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England

An die Nachtigall

John Milton

O Nachtigall, wenn überm Wald verglommen
Das Abendrot, dann hält, was du gesungen
Des Jünglings Herz in Frühlingsdämmerungen
Wie Ahnung künftiger Liebe eingenommen.

Doch über den soll all ihr Segen kommen,
Dem dein melodisch Abendlied erklungen,
Eh ihm ans Ohr ein Kuckucksruf gedrungen;
Ich leider hab dich stets zu spät vernommen.

Und ward dir wirklich solche Nacht gespendet,
Komm, eh der Kuckuck mich verdammt, zu leiden!
Komm, sing mir jetzt, denn meine Jugend endet!

Und wagst du's nur, so unhold mich zu meiden?
Ob Eros dich, ob dich die Muse sendet:
Steh ich nicht auf vertrautem Fuß mit beiden?

(Deutsch von Heinrich Leuthold)

Der Hase und die vielen Freunde

Johann Gay

Freundschaft und Liebe sind ein bloßer Name, wo nicht ihre Flamme auf einen Gegenstand eingeschränkt wird. Das Kind, an welchem viele Väter seinen Anteil haben, wird selten die Sorgfalt eines Vaters erfahren haben. Gleich also verhält sichs mit Freundschaften. Wer sich an viele hänget, findet selten einen Freund. Ein Hase, der auf eine freundliche Art, wie Gay, sich allen gefällig machte, war unter dem ganzen Gefolge von Thieren, welches entweder den Wald besuchet, oder auf dem Felde graset, bekannt. Seine Sorge war niemand zu beleidigen; und jedes Geschöpf war sein Freund.

Als er einst bey früher Morgendämmerung hervorkam, die thaubesprengte Ebene zu bekosten, höret er hinter sich das Geschrey des Jägers, und den Donner des langen Schießrohrs. Plötzlich fährt er auf und davon, steht still, und keichet nach Athem; er hört die Annäherung des Todes; er verdoppelt und mißt, noch einmal den Hund zu mißleiten, seinen labyrinthischen Kreis: bis er auf der öffentlichen Landstraße, ohnmächtig und furchtvoll, nach Athem schnappend, lag.

Welche Entzückung entstand in seinem Busen, als er zuerst das Pferd ins Gesicht bekam!

Laß mich, sprach er, deinen Rücken besteigen, und meine Sicherheit einem Freunde zu danken haben; du weißt es, meine Füße verrathen meine Flucht. Der Freundschaft ist jede Bürde leicht.

Das Pferd versetzte: Armer ehrlicher Hase, es kränket mich in der Seele, dich in diesem Zustande zu sehen; tröste dich, die Hülfe ist nahe: denn alle deine Freunde sind im Nachzuge.

Er flehte hierauf zu dem ansehnlichen Stier; und der mächtige Herr antwortete also: Da jedes lebende Thier davon zu sagen weiß, daß ich dir aufrichtig Gutes wünsche; so kann ich, ohne dich zu beleidigen, die Freiheit eines Freundes mir herauszunehmen verlangen: die Liebe rufet mich von hinnen, meine Lieblingskuh erwartet mich bey jenem Gerstenhaufen; und wenn es auf eine Dame ankömmt, so weißt du, daß alles andere hintangesetzet werden müsse. Dich also zu verlassen, mögte unfreundlich erscheinen; doch siehe die Ziege ist gerade hinter mir.

Die Ziege merkte an, daß sein Puls sehr stark schlüge, daß ihm der Kopf schlackerte, und seine Augen schläfrig wären. Mein Rücken mögte dir Schaden thun, das Schaf ist nicht fern, und Wolle ist warm.

Das Schaf war schwach, und klagte, daß seine Seiten eine Last von Wolle tragen müßten; es sagte, daß es nur langsam sey, und bekannte seine Furcht: denn Hunde, sprach es, fressen sowol Schafe als Hasen.

Er wandte sich nun an das trabende Kalb, einen aufs äußerste gebrachten Freund vom Tode zu retten.

Dieses sprach: Kann ich, bey meinem zarten Alter, mich zu diesem wichtigen Dienste verstehen? Aeltere und Geschicktere gingen dich vorbey; wie stark waren jene! Wie schwach bin ich! Sollte ich es auf mich nehmen, dich von hinnen zu tragen, mögten jene, meine Freunde es übel empfinden. Entschuldige mich demnach. Du kennest mein Herz. Doch, auch die besten Freunde müssen sich trennen! Wie werden wir alle um dich klagen! Lebe wohl: denn so eben erblicke ich die Hunde.

