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Fünfter Abend.
Freundschaft und Liebe der Helden.

Der Tag begann sich zu neigen. Die Kräfte der Kämpfer erschlafften allmählich, und man sah ihrer schon viele, die fern von der Schlacht, auf ihre Lanzen gestützt oder auf die Erde gelagert, von der blutigen Arbeit ruhten. Hie und da nur verfolgten sich die Stärkeren noch über die weite Ebene hin, und die unermüdlichen Helden Diomedes, Aias, Odysseus, Agamemnon und Menelaos zogen noch manchem Erschlagenen die glänzende Rüstung aus. Von Aias' kräftigem Arme geschleudert flog eine tödliche Lanze dem besten der Thraker, dem tapfern Akamas, gerade ins Gesicht und durchbohrte ihm den Schädel. Ein anderer Fürst, den Troern befreundet, Axylos, fiel von der Hand des stürmenden Diomedes. Er war sehr reich und menschlichen Sinnes, auch kannten und liebten ihn viele; denn sein Haus lag an einer vielbereisten Straße, und er beherbergte jeden gastfreundlich, der bei ihm einsprach. Aber keiner von allen, denen er Gutes erwiesen, war jetzt ihm nahe, daß er ihn hätte dem grausen Verderben entreißen können! Er stürzte vom Wagen und nach ihm sein treuer Wagenlenker, gleichfalls von Diomedes durchbohrt, der nun die Rosse ergriff und sie jubelnd den Seinen zuführte, Und so fiel noch mancher Troer durch die Geschosse der Achäer; am unglücklichsten aber endete Adrastos, dem seine eigenen Rosse den Tod brachten. Denn sie verwickelten sich in die Stränge, wurden scheu, zerbrachen die Deichsel, daß der Wagen umfiel, und rannten losgerissen nach der Stadt zurück. Adrast lag noch betäubt auf der Erde, als Menelaos mit dem Spieße auf den Hilflosen losstürzte. Da umfaßte er des Menelaos Kniee und bat ihn flehentlich:

»Nimm mich gefangen, Sohn des Atreus, aber töte mich nicht! Siehe, mein Vater ist reich und schenkt dir gewiß unermeßliche Güter zur Lösung, wenn er hört, daß ich noch lebend bei den Schiffen verweile.«

Menelaos' Herz ward bewegt. Er neigte sich schon zu seinen Begleitern, im Begriff ihnen den Gefangenen zu übergeben, als schnell Agamemnon dazu kam und dem Bruder eifernd zurief:

»Bruder, kein Mitleid mit ihnen! Sie haben das Härteste verschuldet! Bedenke, welchen Jammer Troja über dein Haus gebracht hat und über uns alle in dem langen Kriege. Nein! kein Einziger darf uns entkommen; auch des Kindes im Schoße der Mutter werde nicht geschont! Nieder mit diesem! Er darf nicht leben!«

Menelaos wendete sich ab, und der harte Bruder stieß dem Knieenden die Lanze durch den Leib, daß er sich zuckend umherwarf und rückwärts niederfiel. Dann trat er ihm auf die Brust und zog die Lanze wieder heraus, um sie einem andern in den Leib zu rennen.

Jetzt rafften sich sämtliche Achäer wieder auf und drangen mit frischem Mute vor, da sie wußten, daß Ares nicht mehr in den Reihen der Troer focht. Auch hatte die Rast ihre Kräfte gestärkt, und das Beispiel der Helden trieb sie an sich gleichfalls Ruhm zu erwerben. Da wichen endlich die troischen Völker zurück, und das Schlachtfeld war nun nicht mehr den Schiffen so nahe; man konnte allmählich schon wieder die Weiber und Greise auf der Stadtmauer erkennen, Hektor und Äneias thaten zwar alles, um das Volk zum Widerstände zu ermuntern; aber es wollte nicht fruchten. Da trat Helenos herzu, ein anderer von Priamos' Söhnen, dem die Gabe verliehen war den Flug der Vögel zu deuten, und sprach zum Hektor:

