Bettine von Arnim
Goethes Briefwechsel mit einem Kinde
Bettine von Arnim

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An Bettine.

Fr. 7. Oktober 1808.

Die Beschreibung von Deinen Prachtstücken und Kostbarkeiten hat mir recht viel Pläsier gemacht; wenn's nur auch wahr ist, daß Du sie gesehen hast, denn in solchen Stücken kann man Dir nicht wenig genug trauen. Du hast mir ja schon manchmal hier auf Deinem Schemel die Unmöglichkeiten vorerzählt, denn wenn Du, mit Ehren zu melden, ins Erfinden gerätst, dann hält Dich kein Gebiß und kein Zaum! – Ei, mich wundert's, daß Du noch ein End' finden kannst und nicht in einem Stück fortschwätzst, bloß um selbst zu erfahren, was alles noch in Deinem Kopf steckt. Manchmal mein' ich aber doch, es müßt' wahr sein, weil Du alles so natürlich vorbringen kannst. Wo solltest Du auch alles herwissen? Es ist aber doch kurios, daß die Kurfürsten immer mit Fisch und Wassernymphen zu tun haben; auf der Krönung hab' ich in den Silberkammern auch solche Sachen gesehen, da war ein Springbrunnen von Silber mit schönen Figuren, da sprang Wein heraus, der wurde zur Pracht auf die Tafel gestellt. Und einmal hat der Kurfürst von der Pfalz ein Fischballett aufführen lassen, da tanzten die Karpfen, prächtig in Gold und Silberschuppen angetan, aufrecht einen Menuett. Nun, Du hast das alles allein gesehen, solche Sachen, die man im Kopf sieht, die sind auch da und gehören ins himmlische Reich, wo nichts einen Körper hat, sondern nur alles im Geist da ist.

Mach' doch, daß Du bald wieder herkommst, Du hast den ganzen Sommer verschwärmt, mir ist es gar nicht mehr drum zu tun mit dem Schreiben, und ich hab' Dich auch solange nicht gesehen, es verlangt mich recht nach Dir,

Deine wahre Herzenfreundin
Goethe.


An Goethes Mutter.

Frau Rat, den ganzen Tag bin ich nicht zu Haus', aber wenn ich an Sie schreib', dann weiß ich, daß ich eine Heimat habe; es ist die Zeit, daß die Leut' Feldgötter im Weinberg aufstellen, um die Sperlinge von den Trauben zu scheuchen; heut' morgen konnt' ich nicht begreifen, was für ein wunderbarer Besuch sich so früh im Weingarten aufhalte, der mir durch den dicken Nebel schimmerte; ich dachte erst, es wär' der Teufel, denn er hat einen scharlachroten Rock und schwarze Unterkleider und goldpapierne Mütze; und am Abend in der Dämmerung fürchtete ich mich dran vorbeizugehen und zwar so sehr, daß ich wieder umkehrte und nicht bis ans Wasser ging, wie ich jeden Abend tue; und wie ich wieder im Zimmer war, da dachte ich, wenn mich jemand Liebes dort hinbestellt hätte, so würd' ich wohl nichts von Furcht gespürt haben; ich ging also noch einmal und glücklich an dem Lumpengespenst vorbei, denn dort wartet ja wohl etwas Liebes auf mich; die stille weit verbreitete Ruhe über dem breiten Rhein, über den brütenden Weinbergen, wem vergleiche ich die wohl als dem stillen ruhigen Abend, in dem mein Andenken ihm einen freundlichen Besuch macht und er sich's gefallen läßt, daß das Schifflein mit meinen kindischen Gedanken bei ihm anlande? Was ich in so einsamer Abendstunde, wo die Dämmerung mit der Nacht tauscht, denke, das kann Sie sich am besten vorstellen, da wir es tausendmal miteinander besprochen haben, und haben so viel Ergötzen dabei gehabt. Wenn wir miteinander zu ihm gereist kämen, das denk' ich mir immer noch aus. – Damals hatte ich ihn noch nicht gesehen, wie Sie meiner heißen Sehnsucht die Zeit damit vertrieb, daß Sie mir seine freudige Überraschung malte, und unser Erscheinen unter tausenderlei Veränderungen; – jetzt kenne ich ihn und weiß, wie er lächelt und den Ton seiner Stimme, wie die so ruhig ist und doch voll Liebe, und seine Ausrufungen, wie die so aus dem tiefen Herzen anschwellen, wie der Ton im Gesang; und wie er so freundlich beschwichtigt und bejaht, was man im Herzensdrang unordentlich herausstürmt; – wie ich im vorigen Jahr so unverhofft wieder mit ihm zusammentraf, da war ich so außer mir, und wollte sprechen und konnte mich nicht zurechtfinden; da legt' er mir die Hand auf den Mund und sagt': »Sprech' mit den Augen, ich versteh' alles«; und wie er sah, daß die voll Tränen standen, so drückt' er mir die Augen zu und sagte: »Ruhe, Ruhe, die bekommt uns beiden am besten;« – ja, liebe Mutter, die Ruhe war gleich über mich hingegossen, ich hatte ja alles, wonach ich seit Jahren mich einzig gesehnt habe. – O Mutter, ich dank' es Ihr ewig, daß Sie mir den Freund in die Welt geboren, – wo sollt' ich ihn sonst finden! Lach' Sie nicht darüber, und denk' Sie doch, daß ich ihn geliebt hab', eh' ich das Geringste von ihm gewußt, und hätt' Sie ihn nicht geboren, wo er dann geblieben wär', das ist doch die Frage, die Sie nicht beantworten kann.