 

Johann Gay, Der Philosoph und die Phasanen

Der Weise, zu früher Tageszeit erwachend, nahm seinen Weg durch den dicken Wald, und schweifte, durch die Musik der Wälder gereizet, längst den dunkelen Krümmen umher. Die zwitschernden Kehlen verlängerten von Baum zu Baum die süß abwechselnden Noten; allein wo er vorbey ging, zog das Schrecken mit ihm, der Gesang ward abgebrochen, und die Zwitscherer entflohen. Die Drosseln schwatzeten erschrocken, und Nachtigallen entsetzten sich vor seinem Anblick. Alle Thiere liefen von ihm, den verhaßten Anblick zu vermeiden.

Woher der Schrecken eines jeden Geschöpfes? Fliehen sie unsere Gestalt, oder unsere Natur?

Als er nun so in nachsinnenden Gedanken umherwandelte, haschte sein Ohr unvernehmliche Accente. Mit behutsamen Tritten schritt er näher heran, da der dicke Schatten ihn dem Gesichte verbarg. Ein Phasan saß hoch auf einem Zweige, mit seiner ganzen zuhorchenden Brut um sich her, stolz auf den Segen seines Nestes, die Sorgen einer Mutter also ausdrückend:

Keine Gefahren sollen hier in Büschen den Genuß des Vergnügens beschleichen. Eher möget ihr dem Habichte und Geyer trauen, als dem Menschen, dem ärgsten Thiere. In ihm findet ihr Undankbarkeit, ein seiner Art besonders eigenes Laster. Das Schaf, dessen jährliches Vlies er färbet, seine Gesundheit zu beschirmen, und seinem Stolze zu dienen, wird, den Hürden und den Feldern seiner Heimath entzogen, vor der grausamen Fleischbank geschlachtet. Die Schwärme, welche mit aemsiger Geflissenheit seine Bienenstöcke mit Wachs und Honig füllen, beschäftigen sich vergebens ganze Sommertage hindurch; ihr Vorrath wird verkauft, und ihr Geschlecht ausgerottet. Was für einen Zoll entrichtet nicht die Gans! Sind nicht ihre Schwingen jeder Wissenschaft behülflich? Erklären sie nicht die Herzen der Liebenden, und arbeiten sie nicht sklavisch, den Gewinnst des Kaufmanns zu erhöhen? Aber, was verschlägt nun dieser allgemeine Gebrauch? Er nimmt die Federkiele, und frißt die Gänse. Vermeidet demnach den Menschen; verabscheuet seine Wege; so wird Sicherheit euere Tage verlängern. Werden Dienste also bezahlet; so glaubet sicherlich, daß man uns Phasanen spießen würde.

 

Johann Gay, Das Frauenzimmer und die Wespe

Als Doris an ihrem pflichtmäßigen Nachttische saß, ihre Schönheit überdenkend, war sie bald tiefsinnig, bald lustig, und verbrachte, sich anlehnend, die schwülen Stunden.

Da sie nun so in Fühllosigkeit lag, flog eine zornige Wespe um sie her. Bald näherte, bald entfernte sie sich, bald strebte sie nach ihrem Nacken, bald nach ihrer Wange. Vergebens vertheidigte ihr Fächer ihre Reize. Schnell kam sie wieder und beunruhigte sie von neuem. Und durchs Verjagen kühner geworden, setzte sie sich auf ihre Lippe, und schlürfte den Thau.

Die Schöne runzelte die Stirne und ward böse. Gütige Götter, rief sie aus, beschützet mich vor diesen quälenden Fliegen! Von allen Plagen, die der Himmel herabgesandt hat, ist eine Wespe die allerverdrüßlichste.

Das flatternde Insekt beklagte sich also: Werde ich denn für nichts gehalten, verschmäht und verachtet? Kann eine Beleidigung dieser Art euren Zorn erwecken? Schönheit war es, die das kühne Vergehen verursachte. Jene kirschfarbigen Lippen, welche Balsam duften, jene von jugendlicher Blüte so reifen Wangen flößten mir eine starke Begierde ein, der schönsten Pfirsiche, die je gewachsen ist, nachzustreben.

Schlage sie nicht, Hanngen, schrie Doris, und ermorde nicht diese Wespe gleich einer gemeinen Fliege; denn obgleich sie etwas frei ist, so ist sie doch, ihr Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen, ein höfliches und manierliches Geschöpf. Nun eilet sie voll Entzücken davon, und rühmet, wo sie nur hinkömmt, die ihr wiederfahrene Gunst. Sie prahlet, ihren süßesten Tee beschlurfet zu haben, und zeiget noch den Zucker auf ihren Lippen.