»Lieber Bruder, wohlan ermutige noch einmal mit Äneias die Unsern zum Kampfe, dann aber überlaß uns andern den Streit und eile in die Stadt zu unserer Mutter. Sage ihr, daß sie alsbald die edelsten Frauen versammle und mit ihnen sich in den erhabenen Tempel Athenes begebe, um daselbst das kostbarste Gewand, das sie besitzt, als Geschenk in den Schoß der Göttin zu legen. Weiter soll sie der mächtigen Tochter des Zeus zwölf jährige, ungezähmte Kühe in ihrem Tempel zu heiligen geloben, wenn sie Tydeus' Sohne wehren wolle, diesem schrecklichen Krieger, den ich fast dem Achilleus gleich achte an Stärke und grausamer Wildheit.«

Hektor that, wie ihm der Bruder geheißen hatte. Während er abwesend war, blieben die Achäer immer im Vorteil, denn er hatte bisher den heftigen Andrang noch am kräftigsten abgehalten, und die tapfersten Helden vermieden ihn, weil seine Stärke mit keines andern als allein mit Achilleus' Kraft zu vergleichen war. Jetzt nun drangen die Griechen um so mutiger ein, und hinter ihren Reihen sah man den greisen Nestor geschäftig umhergehen, um sie zur Ordnung im Angriff zu ermahnen. »Bleibet nur immer hübsch beisammen!« rief er, »und wenn ein Feind gefallen ist, laufet nicht gleich hinzu, um ihm die Rüstung auszuziehen und sie nach den Zelten zu schleppen. Das zerstreut euch nur und hält auf. Nein, gleich die andern weiter verfolgt, daß ihr immer im Zuge bleibt! Zuletzt am Abend ist's noch Zeit genug die Erschlagenen zu plündern.«

So währte das heftige Gefecht fort, und noch viele sanken nieder, ehe der Abend herankam. Siehe, da stieß dem Diomedes, der, nach immer neuen Kämpfen begierig, aus dem weiten Gefilde umherschaute, ein Mann auf, den er noch nie gesehen hatte und der doch an Pracht der Rüstung, an Wuchs und gebieterischem Wesen den ersten unter den Troern gleichzukommen schien. Es war Glaukos, des Hippolochos Sohn, der aus Lykien dem Könige Priamos zu Hilfe gezogen war. Als beide auf eines Wurfes Weite einander nahe gekommen waren, hielten sie ihre Rosse an, und Diomedes rief dem Gegner zu:

»Wer bist du denn, trefflicher Mann? Nie sah ich dich ja bisher in der männerehrenden Feldschlacht, und doch mußt du ein kühner, lanzenkundiger Mann sein, da du dich meinem gewaltigen Arme entgegenstellst; denn noch hat keiner bis jetzt sich nur ungestraft genaht. Aber wahrlich, gar stattlich erscheinst du; und wärest du ein Gott, ich begehrte nicht mit dir zu kämpfen, denn nimmer hat solche Verwegenheit sterblichen Männern Heil gebracht. Bist du aber ein Mensch, wie ich, und genährt von den Früchten der Erde, nun so komm heran, auf daß du schnell das Ziel des Todes erreichest!«

