten, jeden Stamm für sich; dann kämpft ein jeder für das eigne Blut. Leicht wirst du dabei erkennen, ob Göttermacht die Eroberung der Stadt wehrt, oder ob Feigheit und Unkunde des Heeres sie verhindert.«

»Wohlgesprochen!« rief Agamemnon. »Ha, wahrlich, nicht eher dürfen wir ruhen, als bis die Feste erstürmt ist, und Zeus wird es gewähren, denn sein rechtshin zuckender Blitzstrahl, den er uns sandte, als wir Aulis verließen, ist uns dafür die sicherste Bürgschaft. Ja, schon errungen wäre es vielleicht, hätte ich nur zehn so weise Männer, wie du bist, o Nestor, in meinem Heere, oder ach! wäre Achilleus nicht gegangen, den ich wegen eines so geringfügigen Gegenstandes hart gekränkt habe! Aber wohlan, ein jeder rüste sich zur Schlacht und nehme schnell das Mahl ein; dann rücken wir in dichten Haufen auf die Stadt los. Manchem, denke ich, wird heute das Wehrgehenk an der Schulter vom Schweiße triefen und die Hand an der Lanze starren; aber wo mir einer bei den Schiffen zurückbleibt, der sehe zu, daß er nicht eine Beute der Hunde und Vögel werde!«

Mit diesen Worten hob er die Versammlung auf, und alles Volk strömte jubelnd nach den Zelten zurück, um sich zu rüsten und mit Speise und Trank zu stärken. Er selbst, der König, lud die edelsten der Häupter mit in sein Zelt, um sie an seinem Frühmahle teilnehmen zu lassen, den Nestor, die beiden Aias, Idomeneus, Diomedes und Odysseus. Auch sein Bruder Menelaos gesellte sich zu ihnen. Und sie nahmen einen Stier und streuten heilige Gerste, und indem sie das Opfertier im Kreise umstanden, sprach Agamemnon ein frommes Gebet und erflehte von Zeus den Sieg. Ach, er wußte nicht, wie der Gott gegen ihn gesinnt war! Hierauf schlachteten sie den Stier, zogen ihm die Haut ab, lösten die fetten Schenkel und legten sie, noch mit den schönsten Stücken des Fettes umwickelt, auf das lodernde Feuer des Altars, dem Zeus zum lieblichen Opfer. Das übrige Fleisch nahmen sie für sich, schnitten es klein, und jeder briet sich das Seinige selbst am Spieße. Dann ward es heruntergenommen und aufgeschmaust. Dazu tranken sie. Nestor aber trieb, was er konnte, die Schlacht zu beschleunigen.

Die Wagenlenker schirrten ihre Rosse an; die Streiter warfen sich Helm und Schild über und nahmen die Lanze in die Hand; die Herolde ließen ihre gewaltigen Stimmen durch das verworrene Brausen ertönen, um die Zaudernden schnell zusammenzurufen. Da eilten die Völker herbei von ihren Schiffen, Schar für Schar, wie Schwärme wandernder Schwäne oder Kraniche, welche bald hier, bald dort in dichten Zügen die Luft durchschneiden und einer nach dem andern an dem endlich erreichten heimischen Gestade sich niederlassen. Die Fürsten durchschritten darauf in Hast die Reihen und ordneten die Geschlechter und Stämme, wie Nestor geraten hatte; der König aber rief ihnen mit kräftiger Stimme zu sich tapfer zu halten. Und als endlich alles bereit war, setzte sich der gewaltige Troß in Bewegung.


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