Bettine von Arnim
Goethes Briefwechsel mit einem Kinde
Bettine von Arnim

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Dritter Kuß.

Der blinde Herzog von Aremberg, der schöne, dessen Zügen die geheiligte Würde der Legitimität aufgeprägt war, wollte gegen meinen Willen mir diesen Kuß geben, ich aber war wie die schwankende Blume im Winde, die der Schmetterling vergeblich umtanzt. Laß Dir's erzählen und ausmalen mit diesen bunten Farben aus dem Muschelkasten des Kindes, mit denen ich damals noch meine Welt ausmalte und sie verstand, und Du wirst sie auch verstehen und Dich freuen, daß Du mit mir in den Spiegel siehst, in dem ich mich erkenne und den Genius, der mich zu Dir lenkt.

Er war schön, der Herzog! – Schön für das großgewölbte Kinderauge, das noch kein Menschenantlitz erblickt hatte, dessen Züge Geist ausströmten. Wenn er stundenlang bei der Großmutter saß und sich von ihr erzählen ließ, stand ich neben ihm und starrte ihn an: ich war in Betrachtung dieser reinen erhabenen Züge versunken, die dem gewöhnlichen Menschen nie geschenkt werden.

Die reine, starke Stirn, deren Mitte eine Feuerstelle hatte für den göttlichen Brand des Zorns, diese Nase, höher, kühner, trotzbietender als sein schauerliches Schicksal, diese feinen feuchten Lippen, die mehr als alles andre Befehl und Herrscherwürde aussprachen, die Luft tranken und ausseufzten die tiefste Melancholie, diese feinen Schläfen, sich an den Wangen niederschmiegend zum aufgeworfnen Kinn, wie der metallne Helm der Minerva! – Laß mich malen, Goethe, aus meinem kleinen Muschelkasten, es wird so schön! Sieh sie an, die grellen abstechenden Farben, die der philosophische Maler vermeidet, aber ich, das Kind, ich male so; und Du, der dem Kinde lächelt wie den Sternen, und in dessen Begeistrung Kindereinfalt sich mischt mit dem Seherblick des Weisen, freue Dich der grellen bunten Farben meiner Phantasie.

So war er, der schöne, blinde Herzog, so ist er noch jetzt in dem Zauberspiegel der Erinnerung, der alle Bilder meiner Kindheit gefesselt hält, der sie in Perlen reiht und Dir als Opfer zu Füßen legt; so war seine Gestalt oft niedergebeugt im Schmerz um die erblindete Jugend, dann stolz erstreckt, sich aufrichtend, heiter verächtlich ironisch lächelnd, wenn er die tiefversunknen Augensterne gegen das Licht wendete. Da stand ich und starrte ihn an, wie der Schäferknabe tief vergessen seiner Herde und seines Hundes, den an den einsamen Felsen geschmiedeten, von der abgewendeten Welt unbeklagten Prometheus anstarrt; da stand ich und saugte den reinen Tau, den die tragische Muse aus ihrer Urne sprengt, um den Staub der Gemeinheit zu dämpfen, indem ich in tiefer, bewußtloser Betrachtung über ihn versunken war. – Es war in seinem zwanzigsten Jahr, im tollen, glühenden Übermut der Jugend, im Gefühl seiner überwiegenden Schönheit und im geheimen Bewußtsein alles dessen, was dieser zu Gebot stand, daß er am Tag der Jagd über die gedeckte Tafel sprang, mit seinen Sporen das Tischzeug mit Service und Prachtaufsatz auf die Erde riß und am Boden zerschmetterte, um seinem liebsten Freund an den Hals zu springen, zu umarmen, mit ihm tausend Abenteuer zu besprechen. Sie teilten sich auf der Jagd, und der erste Schuß, den der Freund tat, war in beide Augensterne des Herzogs.