Glaukos sprach: »O Sohn des Tydeus, ruhmvoll ist mein Geschlecht. Es entsproß dem Argeierlande, und Ephyra heißt die Stadt, die meine Ahnen beherrschten. Äolos ist mein Ahn, der zeugte den Sisyphos; Sisyphos, jener kluge König, zeugte den Glaukos, und dieser den herrlichen Bellerophontes, den die Götter mit übermenschlicher Schönheit und Stärke ausrüsteten. Wer hat nicht von Bellerophontes' Heldenthaten gehört, wie er durch Prötos, den mächtigen Beherrscher von Argos, auf Betrieb von dessen Gattin Antiea aus seiner Besitzung verjagt, hinüber nach Asien schiffte und zum Lykierkönige kam, der ihm Thaten, des Herakles würdig, zu vollbringen auferlegte! Er tötete die Chimära, jenes Ungeheuer mit einem Löwenhaupte, einem Drachenschweife und einem Ziegenleibe, ein wildes, entsetzliches Raubtier, das unaufhörlich Flammen spie. Dann bändigte er des Königs feindseligste Nachbarn, die tapfern Solymer, und siegte in jeder Schlacht. Da vermählte ihm der Lykierfürst seine blühende Tochter und trat ihm die Hälfte seiner Königsmacht ab. Auch die Lykier ehrten ihn und schenkten ihm Güter und reichliches Feld, das er bebauen sollte. Zwei Söhne zeugte er, Isandros und Hippolochos. Jener ist tot; aber Hippolochos lebt noch, und rühmend nenne ich ihn meinen Vater. Er sandte mich her nach Troja und ermahnte mich kräftig, immer der Beste zu sein und vorzustreben vor andern und nie das Geschlecht der Väter zu schänden. Sieh, darum habe ich deinen furchtbaren Blick nicht gescheut und will mit dir kämpfen.«

»Nein, das sei ferne!« rief Diomedes freudig, und stieß seine Lanze in den Sand. »Du bist mir ein lieber Gastfreund aus der Väter Zeiten. Denn mein Großvater Öneus hat den herrlichen Bellerovhontes zwanzig Tage in seinem Hause beherbergt, und beim Abschiede gaben sie sich Geschenke zum Zeichen ihrer Freundschaft. Öneus gab einen purpurnen Leibgurt, und Bellerophontes ließ ihm einen goldenen Becher zurück. Den verwahre ich noch zu Hause und habe ihn oftmals sinnend betrachtet. Siehe, so bist du mein Gastfreund in Argos und ich der deine, wenn ich jemals in das Lykierland käme. Laß uns also im fernen Getümmel des Kampfes einander vermeiden; bleiben mir doch der Troer genug übrig, wie dir der Achäer, um sie töten zu können. Aber zum Pfande des Wechselbundes laß uns die Rüstungen vertauschen, damit auch die andern es sehen, wie wir uns rühmen Gastfreunde aus der Väter Zeiten zu sein.«

Sie sprangen beide von den Wagen, schüttelten sich treuherzig die Hände und zogen die Rüstungen aus. Glaukos verlor bei dem Tausche, denn sein Panzer und Schild waren von Gold, die des Diomedes nur ehern, aber jener achtete das nicht und gab es ihm freudig. Darauf wiederholten sie das Gelöbnis der Freundschaft und fuhren dann schnell, denn es war nicht mehr Erzählens Zeit der eine rechts, der andere links hin von dannen.

So kommt jener freundschaftliche Bund, den Öneus und Bellerophontes einst unter den Augen des gastlichen Zeus geschlossen hatten, noch den Enkeln zu Gute, die sich unbekannt auf dem Schlachtfelde vor Troja begegnen, und ist ihnen so heilig, daß sie alle Feindschaft, alle Wut der angefachten Kampflust auf der Stelle vergessen.

Noch eine Bemerkung, ehe ich weiter erzähle. Homer sagt uns, als er von den ungleichen Rüstungen der beiden Helden spricht, wie viel jede etwa wert gewesen sei. Für des Glaukos Rüstung habe man wohl hundert, für die des Diomedes nur neun Ochsen geben mögen; zugleich bemerkt er noch, daß ein so großer Vorteil, als der des Diomedes jetzt war, nur durch die Begünstigung der Götter erlangt sei, die den Glaukos bethört hätten.