Über die Günderode ist mir am Rhein unmöglich zu schreiben, ich bin nicht so empfindlich, aber ich bin hier am Platz nicht weit genug von dem Gegenstand ab, um ihn ganz zu übersehen; – gestern war ich da unten, wo sie lag; die Weiden sind so gewachsen, daß sie den Ort ganz zudecken, und wie ich mir so dachte, wie sie voll Verzweiflung hier herlief und so rasch das gewaltige Messer sich in die Brust stieß, und wie das tagelang in ihr gekocht hatte, und ich, die so nah mit ihr stand, jetzt an demselben Ort, gehe hin und her an demselben Ufer, in süßem Überlegen meines Glückes, und alles und das Geringste, was mir begegnet, scheint mir mit zu dem Reichtum meiner Seligkeit zu gehören; da bin ich wohl nicht geeignet, jetzt alles zu ordnen und den einfachen Faden unseres Freundeslebens, von dem ich doch nur alles anspannen könnte, zu verfolgen. – Nein, es kränkt mich, und ich mache ihr Vorwürfe, wie ich ihr damals in Träumen machte, daß sie die schöne Erde verlassen hat; sie hätt' noch lernen müssen, daß die Natur Geist und Seele hat und mit dem Menschen verkehrt und sich seiner und seines Geschickes annimmt, und daß Lebensverheißungen in den Lüften uns umwehen; ja, sie hat's bös' mit mir gemacht, sie ist mir geflüchtet, grade wie ich mit ihr teilen wollte alle Genüsse. Sie war so zaghaft; eine junge Stiftsdame, die sich fürchtete, das Tischgebet laut herzusagen; sie sagte mir oft, daß sie sich fürchtete, weil die Reihe an ihr war; sie wollte vor den Stiftsdamen das Benedicite nicht laut hersagen; unser Zusammenleben war so schön, es war die erste Epoche, in der ich mich gewahr ward; – sie hatte mich zuerst aufgesucht in Offenbach, sie nahm mich bei der Hand und forderte, ich solle sie in der Stadt besuchen; nachher waren wir alle Tage beisammen, bei ihr lernte ich die ersten Bücher mit Verstand lesen, sie wollte mich Geschichte lehren, sie merkte aber bald, daß ich zu sehr mit der Gegenwart beschäftigt war, als daß mich die Vergangenheit hätte lange fesseln können; – wie gern ging ich zu ihr! Ich konnte sie keinen Tag mehr missen, ich lief alle Nachmittag' zu ihr; wenn ich an die Tür des Stifts kam, da sah ich durch das Schlüsselloch bis nach ihrer Tür, bis mir aufgetan ward; – ihre kleine Wohnung war ebner Erde nach dem Garten; vor dem Fenster stand eine Silberpappel, auf die kletterte ich während dem Vorlesen; bei jedem Kapitel erstieg ich einen höheren Ast und las von oben herunter; – sie stand am Fenster und hörte zu und sprach zu mir herauf, und dann und wann sagte sie: Bettine, fall' nicht; jetzt weiß ich erst, wie glücklich ich in der damaligen Zeit war, denn weil alles, auch das Geringste, sich als Erinnerung von Genuß in mich geprägt hat; – sie war so sanft und weich in allen Zügen wie eine Blondine. Sie hatte braunes Haar, aber blaue Augen, die waren gedeckt mit langen Augenwimpern; wenn sie lachte, so war es nicht laut, es war vielmehr ein sanftes gedämpftes Girren, in dem sich Lust und Heiterkeit sehr vernehmlich aussprach; – sie ging nicht, sie wandelte, wenn man verstehen will, was ich damit auszusprechen meine; – ihr Kleid war ein Gewand, was sie in schmeichelnden Falten umgab, das kam von ihren weichen Bewegungen her; ihr Wuchs war hoch, ihre Gestalt war zu fließend, als daß man es mit dem Wort schlank ausdrücken könnte; sie war schüchtern-freundlich und viel zu willenlos, als daß sie in der Gesellschaft sich bemerkbar gemacht hätte. Einmal saß sie bei dem Fürst Primas mit allen Stiftsdamen zu Mittag; sie war im schwarzen Ordenskleid mit langer Schleppe und weißem Kragen mit dem Ordenskreuz; da machte jemand die Bemerkung, sie sähe aus wie eine Scheingestalt unter den andern Damen, als ob sie ein Geist sei, der eben in der Luft zerfließen werde. – Sie las mir ihre Gedichte vor und freute sich meines Beifalls, als wenn ich ein großes Publikum wär'; ich war aber auch voll lebendiger Begierde, es anzuhören; nicht als ob ich mit dem Verstand das Gehörte gefaßt habe, – es war vielmehr ein mir unbekanntes Element, und die weichen Verse wirkten auf mich wie der Wohllaut einer fremden Sprache, die einem schmeichelt, ohne daß man sie übersetzen kann. – Wir lasen zusammen den »Werther« und sprachen viel über den Selbstmord; sie sagte:»Recht viel lernen, recht viel fassen mit dem Geist und dann früh sterben; ich mag's nicht erleben, daß mich die Jugend verläßt.« Wir lasen vom Jupiter Olymp des Phidias, daß die Griechen von dem sagten, der Sterbliche sei um das Herrlichste betrogen, der die Erde verlasse, ohne ihn gesehen zu haben. Die Günderode sagte, wir müssen ihn sehen, wir wollen nicht zu den Unseligen gehören, die so die Erde verlassen. Wir machten ein Reiseprojekt, wir erdachten unsre Wege und Abenteuer, wir schrieben alles auf, wir malten alles aus, unsre Einbildung war so geschäftig, daß wir's in der Wirklichkeit nicht besser hätten erleben können; oft lasen wir in dem erfundenen Reisejournal und freuten uns der allerliebsten Abenteuer, die wir drin erlebt hatten, und die Erfindung wurde gleichsam zur Erinnerung, deren Beziehungen sich noch in der Gegenwart fortsetzten. Von dem, was sich in der Wirklichkeit ereignete, machten wir uns keine Mitteilungen; das Reich, in dem wir zusammentrafen, senkte sich herab wie eine Wolke, die sich öffnete, um uns in ein verborgenes Paradies aufzunehmen; da war alles neu, überraschend, aber passend für Geist und Herz; und so vergingen die Tage. Sie wollte mir Philosophie lehren, was sie mir mitteilte, verlangte sie von mir aufgefaßt und dann auf meine Art schriftlich wiedergegeben; die Aufsätze, die ich ihr hierüber brachte, las sie mit Staunen; es war nie auch eine entfernte Ahnung von dem, was sie mir mitgeteilt hatte; ich behauptete im Gegenteil, so hätt' ich es verstanden; – sie nannte diese Aufsätze Offenbarungen, gehöht durch die süßesten Farben einer entzückten Imagination; sie sammelte sie sorgfältig, sie schrieb mir einmal: »Jetzt verstehst Du nicht, wie tief diese Eingänge in das Bergwerk des Geistes führen, aber einst wird es Dir sehr wichtig sein, denn der Mensch geht oft öde Straßen; je mehr er Anlage hat durchzudrängen, je schauerlicher ist die Einsamkeit seiner Wege, je endloser die Wüste. Wenn du aber gewahr wirst, wie tief Du Dich hier in den Brunnen des Denkens niedergelassen hast, und wie Du da unten ein neues Morgenrot findest und mit Lust wieder heraufkömmst und von Deiner tieferen Welt sprichst, dann wird Dich's trösten, denn die Welt wird nie mit Dir zusammenhängen, Du wirst keinen andern Ausweg haben, als zurück durch diesen Brunnen in den Zaubergarten Deiner Phantasie; es ist aber keine Phantasie, es ist eine Wahrheit, die sich nur in ihr spiegelt. Der Genius benutzt die Phantasie, um unter ihren Formen das Göttliche, was der Menschengeist in seiner idealen Erscheinung nicht fassen könnte, mitzuteilen oder einzuflößen; ja Du wirst keinen andern Weg des Genusses in Deinem Leben haben, als den sich die Kinder versprechen von Zauberhöhlen, von tiefen Brunnen; wenn man durch sie gekommen, so findet man blühende Gärten, Wunderfrüchte, kristallne Paläste, wo eine noch unbegriffne Musik erschallt und die Sonne mit ihren Strahlen Brücken baut, auf denen man festen Fußes in ihr Zentrum spazieren kann; – das alles wird sich Dir in diesen Blättern zu einem Schlüssel bilden, mit dem Du vielleicht tief versunkene Reiche wieder aufschließen kannst, drum verliere mir nichts und wehre auch nicht solchen Reiz, der Dich zum Schreiben treibt, sondern lerne mit Schmerzen denken, ohne welche nie der Genius in den Geist geboren wird; – wenn er erst in Dich eingefleischt ist, dann wirst Du Dich der Begeistrung freuen, wie der Tänzer sich der Musik freut.«