Ich habe den Herzog nie bedauert, ich bin nie zum Bewußtsein über sein Unglück gekommen; so wie ich ihn sah, erschien er mir ganz zu sich und seinem Schicksal sich verhaltend, ohne Mangel; wenn ich andre hörte sagen: »Wie schade, wie traurig, daß der Herzog blind ist!« so fühlte ich's nicht mit, im Gegenteil dachte ich: »Wie schade, daß ihr nicht alle blind seid, um die Gemeinheit eurer Züge nicht mit diesen vergleichen zu dürfen!« Ja, Goethe! Schönheit ist ja das sehende Aug' Gottes, Gottes Auge, auf welchem Gegenstand es mit Wohlgefallen ruht, erzieht die Schönheit, und ob der Herzog auch nicht gesehen habe – er war dem göttlichen Licht vermählt durch die Schönheit, und dies war allemal nicht das bitterste Schicksal.

Wenn ich so neben ihm stand und in Gedanken versunken mit ihm seufzte, da fragte er: »Qui est la? – Bettine! Amie viens que je touche tes traits, pour les apprendre par cœur!« Und so nahm er mich auf den Schoß und fuhr mit dem Zeigefinger über meine Stirn, Nase und Lippen und sagte mir Schönes über meine Züge, über das Feuer meiner Augen, als ob er sie sehen könne. Einmal fuhr ich mit ihm von Frankfurt nach Offenbach zur Großmutter, ich saß neben ihm, er fragte, ob wir noch in der Stadt seien, ob Häuser das seien und Menschen? Ich verneinte es, wir waren auf dem Land, da verwandelte sich plötzlich sein Gesicht, er griff nach mir, er wollte mich ans Herz ziehen, ich erschrak; schnell wie der Blitz hatte ich mich den Schlingen seiner Arme entzogen und duckte nieder in der Ecke des Wagens; er suchte mich, ich lachte heimlich, daß er mich nicht fand, da sagte er: »Ton cœur est-il si méchant pour mépriser, pour se jouer d'un pauvre aveugle?« Da fürchtete ich mich der Sünde meines Mutwillens, ich setzte mich wieder an seine Seite und ließ ihn gewähren, mich an sich ziehen, mich heftig an sein Herz drücken, nur mit dem Gesicht beugte ich aus und gab ihm die Wange, wenn er nach dem Mund suchte. Er fragte, ob ich einen Beichtvater habe? – Ob ich diesem erzählen werde, daß er mich geküßt habe? Ich sagte naiv schalkhaft: wenn er glaube, daß dies dem Beichtvater Vergnügen machen werde, so wolle ich's ihm erzählen. »Non, mon amie, cela ne lui plaira pas, il n'en faut rien dire, cela ne lui plaira absolument pas, n'en dites rien à personne.« In Offenbach erzählte ich's der Großmutter, die sah mich an und sagte: »Mein Kind! Ein blinder Mann, ein armer Mann!« – Im Nachhausefahren fragte er, ob ich der Großmutter gesagt habe, daß er mich geküßt habe; ich sagte »ja.« »Nun, war die Großmutter bös?« – »Nein«; »Et bien? Est ce quelle n'a rien dit?« – »Oui!« – »Et quoi?« – »Ein blinder Mann, ein armer Mann!« »O oui!« rief er, »elle a bien raison! Ein blinder Mann, ein armer Mann!« und so rief er einmal ums andre: »Ein blinder Mann, ein armer Mann!« bis er endlich in einen lauten Schrei der Klage ausbrach, der mir wie ein Schwert durchs Herz drang, aber meine Augen blieben trocken, während seinen erstorbenen Tränen entfielen. Dem Herzog ist seitdem ein feierliches Monument in meinem Herzen errichtet.

Wir hatten einen schönen Garten am Haus, Ebenmaß und Reinlichkeit war seine Hauptzierde, an beiden Seiten liefen Spaliere hin mit ausländischen Fruchtbäumen, im mitten Gang standen diese Bäume so edel, so hoch, so frei von jedem Fehl, sie hingen ihre schlanken Äste schwertragend im Herbst an den Boden, es war so still in diesem Garten wie in einem Tempel, im Eingang waren auf beiden Seiten zwei gleichmäßige Teiche, in deren Mitte Blumeninseln waren, hohe Pappeln begrenzten ihn und vermittelten die Nachbarschaft zu den Bäumen in den angrenzenden Gärten. Denke doch, wie es mir da erging, wie da alles so einfach war, und wie ich Deiner bewußt ward.