Hektor eilte indessen in die Stadt, wie ihm Helenos geheißen hatte, und schon am Thore umringten ihn die troischen Weiber und Töchter, voll Begier zu erfahren, wie es um Söhne, Brüder und Männer stehe. Aber er hatte nicht Zeit zu langen Berichten, sondern wandte sich rasch in den weiten Hof seines Vaters, in welchem fünfzig Gemächer für alle Söhne des Priamos und zwölf Schlafkammern für die Töchter erbaut standen. Hier suchte er die alte Mutter Hekabe auf, die mit ihrer gutmütigen Geschwätzigkeit den eiligen Sohn fast erzürnte. »Lieber Sohn«, sagte sie, ihm in den Hof entgegengehend, »wie kommst du denn jetzt aus der Schlacht und verlässest die andern Leute? Ich höre ja, es solle wieder recht hart draußen hergehen. Fehlt dir etwas? Was willst du haben? Soll ich dir Wein holen? Ja, ja warte, ich komme sogleich! Das ist gut, da kannst du den Göttern ein Trankopfer strengen und vor allen Dingen dich selbst erquicken, denn der Wein ist ein wahres Labsal für einen müden Menschen, und du vollends, wie magst du dich heute schon erschöpft haben!«

»Ach nicht doch, Mutter!« versetzte Hektor. »Wie könnte ich, mit blutbefleckten Händen, den Göttern opfern? Nein, darum kam ich nicht her, sondern sagen soll ich dir im Namen des zeichenkundigen Helenos, was zu thun ist.« Er wiederholte ihr nun den Auftrag des Bruders genau und schloß mit den Worten: »Befolge das, teure Mutter! Ich gehe indes zu Paris, der noch immer bei der Helena ruht, während wir andern den ganzen Tag in heißem Kampfe gerungen haben. Ich will doch sehen, ob er nicht noch einmal auf den Ruf der Ehre und der Schlacht hört. O daß ihn die Erde lebendig verschlänge, denn er ist uns allen zum Verderben geboren! Sähe ich ihn fallen, dann schöpfte ich wieder Trost, dann würde ich sagen, ich hätte im Herzen des unseligen Jammers vergessen, der über uns durch ihn gekommen ist.«

So sprach er und verließ eilig die Mutter. Diese suchte darauf aus ihrer Lade das kostbarste Gewand hervor, ein Gewebe sidonischer Frauen, welches Paris auf der Heimfahrt von Sparta aus Sidon selbst ihr zum Geschenk mitgebracht hatte. Das trug sie in Begleitung ihrer Schwiegertöchter und anderer Frauen in feierlicher Prozession hinauf zu dem Tempel der Athene, übergab es der Priesterin Theano, und diese legte es der Bildsäule der Göttin als ein Geschenk in den Schoß, flehend um Diomedes' Tod und zwölf stattliche Kühe gelobend. Aber Athene erhörte ihre Bitte nicht.

Hektor lehnte unterdessen seinen gewaltigen Spieß an die Mauer und ging in das Haus des Paris.

Er fand denselben in seinem Gemache, die Waffen untersuchend und das Horn glättend, aus welchem der Bogen gemacht war; am Herde aber saß Helena unter ihren Mägden, alle mit weiblicher Arbeit beschäftigt. »Nun, was grollst du uns denn?« fragte er verweisend, »und warum lassest du dich nicht wieder sehen? Die Leute schwinden hin vor der Mauer, und um deinetwillen kämpfen sie ja die blutige Schlacht doch am meisten! Warst du doch sonst den Zaudernden so gram und ermuntertest andere zum Fechten. Komm, ehe noch die Stadt in feindlichen Flammen auflodert!«

»Gern, mein Bruder!« sprach Paris. »Du tadelst mich mit Recht, doch war es nicht Groll gegen die Troer, was mich so lange zurückhielt; denn ihnen habe ich nichts vorzuwerfen, sondern ich grämte mich noch über mein heutiges Unglück und suchte die Einsamkeit, um meinem Kummer nachzuhängen. Aber nun hat mich die Gattin beredet wieder ins Treffen zu gehen, und schon war ich dazu bereit. Ich prüfte nur erst meine Waffen. Warte nur so lange, bis ich die Rüstung angelegt habe, oder geh auch voran; ich folge dir bald und hole dich sicher noch ein.«