Mit solchen wunderbaren Lehren hat die Günderode die Unmündigkeit meines Geistes genährt. Ich war damals bei der Großmutter in Offenbach, um auf vier Wochen wegen meiner schwankenden Gesundheit die Landluft zu genießen; auf welche Weise berührten mich denn solche Briefe? – Verstand ich ihren Inhalt? – Hatte ich einen Begriff von dem, was ich geschrieben hatte? Nein; ich wußte mir so wenig den Text meiner schriftlichen Begeistrungen auszulegen, als sich der Komponist den Text seiner Erfindungen begreiflich machen kann; er wirft sich in ein Element, was höher ist als er; es trägt ihn, es nährt ihn, seine Nahrung wird Inspiration, sie reizt, sie beglückt, ohne daß man sie sinnlich auszulegen vermochte, obschon die Fähigkeiten durch sie gesteigert, der Geist gereinigt, die Seele gerührt wird. So war es auch zwischen mir und der Freundin: die Melodien entströmten meiner gereizten Phantasie, sie lauschte und fühlte unendlichen Genuß dabei und bewahrte, was, wenn es mir geblieben wär', nur störend auf mich gewirkt haben würde; – sie nannte mich oft die Sibylle, die ihre Weissagungen nicht bewahren dürfe; ihre Aufforderungen reizten mich, und doch hatte ich eine Art Furcht; mein Geist war kühn, und mein Herz war zaghaft; ja, ich hatte ein wahres Ringen in mir; – ich wollte schreiben, ich sah in ein unermeßliches Dunkel, ich mußte mich auch äußerlich vom Licht entfernen; am liebsten war mir, wenn ich die Fenster verhing und doch durchsah, daß draußen die Sonne schien; ein Blumenstrauß, dessen Farben sich durch die Dämmerung stahlen, der konnte mich fesseln und von der innern Angst befreien, so daß ich mich vergaß, während ich in die schattigflammenden Blumenkelche sah und Duft und Farbe und Formen gleichsam ein Ganzes bildeten; Wahrheiten hab' ich da erfahren, von denen ich ausging in meinen Träumereien, und die mir plötzlich den gebundenen Geist lösten, daß ich ruhig und gelassen das, was mir ahndete, fassen und aussprechen konnte; – indem ich den Blumenstrauß, der nur durch eine Spalte im Fensterladen erleuchtet war, betrachtete, erkannte ich die Schönheit der Farbe, das Übermächtige der Schönheit; die Farbe war selbst ein Geist, der mich anredete wie der Duft und die Form der Blumen; – das erste, was ich durch sie vernahm, war, daß alles in den Naturgebilden durch das Göttliche erzeugt sei, daß Schönheit der göttliche Geist sei im Mutterschoß der Natur erzeugt; daß die Schönheit größer sei wie der Mensch, daß aber die Erkenntnis allein die Schönheit des freien Menschengeistes sei, die höher ist als alle leibliche Schönheit. – O, ich brauchte mich hier nur in den Brunnen niederzulassen, so könnte ich vielleicht wieder sagen alles, was ich durch die Gespräche mit der Farbe und den Formen und dem Duft des Blumenstraußes erfuhr; ich könnte auch noch mehr sagen, was wunderlich und wunderbar genug klingt; ich müßte fürchten, es würde nicht geglaubt oder für Wahnsinn und Unsinn geachtet; – warum soll ich's aber hier verhehlen? Der's lesen wird, dem wird es einleuchten, er hat oft die wunderbaren Phänomene des Lichtes beobachtet, wie sie durch Farbe und zufällige oder besondere Formen neue Erscheinungen bildeten. – So war's in meiner Seele damals, so ist es auch jetzt. Das große und scharfe Auge des Geistes war vom innern Lichtstrahl gefangen genommen, es mußte ihn einsaugen, ohne sich durch selbstische Reflexion davon ablösen zu können; der Freund weiß ja, was dieses Gebanntsein im Blick auf einen Lichtstrahl – Farbengeist – für Zauberei hervorbringt, und er weiß auch, daß der Schein hier kein Schein ist, sondern Wahrheit. –

Trat ich aus dieser innern Anschauung hervor, so war ich geblendet; ich sah Träume, ich ging ihren Verhältnissen nach, das machte im gewöhnlichen Leben keinen Unterschied, in dies paßte ich ohne Anstoß, weil ich mich in ihm nicht bewegte; aber ohne Scheu sag' ich es meinem Herrn, der den Segen hier über sein Kind sprechen möge: ich hatte eine innre Welt und geheime Fähigkeiten, Sinne, mit denen ich in ihr lebte; mein Auge sah deutlich große Erscheinungen, so wie ich es zumachte; – ich sah die Himmelskugel, sie drehte sich vor mir in unermeßlicher Größe um, so daß ich ihre Gesetze nicht sah, aber doch eine Empfindung von ihrer Rundung hatte; das Sternenheer zog auf dunklem Grund an mir vorüber, die Sterne tanzten in reinen geistigen Figuren, die ich als Geist begriff; es stellten sich Monumente auf von Säulen und Gestalten, hinter denen die Sterne wegzogen; die Sterne tauchten unter in einem Meer von Farben; es blühten Blumen auf, sie wuchsen empor bis in die Höhe; ferne goldne Schatten deckten sie vor einem höheren weißen Licht, und so zog in dieser Innenwelt eine Erscheinung nach der anderen herauf; dabei fühlten meine Ohren ein feines silbernes Klingen, allmählich wurde es ein Schall, der größer war und gewaltiger, je länger ich ihm lauschte, ich freute mich, denn es stärkte mich, es stärkte meinen Geist, diesen großen Ton in meinem Gehör zu beherbergen; öffnete ich die Augen, so war alles nichts, so war alles ruhig, und ich empfand keine Störung, nur konnte ich die sogenannte wirkliche Welt, in der die andern Menschen sich auch zu befinden behaupten, nicht mehr von dieser Traum- oder Phantasiewelt unterscheiden; ich wußte nicht, welche Wachen oder Schlafen war, ja zuletzt glaubte ich immer mehr, daß ich das gewöhnliche Leben nur träume, und ich muß es noch heute unentschieden lassen, und werde nach Jahren noch daran zweifeln; dieses Schweben und Fliegen war mir gar zu gewiß; ich war innerlich stolz darauf und freute mich dieses Bewußtseins; ein einziger elastischer Druck mit der Spitze der Fußzehen – und ich war in Lüften; ich schwebte leise und anmutig zwei, drei Fuß über der Erde, aber ich berührte sie gleich wieder und flog wieder auf – und schwebte auf die Seite, von da wieder zurück; so tanzte ich im Garten im Mondschein hin und her, zu meinem unaussprechlichen Vergnügen; ich schwebte über die Treppen herab oder herauf, zuweilen hob ich mich zur Höhe der niedern Baumäste und schwirrte zwischen den Zweigen dahin; morgens erwachte ich in meinem Bett mit dem Bewußtsein, daß ich fliegen könne, am Tag aber vergaß ich's. – Ich schrieb an die Günderode, ich weiß nicht was, sie kam heraus nach Offenbach, sah mich zweifelhaft an, tat befremdende Fragen über mein Befinden, ich sah im Spiegel: schwärzer waren die Augen wie je, die Züge hatten sich unendlich verfeinert, die Nase so schmal und fein, der Mund geschwungen, eine äußerst weiße Farbe; ich freute mich und sah mit Genuß meine Gestalt, die Günderode sagte, ich sollte nicht so lang mehr allein bleiben, und nahm mich mit in die Stadt; da waren wenige Tage verflossen, so hatte ich das Fieber; ich legte mich zu Bett und schlief und weiß auch nichts, als daß ich nur schlief; endlich erwachte ich und es war am vierzehnten Tag, nachdem ich mich gelegt hatte; indem ich die Augen öffnet', sah ich ihre schwanke Gestalt im Zimmer auf- und abgehen und die Hände ringen; »aber Günderode«, sagt' ich, »warum weinst Du?« »Gott sei ewig gelobt«, sagt sie, und kam an mein Bett, »bist Du endlich wieder wach, bist Du endlich wieder ins Bewußtsein gekommen?« – Von der Zeit an wollte sie mich nichts Philosophisches lesen lassen, und auch keine Aufsätze sollte ich mehr machen; sie war fest überzeugt, meine Krankheit sei davon hergekommen; ich hatte großes Wohlgefallen an meiner Gestalt, die Blässe, die von meiner Krankheit zurückgeblieben war, gefiel mir unendlich; meine Züge erschienen mir sehr bedeutend, die großgewordenen Augen herrschten, und die anderen Gesichtsteile verhielten sich geistig leidend; ich fragte die Günderode, ob nicht darin schon die ersten Spuren einer Verklärung sich zeigten.