Diese Nachricht empöret den frechen Haufen, und nun fliegen sie alle, sicher ihr Glück zu machen, hinweg. Sie nehmen Antheil an den Leckerbissen des Tages, spielen rund um sie her, in lustiger Musik, und bald flattern sie, bald ruhen sie wieder, bald steigen sie empor, und berühren leicht ihre Brust. Sie wurden auch nicht verbannet, bis sie fand, daß Wespen Stacheln hätten, und sie die Wunde fühlte.

Die Biene

Thomas Moore

Bald, wenn die Biene hier
Summt um die Rose,
Dann, grad wie die Lose,
Komm ich zu dir!
Sie Blumen, ihr Lippen, süß, duftend und glüh –
Welch Finden, welch Finden für mich und für sie!

Dann jedes Beetes Zier
Naht sie mit neuer
Begierde – doch treuer
Bleib ich bei dir;
Sie sammelt bei Tausenden Süßigkeit sich,
Doch Tausender Süße in einer find ich.

(Deutsch von Freiligrath)

Grille und Heimchen

John Keats

Tot ist die Poesie der Erde nie.
Wenn in der Glut des Mittags sich die matten
Vöglein zu flüchten suchen in den Schatten,
tönt auf dem Rasen leise Melodie.
Das ist die Grille – in des Sommers Sonne
schwelgt sie und unersättlich im Genuß,
wenn sie ermattet endlich schweigen muß,
ruht sie im Duftgestäube, satt von Wonne.
Es stirbt die Poesie der Erde nimmer.
Am Winterabend, wenn im Schnee versunken
die Wiesen sind, ertönt aus dem Kamin
des Heimchens Ton, stark wird er, stärker immer,
und zu vernehmen glaubst du schlummertrunken
der Grille Zirpen aus der Wiese Grün.

(Deutsch von Schack)

Warum die Blaumeise einmal im Jahre den Verstand verliert

Ernest Seton Thompson

Vor langer, langer Zeit, als es noch keinen Winter im Norden gab, lebten die Blaumeisen lustig in den Wäldern mit ihrer ganzen Sippe und dachten an nichts, als sich ihr tägliches Leben im dichten Gebüsch so angenehm wie möglich zu machen. Aber am Ende sandte ihnen allen Mutter Sorge die warnende Botschaft, sie müßten nach dem Süden ziehen, denn arger Schnee und Frost kämen in ihr Gebiet und in ihrem Gefolge Hunger und Elend.

Die Spechtmeisen und andere Verwandte der Blaumeisen nahmen sich die Warnung zu Herzen und suchten Weg und Stunde des Südflugs zu erkunden. Tomtit aber, wie man die Blaumeise nach dem Klange ihres Liedchens nannte, der Führer seiner Brüder, lachte nur und schlug ein Dutzend Räder um einen Zweig, der ihm als Trapez diente.

»Nach dem Süden gehen?« sagte er. »Ich nicht; mir gefällt's hier sehr gut; und was Frost und Schnee betrifft, die hab' ich nie gesehen und glaube nicht daran.«

Aber die Spechtmeisen und die Goldhähnchen waren so geschäftig, daß schließlich auch die Blaumeisen von der Unruhe etwas angesteckt wurden und oft unterbrachen sie ihr Spiel eine Weile, um ihre Freunde zu befragen. Was sie aber erfuhren, gefiel ihnen nicht, denn es schien, sie sollten alle eine Reise machen, die sollte viele Tage dauern, und die kleinen Goldhähnchen seien gar schon auf dem Wege bis hin zum Meerbusen von Mexiko. Dazu sollten sie, um ihren Feinden, den Habichten, zu entgehen, zur Nachtzeit fliegen, und das Wetter war zu dieser Jahreszeit sicher stürmisch. So sagten die Blaumeisen, das sei alles Unsinn, und flogen allesamt davon mit lustigem Singsang und einander munter durch die Wälder jagend.

Aber ihren Vettern war es ernst. Geschäftig rüsteten sie sich zur Reise und suchten fürs erste das Notwendigste zu erfahren, das sie vom Wege wissen mußten. Der große weite Strom, der südwärts läuft, der Mond da oben und das Trompetengeschrei der Gänse sollten sie führen, und sie sollten auf ihrem Fluge in der Dunkelheit singen, um nicht voneinanderzukommen.