»O teurer Hektor«, sagte jetzt die holdlächelnde Helena mit wehmütigem Tone, »wie rührst du mich, wie rührt ihr mich alle, die ihr um mich verächtliches, unheilbringendes Weib so grausame Kämpfe besteht! O hätte mich doch bei meiner Geburt ein reißender Sturmwind auf einen öden Felsen geschleudert, oder ins Meer, daß mich die Wogen weggespült hätten! Oder wenn einmal solch Unglück mir von den Göttern verhängt war wäre ich doch nur in eines tapfern Mannes Hände gefallen, dem die Schmach und die kränkenden Vorwürfe der Seinen zu Herzen gingen, und der seine Schande durch rühmliche Thaten wieder tilgen möchte! Aber dieser hat ja kein männliches Herz und geht seinen Brüdern zum Schimpf einher! Komm doch herein, Hektor, und setze dich her zu uns; du hast gewiß heute unter allen die größte Last ertragen um mich elendes Weib und um die Frevelthat des Paris. Ach, daß uns Zeus erwählen mußte mit unserer Schmach im Liede fortzuleben bei den kommenden Menschengeschlechtern!«

»Ach nein!« antwortete Hektor, »nötige mich nicht so freundlich zum Sitzen, Helena; ich' muß eilen wieder bei den Unsern zu sein, die längst schon voll Ungeduld nach mir umgesehen haben werden. Auch möchte ich gern noch erst in mein Haus einkehren und mein liebes Weib und das zarte Söhnchen noch einmal sehen. Wer weiß, ob ich sie jemals wieder sehe! Treibe nur diesen hinaus in den Kampf!«

Er ging und schnell erreichte er seine Wohnung, fand aber seine Gemahlin nicht daheim. Eine Dienerin sagte ihm, sie sei auf den Turm am Mischen Thore gestiegen, um das Schicksal der Troer mit eigenen Augen zu sehen. Rasch begab er sich dorthin; doch nahe am Thore kam sie ihm schon entgegen, die sittsame, verständige Andromache, und hinter ihr ging eine Dienerin, die ihr das zarte Knäblein, den Astyanax, nachtrug. Die sorgenvolle Gattin vergoß Thränen bei seinem Anblicke, nahm ihn sanft bei der Hand und sprach zu ihm:

»Böser Mann, dich tötet gewiß noch dein Mut! Bleibe doch endlich einmal bei uns und habe Mitleiden mit dem unmündigen Kinde und deinem unglücklichen Weibe. Ach wenn ich dich verliere, wer soll mich schützen? Meine Mutter ist tot, meinen Vater und sieben Brüder hat mir Achilleus erschlagen, und du gehst nun auch noch von mir, da die Achäer schon unsere Mauern bestürmen. Du bist mein Vater und Mutter und Bruder; ohne dich habe ich keinen Trost. O bleib doch hier auf dem Turme und befehlige von hier aus das Heer, das du in der Nähe des Thores zum Schütze der Mauern und der Stadt aufstellen kannst!«

»Liebes Weib, wie kann ich?« versetzte Hektor. »Ruht nicht auf mir das Heil der Stadt, und fordert nicht alles Volk meine Hilfe? Müßte ich mich nicht vor den Frauen schämen, wenn sie mich als müßigen Zuschauer auf der Mauer erblickten? Auch verbietet mir das der eigene Mut. Freilich wird auch mein Kämpfen wohl fruchtlos sein, denn mir ahnt es im Geist: Einst wird kommen der Tag, da das heilige Ilion hinsinkt und der König zusamt dem lanzenkundigen Volke! Und dann wehe dir armes Weib! wenn ein stolzer Achäer dich als Sklavin wegführt, daheim in Argos für seine Frau zu weben oder Wasser zu tragen aus der fernen Quelle, und wenn die Leute dich neugierig und herzlos angaffen und sagen: Das war Hektars Gattin, einst die hochgeehrte Trojanerfürstin, als die stolze Stadt noch stand! Ach, das zu hören, unglückliches Weib! Und ich kann dich dann nicht aus der Knechtschaft retten, denn ich vernehme deine Klage nicht mehr, weil meine Gebeine der Grabeshügel deckt!«