Hier hab' ich abgebrochen und hab' viele Tage nicht geschrieben; es stieg so ernst und schwer herauf, der Schmerz ließ sich nicht vom Denken bemeistern; ich bin noch jung, ich kann's nicht durchsetzen, das Ungeheure. Unterdessen hat man den Herbst eingetan, der Most wurde vom laubbekränzten Winzervolk unter Jubelgesang die Berge herabgefahren und getragen, und sie gingen mit der Schalmei voran und tanzten. O du – der du dieses liest, du hast keinen Mantel so weich, um die verwundete Seele drin einzuhüllen. Was bist du mir schuldig? – Dem ich Opfer bringe wie dies, daß ich dich die Hand in die Wunden legen lasse. – Wie kannst du mir vergelten? Du wirst mir nimmer vergelten; du wirst mich nicht locken und an dich ziehen, und weil ich kein Obdach in der Liebe habe, wirst du mich nicht herbergen, und der Sehnsucht wirst du keine Linderung gewähren; ich weiß es schon im voraus, ich werd' allein sein mit mir selber, wie ich heut' allein stand am Ufer bei den düstern Weiden, wo die Todesschauer noch wehen über den Platz, da kein Gras mehr wächst; dort hat sie den schönen Leib verwundet grad' an der Stelle, wo sie's gelernt hatte, daß man da das Herz am sichersten trifft; o Jesus Maria! –

Du! Mein Herr! – Du! – Flammender Genius über mir! Ich hab' geweint; nicht über sie, die ich verloren habe, die wie warme frühlingbrütende Lüfte mich umgab; die mich schützte, die mich begeisterte, die mir die Höhe meiner eignen Natur als Ziel vertraute; ich hab' geweint um mich, mit mir; hart muß ich werden wie Stahl, gegen mich, gegen das eigne Herz; ich darf es nicht beklagen, daß ich nicht geliebt werde, ich muß streng sein gegen dies leidenschaftliche Herz; es hat kein Recht zu fordern, nein, es hat kein Recht; – Du bist mild und lächelst mir, und Deine kühle Hand mildert die Glut meiner Wangen, das soll mir genügen.

Gestern waren wir im laubbekränzten Nachen den Rhein hinabgefahren, um die hundertfältige Feier des Weinfestes an beiden Bergufern mitanzusehen; auf unserem Schiff waren lustige Leute, sie schrieben weinbegeisterte Lieder und Sprüche, steckten sie in die geleerten Flaschen und ließen diese unter währendem Schießen den Rhein hinabschwimmen; auf allen Ruinen waren große Tannen aufgepflanzt, die bei einbrechender Dämmerung angezündet wurden; auf dem Mäuseturm, mitten im stolzen Rhein ragten zwei mächtige Tannen empor, ihre flammenden durchbrannten Äste fielen herab in die zischende Flut, von allen Seiten donnerten sie und warfen Raketen, und schöne Sträußer von Leuchtkugeln stiegen jungfräulich in die Lüfte und auf den Nachen sang man Lieder, und im Vorbeifahren warf man sich Kränze zu und Trauben; da wir nach Hause kamen, so war's spät, aber der Mond leuchtete hell; ich sah zum Fenster hinaus und hörte noch jenseits das Toben und Jauchzen der Heimkehrenden, und diesseits, nach der Seite, wo sie tot am Ufer gelegen hatte, war alles still, ich dacht', da ist keiner mehr, der nach ihr frägt, und ich ging hin, nicht ohne Grausen, nein, mir war bang, wie ich, von weitem die Nebel über den Weidenbüschen wogen sah, da wär' ich bald wieder umgekehrt, es war mir, als sei sie es selbst, die da schwebte und wogte und sich ausdehnte; ich ging hin, aber ich betete unterwegs, daß mich Gott doch schützen möge; – schützen? – Vor was? Vor einem Geist, dessen Herz voll liebendem Willen gewesen war gegen mich im Leben; und nun er des irdischen Leibs entledigt ist, soll ich ihn fürchtend fliehen? – Ach, sie hat vielleicht einen bessren Teil ihres geistigen Vermögens auf mich vererbt seit ihrem Tod. Vererben doch die Voreltern auf ihre Nachkommen, warum nicht die Freunde? Ich weiß nicht, wie weh mir ist! – Sie, die freundlich Klare, hat meinen Geist vielleicht beschenkt. Wie ich von ihrem Grab zurückkam, da fand ich Leute, die nach ihrer Kuh suchten, die sich verlaufen hatte, ich ging mit ihnen; sie ahndeten gleich, daß ich von dort her kam, sie wußten viel von der Günderode zu erzählen, die oft freundlich bei ihnen eingesprochen und ihnen Almosen gegeben hatte; sie sagten, sooft sie dort vorbeigehen, beten sie ein Vaterunser; ich hab' auch dort gebetet zu und um ihre Seele und hab' mich vom Mondlicht reinwaschen lassen und hab' es ihr laut gesagt, daß ich mich nach ihr sehne, nach jenen Stunden, in denen wir Gefühl und Gedanken harmlos gegeneinander austauschten.