Warum wühlt's mir im Herzen, wenn ich mich dran erinnere, daß die Blütenkätzchen von den Pappeln und diese braunen klebrigen Schalen von den Knospen mich beregneten, wie ich da so still in der Mittagsstunde saß und dem Streben der jungen Weinranken nachspürte, wie die Sonnenstrahlen mich umwebten, die Bienen mich umsummten, die Käfer hin und her schwirrten, die Spinne ihr Netz ins Gitter der Laube hing? – In solcher Stunde bin ich Deiner zum erstenmal innegeworden. – Da lauschte ich, da hörte ich in der Ferne den Lärm der Welt, da dachte ich: du bist außer dieser Welt, aber mit wem bist du? – Wer ist bei dir? – Da besann ich mich auf nah und fern, da war nichts, was mir angehörte. Da konnte ich nichts erfassen, mir nichts denken, was mein sein könne. Da trat zufällig, oder war's in den Wolken geschrieben, Deine Gestalt hervor; ich hatte von Dir nichts weiter gehört als Tadel, man hatte in meiner Gegenwart gesagt: Goethe ist nicht mehr so wie sonst, er ist stolz und hochmütig, er kennt die alten Freunde nicht mehr, seine Schönheit hat gewaltig abgenommen, und er sieht nicht mehr so edel aus wie sonst; noch manches wurde von der Tante und Großmutter über Dich gesprochen, was zu Deinem Nachteil war. Ich hatte es nur im Vergessen angehört; denn ich wußte nicht, wer Du seist. Jetzt in dieser Einsamkeit und abgeschloßnen Stille unter den Bäumen, die eben blühen wollten, da kamen diese Reden mir wieder ins Gedächtnis, da sah ich im Geist, wie die Menschen, die über Dich urteilen wollten, unrecht hatten, ich sagte zu mir selbst: Nein! Er ist nicht unschön, er ist ganz edel, er ist nicht übermütig gegen mich. Trotzig ist er nur gegen die Welt, die da draußen lärmt, aber mir, die freundlich von ihm denkt, ist er gewogen, und zugleich fühlte ich, als ob Du mir gut seist, und ich dachte mich von Deinem Arm umfaßt und getrennt durch Dich von der ganzen Welt, und im Herzen spürte ich Dir nach und führte freundliche Gespräche in Gedanken mit Dir, da kam nachher meine Eifersucht, wenn man von Dir sprach oder Deinen Namen sagte, es war, als habe man Dich aus meiner Brust gerufen. Vergesse nicht, Goethe, wie ich Dich lieben lernte, daß ich nichts von Dir wußte, als daß man Dich in meiner Gegenwart böslich erwähnt hatte; die Tante sprach von Deiner Freigeisterei, und daß Du nicht an den Teufel glaubst, ich glaubte auf der Stelle auch nicht an den Teufel und war ganz Dein und liebte Dich, ohne zu wissen, daß Du der Dichter seist, von dem die Welt so Großes spreche und erwarte, das kam alles später; damals wußt' ich nur, daß die Leute Dich tadelten, und mein Herz sagte: Nein, er ist größer und schöner als alle, und da liebte ich Dich mit heißer Liebe bis auf heut' und trotzte der ganzen Welt bis auf heut', und wer über Dich sprach, von dem wendete ich mich ab, ich konnte es nicht anhören. Wie ich aber endlich Deine Herrlichkeit fassen sollte, da dehnten mir große Schmerzen die Brust aus, ich legte in Tränen mein Angesicht auf das erste Buch was ich von Dir in Händen bekam, es war der »Meister«, mein Bruder Clemens hatte es mir gebracht. Wie ich allein war, da schlug ich das Buch auf, da las ich Deinen Namen gedruckt, den sah ich an als wie