Jetzt wandte er den bekümmerten Blick auf den zarten Knaben in den Armen der Wärterin. Aber als er nun die seinen nach ihm ausstreckte, schrie das Kind und drückte das Köpfchen fest an den Busen des Mädchens. »Er fürchtet sich vor dem flatternden Helmbusche«, sagte diese. Da nahm der Vater den Helm ab und legte ihn auf die Erde, und nun schaute er dem Knäblein freundlich ins Gesicht, und es ging willig in seine Arme. Da wiegte er's auf und ab mit herzlicher Vaterfreude, küßte es einmal und noch einmal, und wandte inbrünstig flehend den Blick zum Himmel:

»Gütige Götter!« sprach er, »erfüllt mir das eine: Laßt dieses mein Söhnlein stark und brav werden, daß es vor andern immer sich auszeichne und dem Volke ein tapferer Hort sei, damit die Männer sagen, wenn er vom Treffen heimkehrt: Der kommt noch weit über seinen Vater! Des müsse sich dann die gute Mutter freuen!

Also sprach er und gab das Kind der weinenden Gattin zurück, die es sanft an ihren Busen drückte, unter Thränen lächelnd. Auch er wurde von Mitleid ergriffen, als er das sah. Er liebkoste das treue Weib mit der Hand und sagte tröstend:

»Fürwahr, du mußt nicht allzusehr trauern im Herzen! Des Menschen Leben ruht in der Hand des Schicksals, und keiner wird mich wider des Geschicks Bestimmung hinab zu den Toten senden. Wem aber das Los einmal fällt, der muß folgen, sei er hoch oder niedrig. Gehe darum jetzt an dein Geschäft, besorge Spindel und Webstuhl, und gebiete den dienenden Weibern, daß sie fleißig arbeiten. Der Krieg gebührt den Männern und mir am meisten unter allen Trojanern!«

Er nahm seinen Helm wieder auf und eilte von dannen. Auch sie ging mit dem Kinde, doch stand sie oft still, um dem trefflichen Manne nachzusehen. Als sie in ihr Gemach kam, da brachen erst die bittersten Thränen aus, und die dienenden Weiber schluchzten mit ihr, denn alle liebten sie und den edlen Hektor; es ward viel von ihm gesprochen, und die Frauen, das Unheil ahnend, betrachteten ihn fast als einen, der schon gefallen wäre.

Paris erreichte seinen Bruder am Thore. Er kam von der Höhe Pergamos so hieß der Hügel innerhalb der Stadt, auf welchem des Königs Palast und der Tempel der Athene lagen leicht und mutig kam er herabgelaufen wie ein junges Roß, das die Halfter zerrissen hat und mit fliegender Mähne dem bekannten Weideplatze zuspringt. Blendender Waffenglanz umstrahlte ihn; wer ihn sah, bewunderte seine Schönheit. »Sei nicht böse, lieber Bruder«, sprach er zum Hektor, »daß ich so lange verweilte.« »Seltsamer!« antwortete dieser, »dich kann kein Billiger tadeln, du bist ein tapferer Streiter, nur magst du gern säumen, und oft fehlt dir die Lust. Aber mich verdrießt doch die Rede der Leute, die dich als Urheber des Unglücks hassen, und die um dich wirklich so vieles dulden. Laß uns davon ein andermal reden, einst vielleicht, wenn uns Zeus vergönnen sollte, den Feinden obzusiegen und ihm und den andern Göttern das Dankopfer der befreiten Stadt im Paläste darzubringen.«

So sprach er und eilte mit Paris dem Schlachtfelde zu.


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