Sie erzählte mir wenig von ihren sonstigen Angelegenheiten, ich wußte nicht, in welchen Verbindungen sie noch außer mir war; sie hatte mir zwar von Daub in Heidelberg gesprochen und auch von Creuzer, aber ich wußte von keinem, ob er ihr lieber sei als der andre; einmal hatte ich von andern davon gehört, ich glaubte es nicht, einmal kam sie mir freudig entgegen und sagte: »Gestern hab' ich einen Chirurg gesprochen, der hat mir gesagt, daß es sehr leicht ist, sich umzubringen,« sie öffnete hastig ihr Kleid und zeigte mir unter der schönen Brust den Fleck; ihre Augen funkelten freudig; ich starrte sie an, es ward mir zum erstenmal unheimlich, ich fragte: »Nun! – Und was soll ich denn tun, wenn Du tot bist? –« »O«, sagte sie, »dann ist Dir nichts mehr an mir gelegen, bis dahin sind wir nicht mehr so eng verbunden, ich werd' mich erst mit Dir entzweien.« – Ich wendete mich nach dem Fenster, um meine Tränen, mein vor Zorn klopfendes Herz zu verbergen, sie hatte sich nach dem andern Fenster gewendet und schwieg; – ich sah sie von der Seite an, ihr Auge war gen Himmel gewendet, aber der Strahl war gebrochen, als ob sich sein ganzes Feuer nach innen gewendet habe; – nachdem ich sie eine Weile beobachtet hatte, konnt' ich mich nicht mehr fassen, – ich brach in lautes Schreien aus, ich fiel ihr um den Hals und riß sie nieder auf den Sitz und setzte mich auf ihre Knie und weinte viel Tränen und küßte sie zum erstenmal an ihrem Mund und riß ihr das Kleid auf und küßte sie an die Stelle, wo sie gelernt hatte, das Herz treffen; und ich bat mit schmerzlichen Tränen, daß sie sich meiner erbarme, fiel ihr wieder um den Hals und küßte ihre Hände, die waren kalt und zitterten, ihre Lippen zuckten, sie war ganz kalt, starr und totenblaß und konnte die Stimme nicht erheben; sie sagte leise: »Bettine, brich mir das Herz nicht«; – ach, da wollte ich mich aufreißen und wollte ihr nicht wehtun; ich lächelte und weinte und schluchzte laut, ihr schien immer banger zu werden, sie legte sich aufs Sofa; da wollt' ich scherzen und wollte ihr beweisen, daß ich alles für Scherz nehme; da sprachen wir von ihrem Testament; sie vermachte einem jeden etwas; mir vermachte sie einen kleinen Apoll unter einer Glasglocke, dem sie einen Lorbeerkranz umgehängt hatte; ich schrieb alles auf; im Nachhausegehen machte ich mir Vorwürfe, daß ich so aufgeregt gewesen war; ich fühlte, daß es doch nur Scherz gewesen war oder auch Phantasie, die in ein Reich gehört, welches nicht in der Wirklichkeit seine Wahrheit behauptet; ich fühlte, daß ich Unrecht gehabt hatte und nicht sie, die ja oft auf diese Weise mit mir gesprochen hatte. Am andern Tag führte ich ihr einen jungen französischen Husarenoffizier zu mit hoher Bärenmütze; es war Wilhelm von Türkheim, der schönste aller Jünglinge, das wahre Kind voll Anmut und Scherz; er war unvermutet gekommen; ich sagte: »Da hab' ich Dir einen Liebhaber gebracht, der soll Dir das Leben wieder lieb machen.« Er vertrieb uns allen die Melancholie; wir scherzten und machten Verse, und da der schöne Wilhelm die schönsten gemacht zu haben behauptete, so wollte die Günderode, ich sollte ihm den Lorbeerkranz schenken; ich wollte mein Erbteil nicht ungeschmälert wissen, doch mußt' ich ihm endlich die Hälfte des Kranzes lassen; so hab' ich denn nur die eine Hälfte. Einmal kam ich zu ihr, da zeigte sie mir einen Dolch mit silbernem Griff, den sie auf der Messe gekauft hatte, sie freute sich über den schönen Stahl und über seine Schärfe; ich nahm das Messer in die Hand und probte es am Finger, da floß gleich Blut, sie erschrak, ich sagte: »O Günderode, du bist so zaghaft und kannst kein Blut sehen und gehest immer mit einer Idee um, die den höchsten Mut voraussetzt, ich hab' noch das Bewußtsein, daß ich eher vermögend wär', etwas zu wagen, obschon ich mich nie umbringen würde; aber mich und dich in einer Gefahr zu verteidigen, dazu hab' ich Mut; und wenn ich jetzt mit dem Messer auf dich eindringe siehst du, wie du dich fürchtest?« – Sie zog sich ängstlich zurück; der alte Zorn regte sich wieder in mir unter der Decke des glühendsten Mutwills; ich ging immer ernstlicher auf sie ein, sie lief in ihr Schlafzimmer hinter einen ledernen Sessel, um sich zu sichern; ich stach in den Sessel, ich riß ihn mit vielen Stichen in Stücke, das Roßhaar flog hier und dahin in der Stube, sie stand flehend hinter dem Sessel und bat, ihr nichts zu tun; ich sagte: »Eh' ich dulde, daß du dich umbringst, tu' ich's lieber selbst.« »Mein armer Stuhl!« rief sie. »Ja was, dein Stuhl, der soll den Dolch stumpf machen.« Ich gab ihm ohne Barmherzigkeit Stich auf Stich, das ganze Zimmer wurde eine Staubwolke, so warf ich den Dolch weit in die Stube, daß er prasselnd unter das Sofa fuhr; ich nahm sie bei der Hand und führte sie in den Garten in die Weinlaube, ich riß die jungen Weinreben ab und warf sie ihr vor die Füße; ich trat darauf und sagte: »So mißhandelst du unsre Freundschaft.« – Ich zeigte ihr die Vögel auf den Zweigen, und daß wir wie jene, spielend, aber treu gegeneinander bisher zusammengelebt hätten. Ich sagte: »Du kannst sicher auf mich bauen, es ist keine Stunde in der Nacht, die, wenn du mir deinen Willen kund tust, mich nur einen Augenblick besinnen machte; – komm vor mein Fenster und pfeif um Mitternacht, und ich geh' ohne Vorbereitung mit dir um die Welt. Und was ich für mich nicht wagte, das wag' ich für dich; – aber du? – Was berechtigt dich mich aufzugeben? – Wie kannst du solche Treue verraten, und versprich mir, daß du nicht mehr deine zaghafte Natur hinter so grausenhaft prahlerische Ideen verschanzen willst.« – Ich sah sie an, sie war beschämt und senkte den Kopf und sah auf die Seite und war blaß; wir waren beide still, lange Zeit. »Günderode«, sagte ich, »wenn es ernst ist, dann gib mir ein Zeichen«; – sie nickte. Sie reiste ins Rheingau; von dort aus schrieb sie mir ein paarmal, wenig Zeilen; – ich hab' sie verloren, sonst würde ich sie hier einschalten. Einmal schrieb sie: »Ist man allein am Rhein, so wird man ganz traurig, aber mit mehreren zusammen, da sind grade die schauerlichsten Plätze am lustaufreizendsten: mir aber ist doch lieb, den weiten gedehnten Purpurhimmel am Abend allein zu begrüßen, da dichte ich im Wandeln an einem Märchen, das will ich Dir vorlesen; ich bin jeden Abend begierig, wie es weiter geht, es wird manchmal recht schaurig, und dann taucht es wieder auf.« Da sie wieder zurückkam und ich das Märchen lesen wollte, sagte sie: »Es ist so traurig geworden, daß ich's nicht lesen kann; ich darf nichts mehr davon hören, ich kann es nicht mehr weiter schreiben: ich werde krank davon.« Sie legte sich zu Bett und blieb mehrere Tage liegen, der Dolch lag an ihrem Bett; ich achtete nicht darauf, die Nachtlampe stand dabei, ich kam herein: »Bettine, mir ist vor drei Wochen eine Schwester gestorben; sie war jünger als ich, du hast sie nie gesehen; sie starb an der schnellen Auszehrung.« – »Warum sagst du mir dies heute erst«, fragte ich. – »Nun, was könnte dich dies interessieren? Du hast sie nicht gekannt, ich muß so was allein tragen«, sagte sie mit trocknen Augen. Mir war dies doch etwas sonderbar, mir jungen Natur waren alle Geschwister so lieb, daß ich glaubte, ich würde verzweifeln müssen, wenn einer stürbe, und daß ich mein Leben für jeden gelassen hätte. Sie fuhr fort: »Nun denk'! Vor drei Nächten ist mir diese Schwester erschienen; ich lag im Bett und die Nachtlampe brannte auf jenem Tisch; sie kam herein in weißem Gewand, langsam, und blieb an dem Tisch stehen; sie wendete den Kopf nach mir, senkte ihn und sah mich an; erst war ich erschrocken, aber bald war ich ganz ruhig, ich setzte mich im Bett auf, um mich zu überzeugen, daß ich nicht schlafe. Ich sah sie auch an und es war, als ob sie etwas bejahend nickte; sie nahm dort den Dolch, hob ihn gen Himmel mit der rechten Hand, als ob sie mir ihn zeigen wolle, legte ihn wieder sanft und klanglos nieder; dann nahm sie die Nachtlampe, hob sie auch in die Höhe und zeigte sie mir, und als ob sie mir bezeichnen wolle, daß ich sie verstehe, nickte sie sanft, führte die Lampe zu ihren Lippen und hauchte sie aus; denk' nur«, sagte sie voll Schauder, »ausgeblasen; im Dunkel hatte mein Auge noch das Gefühl von ihrer Gestalt; da hat mich plötzlich eine Angst befallen, die ärger sein muß, als wenn man mit dem Tod ringt; ja, denn ich wär' lieber gestorben, als noch länger diese Angst zu tragen.«