Dich selber. Dort auf der Rasenbank, wo ich wenig Tage vorher zum erstenmal Deiner gedacht und Dich im Herzen in Schutz nahm, da strömte mir eine von Dir geschaffne Welt entgegen, bald fand ich die Mignon, wie sie mit dem Freund redet, wie er sich ihrer annimmt, da fühlte ich Deine Gegenwart, ich legte die Hand auf das Buch, und es war mir in Gedanken, als stehe ich vor Dir und berühre Deine Hand, es war immer so still und feierlich, wenn ich allein mit dem Buch war, und nun gingen die Tage vorüber, und ich blieb Dir treu, ich hab' an nichts anders mehr gedacht, womit ich mir die Zeit ausfüllen solle. Deine Lieder waren die ersten, die ich kennen lernte, o wie reichlich hast Du mich beschenkt für diese Neigung zu Dir, wie war ich erstaunt und ergriffen von der Schönheit des Klangs, und der Inhalt, den ich damals nicht gleich fassen konnte, wie ich den allmählich verstehen lernte, was hat dies alles in mir angeregt, was hab' ich erfahren und genossen und welche Geschicke hab' ich erlebt, wie oft hat Eifersucht gegen diese Lieder mich erregt, und in manchen, da fühlte ich mich besungen und beglückt. – Ja, warum sollte ich mich nicht glücklich träumen? – Welche höhere Wirklichkeit gibt es denn als den Traum? – Du wirst nie im Schoß des ersehnten Glückes finden, was Du von ihm geträumt hattest. – Jahre gehen dahin, daß einer dem andern sich nahe wähnt, und doch wird sich nie die eigentümliche Natur ans Licht wagen, der erste Augenblick freier unbedingter Bewegung trennt Freundschaft und Liebe. Die ewige unversiegbare Quelle der Liebe ist ja eben, daß sie Geheimnisse in ihren klaren Wellen führt. Das Unendliche, der Sehnsucht Begehrliche des Geistes ist aber, daß er ewige Rätsel darlege. Drum mein Freund, träume ich, und keine Lehren der Weisheit gehen so tief in mich ein und begeistern mich zu immer neuen Anschauungen wie diese Träume; denn sie sind nicht gebaut auf Mißverständnisse, sondern auf das heilige Bedürfnis der Liebe. – Mein erstes Lesen Deiner Bücher! Ich verstand sie nicht, aber der Klang, der Rhythmus, die Wahl der Worte, denen Du Deinen Geist vertrautest, die rissen mich hin, ohne daß ich den Inhalt begriff, ja, ich möchte sagen, daß ich viel zu tief mit Dir beschäftigt war, als daß die Geschichte Deiner Dichtungen sich hätte zwischen uns drängen können; ach, es hatte mir niemand von Dir gesagt, er ist der größte, der einzige Mensch unter allen, ich mußte es alles selbst erfahren, wie ich Deine Bücher allmählich verstehen lernte, wie oft fühlte ich mich beschämt durch diese machtausübenden Begeistrungen, da stand ich und redete im Spiegel mit mir: »Er weiß von dir nichts, in dieser Stunde läuten ihm andere Glocken, die ihn da- und dorthin rufen, er ist heiter, der Gegenwärtige ist ihm der Liebste, armes Kind! Dich nennt sein Herz nicht«, da flossen meine Tränen, da hab' ich mich getröstet und hatte Ehrfurcht vor dieser Liebe als vor etwas ganz Erhabnem. Ja, es ist wahr, es ist ein höherer Mensch innewohnend, dem sollen wir immer nachgehen, seinem Willen Folge leistend, und keinem andern sollen wir Altäre bauen und Opfer bringen, nichts soll außer ihm geschehen, wir sollen von keinem Glück wissen als nur in ihm.