Ich war gekommen, um Abschied zu nehmen, weil ich mit Savigny nach Marburg reisen wollte, aber nun wollte ich bei ihr bleiben. »Reise nur fort«, sagte sie, »denn ich reise auch übermorgen wieder ins Rheingau.« – So ging ich denn weg. – »Bettine«, rief sie mir in der Tür zu, »behalt diese Geschichte, sie ist doch merkwürdig!« Das waren ihre letzten Worte. In Marburg schrieb ich ihr oft ins Rheingau von meinem wunderlichen Leben; ich wohnte einen ganzen Winter am Berg dicht unter dem alten Schloß, der Garten war mit der Festungsmauer umgeben, aus den Fenstern hatt' ich eine schöne Aussicht über die Stadt und das reich bebaute Hessenland; überall ragten die gotischen Türme aus den Schneedecken hervor; aus meinem Schlafzimmer ging ich in den Berggarten, ich kletterte über die Festungsmauer und stieg durch die verödeten Gärten; wo sich die Pförtchen nicht aufzwingen ließen, da brach ich durch die Hecken, – da saß ich auf der Steintreppe, die Sonne schmolz den Schnee zu meinen Füßen, ich suchte die Moose und trug sie mitsamt der angefrornen Erde nach Haus; – so hatt' ich an dreißig bis vierzig Moosarten gesammelt, die alle in meiner kalten Schlafkammer in irdnen Schüsselchen auf Eis gelegt mein Bett umblühten; ich schrieb ihr davon, ohne zu sagen, was es sei; ich schrieb in Versen: mein Bett steht mitten im kalten Land, umgeben von vielen Hainen, die blühen in allen Farben, und da sind silberne Haine uralter Stämme, wie der Hain, auf der Insel Cypros; die Bäume stehen dicht gereiht und verflechten ihre gewaltigen Äste; der Rasen, aus dem sie hervorwachsen, ist rosenrot und blaßgrün; ich trug den ganzen Hain heut' auf meiner erstarrten Hand in mein kaltes Eisbeetland – da antwortet sie wieder in Versen: »Das sind Moose ewiger Zeiten, die den Teppich unterbreiten, ob die Herren zur Jagd drauf reiten, ob die Lämmer drüber weiden, ob der Winterschnee sie decket oder Frühling Blumen wecket; in dem Haine schallt es wieder, summen Mückchen ihre Lieder; an der Silberbäume Wipfel hängen Tröpfchen Tau am Gipfel; in dem klaren Tröpfchen Taue spiegelt sich die ganze Aue; du mußt andre Rätsel machen, will dein Witz des meinen lachen!«

Nun waren wir ins Rätsel geben und lösen geraten; alle Augenblick' hatt' ich ein kleines Abenteuer auf meinen Spazierwegen, was ich ihr verbrämt zu erraten gab; meistens löste sie es auf eine kindlich-lustige Weise auf. Einmal hatte ich ihr ein Häschen, was mir auf wildem einsamen Waldweg begegnet war, als einen zierlichen Ritter beschrieben, ich nannte es la petite perfection, und daß es mir mein Herz eingenommen habe; sie antwortete gleich: »Auf einem schönen grünen Rasen, da ließ ein Held zur Mahlzeit blasen, da flüchteten sich alle Hasen; so hoff' ich, wird ein Held einst kommen, Dein Herz, von Hasen eingenommen, von diesen Wichten zu befreien und seine Gluten zu erneuen;« – dies waren Anspielungen auf kleine Liebesabenteuer. – So verging ein Teil des Winters; ich war in einer sehr glücklichen Geistesverfassung, andre würden sie Überspannung nennen, aber mir war sie eigen. An der Festungsmauer, die den großen Garten umgab, war eine Turmwarte, eine zerbrochne Leiter stand drin; – dicht bei uns war eingebrochen worden, man konnte den Spitzbuben nicht auf die Spur kommen, man glaubte, sie versteckten sich auf jenem Turm; ich hatte ihn bei Tag in Augenschein genommen und erkannt, daß es für einen starken Mann unmöglich war, an dieser morschen, beinah' stufenlosen himmelhohen Leiter hinaufzuklimmen; ich versuchte es, gleitete aber wieder herunter, nachdem ich eine Strecke hinaufgekommen war; in der Nacht, nachdem ich schon eine Weile im Bett gelegen hatte und Meline schlief, ließ es mir keine Ruhe; ich warf ein Überkleid um, stieg zum Fenster hinaus und ging an dem alten Marburger Schloß vorbei, da guckte der Kurfürst Philipp mit der Elisabeth lachend zum Fenster heraus; ich hatte diese Steingruppe, die beide Arm in Arm sich weit aus dem Fenster lehnen, als wollten sie ihre Lande übersehen, schon oft bei Tage betrachtet, aber jetzt bei Nacht fürchtete ich mich so davor, daß ich in hohen Sprüngen davoneilte in den Turm; dort ergriff ich eine Leiterstange und half mir, Gott weiß wie, daran hinauf; was mir bei Tage nicht möglich war, gelang mir bei Nacht in der schwebenden Angst meines Herzens; wie ich beinah' oben war, machte ich Halt; ich überlegte, wie die Spitzbuben wirklich oben sein könnten und da mich überfallen und von der Warte hinunterstürzen; da hing ich und wußte nicht hinunter oder herauf, aber die frische Luft, die ich witterte, lockte mich nach oben – wie war mir da, wie ich plötzlich durch Schnee und Mondlicht die weitverbreitete Natur überschaute, allein und gesichert, das große Heer der Sterne über mir! – So ist es nach dem Tod, die freiheitstrebende Seele, der der Leib am angstvollsten lastet, im Augenblick, da sie ihn abwerfen will; sie siegt endlich und ist der Angst erledigt; – da hatte ich bloß das Gefühl, allein zu sein, da war kein Gegenstand, der mir näher war als meine Einsamkeit, und alles mußte vor dieser Beseligung zusammensinken; – ich schrieb der Günderode, daß wieder einmal mein ganzes Glück von der Laune dieser Grille abhänge; ich schrieb ihr jeden Tag, was ich auf der freien Warte mache und denke, ich setzte mich auf die Brustmauer und hing die Beine hinab. – Sie wollte immer mehr von diesen Turmbegeistrungen, sie sagte: »Es ist mein Labsal, du sprichst wie ein auferstandner Prophet!« – Wie ich ihr aber schrieb, daß ich auf der Mauer, die kaum zwei Fuß breit war, im Kreis herumlaufe und lustig nach den Sternen sehe, und daß mir zwar am Anfang geschwindelt habe, daß ich jetzt aber ganz keck und wie am Boden mich da oben befinde – da schrieb sie: »Um Gottes willen falle nicht, ich hab's noch nicht herauskriegen können, ob du das Spiel böser oder guter Dämonen bist.« »Falle nicht«, schrieb sie mir wieder, »obschon es mir wohltätig war, deine Stimme von oben herab über den Tod zu vernehmen, so fürchtete ich nichts mehr, als daß du elend und unwillkürlich zerschmettert ins Grab stürzest«; – ihre Vermahnungen aber erregten mir keine Furcht und keinen Schwindel, im Gegenteil war ich tollkühn; ich wußte Bescheid, ich hatte die triumphierende Überzeugung, daß ich von Geistern geschützt sei. Das Seltsame war, daß ich's oft vergaß, daß es mich oft mitten aus dem Schlaf weckte und ich noch in unbestimmter Nachtzeit hineilte, daß ich auf dem Hinweg immer Angst hatte und auf der Leiter jeden Abend wie den ersten, daß ich oben allemal die Beseligung einer von schwerem Druck befreiten Brust empfand; oben, wenn Schnee lag, schrieb ich der Günderode ihren Namen hinein und: Jesus nazarenus rex judaeorum als schützenden Talisman darüber, da war mir, als sei sie gesichert gegen böse Eingebungen.

Jetzt kam Creuzer nach Marburg, um Savigny zu besuchen. Häßlich wie er war, war es zugleich unbegreiflich, daß er ein Weib interessieren könne; ich hörte, daß er von der Günderode sprach, in Ausdrücken, als ob er ein Recht an ihre Liebe habe; ich hatte in meinem von allem äußeren Einfluß abgeschiednen Verhältnis zu ihr früher nichts davon geahndet und war im Augenblick aufs heftigste eifersüchtig; er nahm in meiner Gegenwart ein kleines Kind auf den Schoß und sagte: »Wie heißt du?« »Sophie«. »Nun, du sollst, solange ich hier bin, Karoline heißen; Karoline gib mir einen Kuß.« Da ward ich zornig, ich riß ihm das Kind vom Schoß und trug es hinaus, fort durch den Garten auf den Turm; da oben stellte ich es in den Schnee neben ihren Namen und legte mich mit dem glühenden Gesicht hinein und weinte laut und das Kind weinte mit, und da ich herunter kam, begegnete mir Creuzer; ich sagte: »Weg aus meinem Weg, fort.« Der Philolog konnte sich einbilden, daß Ganymed ihm die Schale des Jupiters reichen werde. – Es war in der Neujahrsnacht, ich saß auf meiner Warte und schaute in die Tiefe; alles war so still – kein Laut bis in die weiteste Ferne, und ich war betrübt um die Günderode, die mir keine Antwort gab; die Stadt lag unter mir, auf einmal schlug es Mitternacht, – da stürmte es herauf, die Trommeln rührten sich, die Posthörner schmetterten, sie lösten ihre Flinten, sie jauchzten, die Studentenlieder tönten von allen Seiten, es stieg der Jubellärm, daß er mich beinah' wie ein Meer umbrauste; – das vergesse ich nie, aber sagen kann ich auch nicht, wie mir so wunderlich war da oben auf schwindelnder Höhe und wie es allmählich wieder still ward und ich mich ganz allein empfand. Ich ging zurück und schrieb an die Günderode; vielleicht finde ich den Brief noch unter meinen Papieren, dann will ich ihn beilegen; ich weiß, daß ich ihr die heißesten Bitten tat, mir zu antworten; ich schrieb ihr von diesen Studentenliedern, wie die gen Himmel geschallt hätten und mir das tiefste Herz aufgeregt; ja, ich legte meinen Kopf auf ihre Füße und bat um Antwort und wartete mit heißer Sehnsucht acht Tage, aber nie erhielt ich eine Antwort; ich war blind, ich war taub, ich ahndete nichts. Noch zwei Monate gingen vorüber – da war ich wieder in Frankfurt – ich lief ins Stift, machte die Tür auf: siehe da stand sie und sah mich an; kalt, wie es schien; »Günderod'«, rief ich, »darf ich hereinkommen?« – Sie schwieg und wendete sich ab; »Günderod', sag' nur ein Wort und ich lieg' an deinem Herzen.« »Nein«, sagte sie, »komme nicht näher, kehre wieder um, wir müssen uns doch trennen.« – »Was heißt das?« – »So viel, daß wir uns ineinander geirrt haben, und daß wir nicht zusammengehören.« – Ach, ich wendete um! Ach, erste Verzweiflung, erster grausamer Schlag, so empfindlich für ein junges Herz! Ich, die nichts kannte wie die Unterwerfung, die Hingebung in dieser Liebe, mußte so zurückgewiesen werden. Ich lief nach Haus zur Meline, ich bat sie mitzugehen zur Günderode, zu sehen, was ihr fehle, sie zu bewegen, mir einen Augenblick ihr Angesicht zu gönnen; ich dachte, wenn ich sie nur einmal ins Auge fassen könne, dann wolle ich sie zwingen; ich lief über die Straße, vor der Zimmertür blieb ich stehen, ich ließ die Meline allein zu ihr eintreten, ich wartete, ich zitterte und rang die Hände in dem kleinen engen Gang, der mich so oft zu ihr geführt hatte; die Meline kam heraus mit verweinten Augen, sie zog mich schweigend mit sich fort; – einen Augenblick hatte mich der Schmerz übermannt, aber gleich stand ich wieder auf den Füßen; nun! dacht' ich, wenn das Schicksal mir nicht schmeicheln will, so wollen wir Ball mit ihm spielen; ich war heiter, ich war lustig, ich war überreizt, aber in Nächten weinte ich im Schlaf. – Am zweiten Tag ging ich des Wegs, wo ihre Wohnung war, da sah ich die Wohnung von Goethes Mutter, die ich nicht näher kannte und nie besucht hatte; ich trat ein. »Frau Rat«, sagte ich, »ich will Ihre Bekanntschaft machen, mir ist eine Freundin in der Stiftsdame Günderode verloren gegangen, und die sollen Sie mir ersetzen.« – »Wir wollen's versuchen,« sagte sie, und so kam ich alle Tage und setzte mich auf den Schemel und ließ mir von ihrem Sohn erzählen und schrieb's alles auf und schickte es der Günderode; – wie sie in's Rheingau ging, sendete sie mir die Papiere zurück; die Magd, die sie mir brachte, sagte, es habe der Stiftsdame heftig das Herz geklopft, da sie ihr die Papiere gegeben, und auf ihre Frage, was sie bestellen solle, habe sie geantwortet: »Nichts.«