So hab' ich Dich geliebt, indem ich dieser inneren Stimme willfahrte, blind war ich und taub für alles, kein Frühlingsfest und kein Winterfest feierte ich mit, auf Deine Bücher, die ich immer lesen wollte, legte ich den Kopf und schloß mit meinen Armen einen Kreis um sie, und so schlief ich einen süßen Schlaf, während die Geschwister in schönen Kleidern die Bälle besuchten, und ich sehnte mich, immer früher zum Schlafen zu kommen, bloß um da zu sein, wo ich Dir näher war. So ging die Zeit zwischen sechzehn und achtzehn Jahren hin, dann kam ich zu Deiner Mutter, mit der ich von Dir sprach, als ob Du mitten unter uns seist, dann kam ich zu Dir und seitdem weißt Du ja, daß ich nie aufgehört habe, mit Dir innerhalb dieses Kreises zu wohnen, den ein mächtiger Zauber um uns zieht. Und Du weißt von da an alles, was in meinem Herzen und Geist vorgeht, drum kann ich Dir nichts andres mehr sagen, als zieh mich an Dein Herz und bewahr' mich an demselben Dein Leben lang.

Gute Nacht, morgen reise ich in die Wetterau.

*

Reise in die Wetterau.

Wie es hier aussieht, das muß ich Dir beschreiben. Eine weite Ebne, lauter Korn, von allen Seiten, als wär' die Erde ein runder Teller, aber doch mit einem Rand; denn sanft schwillt die Fläche in die Runde bergan, abwechselnd umkränzt von Wald und Berggipfeln. Da stehe ich in der Mitte im wogenden Korn! Hätte ich Pfeil und Bogen und schösse nach allen Richtungen vom Mittelpunkt aus, so würde mein Pfeil einer alten Burg zufliegen, ich lauf' nach allen Seiten, und wo eine auftaucht, da wandre ich hin; da hab' ich manchen Graben zu überspringen, manch Wasser zu durchwaten, Wälder zu durchkreuzen, steile Klippen zu erklettern; wären's Abgründe, reißende Ströme, Wüsteneien und schwindelhohe Felswände, so wär' ich der kühnste Abenteurer. An jeder alten Ruine ein kleines Schwalbennest von Menschenwohnung angemörtelt, wo wunderliche steinalte Leute wohnen, abgelöst von den meisten Beziehungen mit ihresgleichen, und doch mit einem herzrührenden wolkendurchblitzten Blick versehen. Gestern gingen wir wohl eine gute Stunde durch schön geordnete Traubengänge, bis wir an die steile Höhe kamen, wo die Festungsmauern beginnen und das Hinansteigen nur durch Geübtheit oder Kunstsprünge erleichtert wird. Da oben haben sich ein paar mitleidige Birnbäume erhalten und Eichen mit großem, breitem Laubdach und eine Linde im schwimmenden, heißen Dampf ihrer Blüte. Mitten in dieser ehrwürdigen Gesellschaft, den Zeugen früherer Tage, lag auf spärlichem Rasen ein alter Mann mit silbernem Haar und schlief. Das unreife Obst, was von den Bäumen gefallen war, lag gesammelt an seiner Seite, seinen Händen war wahrscheinlich das danebenliegende, sehr zerlesene offene Gesangbuch entfallen, auf das ein schwarzer Hund mit glühenden Augen die Schnauze gelegt hatte; er machte Miene zu bellen, allein um seinen Herrn nicht zu wecken, hielt er an sich, wir auch gingen in weiterem Kreise um das kleine Revier, um dem Hund zu zeigen, daß wir keine böse Absicht hatten. Aus dem Speisekorb nahm ich ein weißes Brot und Wein, ich wagte mich, so nah mir der Hund erlaubte, und legte es hin, dann ging ich nach der andern Seite und übersah mir das Tal; es war geziert mit Silberbändern, die ins Kreuz die grünen Matten einschnürten, der schwarze Wald umarmte es, die fernen Bergkuppen umwachten es, die Herden wandelten über die Wiesen, die Wolkenherde zog der Sonne nach, von ihrem Glanz durchschimmert, und ließ die blasse Mondessichel allein stehen, dort über dem schwarzen Tannenhorst; so umwandelte ich rund meine Burg und sah hinab und hinauf, überall wunderliche Bilder, hörte schwermütige Töne und fühlte leises, schauerliches Atmen der Natur, sie seufzte, sie umschmeichelte mich wehmütig, als wolle sie sagen: »Weine mit mir!« – Ach, was steht in meiner Macht? – Was kann ich ihr geben!

Da ich zurückkehrte, sah ich im Vorübergehen den Alten unter dem Baum mit dem Hund, der aufrecht vor ihm saß und ihm in den Mund sah, das weiße Brot verzehren, was ich bei ihm gelegt hatte.

*

Gegenüber liegt eine andre Burg, da wohnt als Gegenstück eine alte Frau, umgeben von drei blonden Enkel-Engelsköpfchen, wovon das älteste drei Jahr' und das jüngste sechs Monate ist. Sie ist nah an siebenzig Jahre und geht an Krücken; im vorigen Jahr war sie noch rüstig, erzählte sie, und hatte vom Schulmeister den Dienst, die Glocken zu läuten, weil die Kirche höher lag wie das Dorf und näher an der alten Burgruine; ihr Sohn war Zimmermann, er ging in der kalten Weihnachtszeit in den Wald, um Holz zu fällen und zum Bau zu behauen, er kam nicht wieder, – er war erfroren im Wald. Da man ihr die Nachricht brachte, ging sie hinab in den Wald, um ihn noch einmal zu sehen, und da fiel sie zusammen und erlahmte, man mußte sie wieder die steilste Anhöhe hinauftragen, von der sie nun nicht wieder herabkommt. »Ich sehe alle Abend' die Sterne, die auf mein Grab scheinen werden, und das freut mich«, sagte sie, »ich habe Friede geschlossen mit allen Menschen und mit allem Schicksal, der Wind mag brausend daherfahren, wie in der Bibel stehet, und den alten Eichen den Hals umdrehen, oder die Sonne mag meine alten Glieder erwärmen – ich nehme alles dahin. Friede mit allen Dingen macht den Geist mächtig – der wahre Friede hat Flügel und trägt den Menschen noch bei Leibes Leben hoch über die Erde dem Himmel zu, denn er ist ein himmlischer Bote und zeigt den kürzesten Weg; er sagt, wir sollen uns nirgendwo aufhalten; denn das ist Unfriede; der grade Weg zum Himmel ist Geist, das ist die Straße, die hinüber führt, daß man alles versteht und begreift, wer gegen sein Schicksal murrt, der begreift es nicht, wer es aber in Frieden dahinnimmt, der lernt es auch bald verstehen; was man erfahren und gelernt hat, das ist allemal eine Station, die man auf der Himmelsstraße zurückgelegt; ja, ja! Das Schicksal des Menschen enthält alle Erkenntnis, und wenn man erst alles verstanden hat auf dieser irdischen Welt, dann wird man ja doch wohl den lieben Gott können begreifen lernen. Niemand lernt begreifen, denn durch Eingebung vom heiligen Geist; durch eigne Offenbarung lernt man fremde verstehen; – ich erkenne gleich in jedes Menschen Herz, was ihn sticht und was ihn brennt, und weiß auch, wann die Zeit kommt, die ihn heilt; ja, ich muß noch täglich weinen über meinen lieben Sohn, der erfroren ist, aber weil ich weiß, daß er die irdische Straße zurückgelegt hat, so hab' ich nichts dawider, ich lese auch täglich in diesem Buch, da stehen diese großen Wahrheiten alle geschrieben.« Sie gab uns einen alten Gesang zu lesen: »O Herr! Du führst mich dunkle Wege, am Ende aber seh' ich Licht«; in diesem stand zwar nichts von dem, was sie uns mitgeteilt hatte, als nur einzelne Hauptworte.

Im Nachhausegehen vertrieben uns die Gießener Studenten die Grillen, sie hatten sich am Abhang des Berges in großen Weinlauben gelagert, sie sangen, sie jauchzten, Gläser und Flaschen flogen hinab, sie tanzten, walzten und wälzten sich den Berg hinunter und durchschallten das Tal mit ihrem grausamen Gebrüll.

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