Es vergingen vierzehn Tage, da kam Fritz Schlosser; er bat mich um ein paar Zeilen an die Günderode, weil er ins Rheingau reisen werde und wolle gern ihre Bekanntschaft machen. Ich sagte, daß ich mit ihr brouilliert sei, ich bäte ihn aber, von mir zu sprechen und achtzugeben, was es für einen Eindruck auf sie mache. – »Wann gehen Sie hin«, sagte ich, »morgen?« »Nein, in acht Tagen.« »O, gehen Sie morgen, sonst treffen Sie sie nicht mehr; – am Rhein ist's so melancholisch«, sagte ich scherzend, »da könnte sie sich ein Leid's antun«; – Schlosser sah mich ängstlich an. »Ja, ja«, sagte ich mutwillig, »sie stürzt sich ins Wasser oder ersticht sich aus bloßer Laune.« – »Freveln Sie nicht«, sagte Schlosser, und nun frevelte ich erst recht: »Geben Sie acht, Schlosser, Sie finden Sie nicht mehr, wenn Sie nach alter Gewohnheit zögern, und ich sage Ihnen, gehen Sie heute lieber wie morgen und retten Sie sie von unzeitiger melancholischer Laune«; – und im Scherz beschrieb ich sie, wie sie sich umbringen werde, im roten Kleid, mit aufgelöstem Schnürband, dicht unter der Brust die Wunde; das nannte man tollen Übermut von mir, es war aber bewußtloser Überreiz, indem ich die Wahrheit vollkommen genau beschrieb. – Am andern Tag kam Franz und sagte: »Mädchen, wir wollen ins Rheingau gehen, da kannst du die Günderode besuchen.« – »Wann?« fragte ich. – »Morgen«, sagte er; – ach, ich packte mit Übereile ein, ich konnte kaum erwarten, daß wir gingen; alles, was ich begegnete, schob ich hastig aus dem Weg, aber es vergingen mehrere Tage, und es ward die Reise immer verschoben; endlich, da war meine Lust zur Reise in tiefe Trauer verwandelt, und ich wär' lieber zurückgeblieben. – Da wir in Geisenheim ankamen, wo wir übernachteten, lag ich im Fenster und sah ins mondbespiegelte Wasser; meine Schwägerin Toni saß am Fenster; die Magd, die den Tisch deckte, sagte: »Gestern hat sich auch eine junge schöne Dame, die schon sechs Wochen hier sich aufhielt, bei Winckel umgebracht; sie ging am Rhein spazieren ganz lang, dann lief sie nach Hause, holte ein Handtuch; am Abend suchte man sie vergebens; am andern Morgen fand man sie am Ufer unter Weidenbüschen, sie hatte das Handtuch voll Steine gesammelt und sich um den Hals gebunden, wahrscheinlich, weil sie sich in den Rhein versenken wollte, aber da sie sich ins Herz stach, fiel sie rückwärts, und so fand sie ein Bauer am Rhein liegen unter den Weiden an einem Ort, wo es am tiefsten ist. Er riß ihr den Dolch aus dem Herzen und schleuderte ihn voll Abscheu weit in den Rhein, die Schiffer sahen ihn fliegen – da kamen sie herbei und trugen sie in die Stadt.« – Ich hatte im Anfang nicht zugehört, aber zuletzt hört' ich's mit an und rief: »Das ist die Günderode!« Man redete mir's aus und sagte, es sei wohl eine andre, da so viel Frankfurter im Rheingau wären. Ich ließ mir's gefallen und dachte: grade, was man prophezeie, sei gewöhnlich nicht wahr. – In der Nacht träumte mir, sie käme mir auf einem mit Kränzen geschmückten Nachen entgegen, um sich mit mir zu versöhnen; ich sprang aus dem Bett in des Bruders Zimmer und rief: »Es ist alles nicht wahr, eben hat mir's lebhaft geträumt!« »Ach«, sagte der Bruder, »baue nicht auf Träume!« Ich träumte noch einmal, ich sei eilig in einem Kahn über den Rhein gefahren, um sie zu suchen; da war das Wasser trüb und schilfig, die Luft war dunkel, und es war sehr kalt; – ich landete an einem sumpfigen Ufer, da war ein Haus mit feuchten Mauern, aus dem schwebte sie hervor und sah mich ängstlich an und deutete mir, daß sie nicht sprechen könne; – ich lief wieder zum Schlafzimmer der Geschwister und rief: »Nein, es ist gewiß wahr; denn mir hat geträumt, daß ich sie gesehen habe, und ich hab' gefragt: ›Günderode, warum hast Du mir dies getan?‹ Da hat sie geschwiegen, hat den Kopf gesenkt und hat sich, traurig, nicht verantworten können.« Nun überlegte ich im Bett alles und besann mich, daß sie mir früher gesagt hatte, sie wolle sich erst mit mir entzweien, eh' sie diesen Entschluß ausführen werde; nun war mir unsre Trennung erklärt; auch daß sie mir ein Zeichen geben werde, wenn ihr Entschluß reif sei; – das war also die Geschichte von ihrer toten Schwester, die sie mir ein halb Jahr früher mitteilte; da war der Entschluß schon gefaßt. – O, ihr großen Seelen, dieses Lamm in seiner Unschuld, dieses junge, zaghafte Herz, welche ungeheure Gewalt hat es bewogen, so zu handeln? Am andern Morgen fuhren wir bei früher Zeit auf dem Rhein weiter; – Franz hatte befohlen, daß das Schiff jenseits sich halten solle, um zu vermeiden, daß wir dem Platz zu nahe kämen, aber dort stand der Fritz Schlosser am Ufer, und der Bauer, der sie gefunden, zeigte ihm, wo der Kopf gelegen hatte und die Füße und daß das Gras noch niederliege, – und der Schiffer lenkte unwillkürlich dorthin, und Franz, bewußtlos, sprach im Schiff alles dem Bauer nach, was er in der Ferne verstehen konnte, und da mußt' ich denn mit anhören die schauderhaften Bruchstücke der Erzählung vom roten Kleid, das aufgeschnürt war und der Dolch, den ich so gut kannte, und das Tuch mit Steinen um ihren Hals und die breite Wunde; – aber ich weinte nicht, ich schwieg. – Da kam der Bruder zu mir und sagte: »Sei stark, Mädchen.« – Wir landeten in Rüdesheim; überall erzählte man sich die Geschichte; ich lief in Windeseile an allen vorüber, den Ostein hinauf, eine halbe Stunde bergan, ohne auszuruhen; oben war mir der Atem vergangen, mein Kopf brannte, ich war den andern weit vorausgeeilt. – Da lag der herrliche Rhein mit seinem smaragdnen Schmuck der Inseln; da sah ich die Ströme von allen Seiten dem Rhein zufließen und die reichen friedlichen Städte an beiden Ufern und die gesegneten Gelände an beiden Seiten; da fragte ich mich, ob mich die Zeit über diesen Verlust beschwichtigen werde, und da war auch der Entschluß gefaßt, kühn mich über den Jammer hinauszuschwingen; denn es schien mir unwürdig, Jammer zu äußern, den ich einstens beherrschen könne.


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