Die schwatzhaften, übermütigen Blaumeisen wurden immer lärmender, je weiter die Vorbereitungen für die Reise gediehen, und machten sich lustig über ihre Verwandten, die sich jetzt in großen Scharen in den Wäldern am Strom sammelten; und schließlich, als die rechte Zeit des Mondwandels gekommen war, erhoben sich die Vettern in einem einzigen Geschwader und flogen davon in dem gleißenden Dunkel. Die Blaumeisen sagten, ihre Vettern seien sämtlich verrückt, machten ein paar schlechte Witze über den Meerbusen von Mexiko, und dann ging's wieder in munterem Jagen hintereinander her durch die Wälder, die übrigens jetzt allmählich immer einsamer zu werden schienen, während auch das Wetter zweifellos merklich kühl wurde.

Am Ende traten Frost und Schnee wirklich ein, und die Blaumeisen befanden sich in einer leidvollen Lage. Ja, sie wußten jetzt vor Schreck nicht aus noch ein, huschten hin und her und suchten vergebens nach einem, der sie über den Weg nach dem Süden belehren könnte. Wild flogen sie in den Wäldern umher, bis sie tatsächlich den Verstand verloren. Ich denke mir, es wird kein Eichhornnest und keinen hohlen Ast in der Nachbarschaft gegeben haben, worein nicht eine Blaumeise gekrochen wäre, um anzufragen, ob das der Meerbusen von Mexiko sei, oder ob man ihr den Weg dahin sagen könne. Aber niemand wußte darüber Bescheid, niemand ging den Weg, und der große Strom verbarg sich unter Eis und Schnee.

Um diese Zeit kam ein Bote von Mutter Sorge vorüber, den sie mit einer Botschaft an die Karibu im fernen Norden abgesandt hatte; aber auch er konnte den Blaumeisen nichts weiter sagen, als daß er nicht ihr Führer sein könne, da er keine Weisung dazu habe, und unter allen Umständen jetzt in anderer Richtung gehen müsse. Auch sei ihnen ja dieselbe Botschaft geworden, wie ihren Vettern, und die hätten sie »verrückt« genannt; und soweit er Mutter Sorge kenne, würden sie es hier wahrscheinlich in all dem Schnee aushalten müssen, nicht nur diesmal, sondern in jedem folgenden Winter; so müßten sie nun zusehen, wie sie sich damit, so gut es eben gehe, abfänden.

siehe Bildunterschrift

Persische Miniatur, Gazellen.

Das waren traurige Nachrichten für die Tomtits, aber sie waren tapfere kleine Kerle, und da sie erkannten, es ließe sich nun einmal nichts ändern, so sahen sie auch zu, wie sie sich damit aufs beste abfänden. Ehe eine Woche herum war, zeigten sie sich wieder guter Dinge, turnten um die Zweige oder jagten einander wie zuvor. Immer waren sie noch der sicheren Überzeugung, der Winter werde bald aufhören. So voll waren sie von diesem Gedanken, daß sie sogar bei seinem Anfang, wenn ein frischer Schneesturm kam, fröhlich zueinander bemerkten, es sei ein »Frühlingszeichen«, und einer oder der andere aus der Schar erhob seine Stimme zu dem süßen kurzen, uns allen so wohlbekannten Liedlein:

Lenz kommt

Ein anderer nahm es auf und sang:

Lenz erscheint

Und sie antworteten einander und wiederholten das Lied, bis die trübseligen Wälder von der guten Kunde widerhallten, und die Menschen lernten den tapferen kleinen Vogel liebhaben, der sein schweres Geschick so heiter zu tragen versteht.

Aber bis auf diesen Tag scheinen die Blaumeisen, wenn der eisige Wind durch die vereinsamten Wälder fährt, kurze Zeit ihren Verstand zu verlieren und sich in sinnloser Hast an allen möglichen sonderbaren und gefährlichen Plätzen zu verirren. Man kann sie dann in großen Städten oder mitten in der Prärie, in Kellern, in Schornsteinen und hohlen Bäumen finden, und triffst du wieder einmal einen von den Flüchtlingen an einem solchen Platze, so vergiß nicht, daß Tomtit einmal im Jahre den Verstand verliert und in diesen sonderbaren Schlupfwinkel geriet – auf der Suche nach dem Meerbusen von Mexiko.

Die Nachtigall und die Rose

Oscar Wilde

»Sie sagte, sie würde mit mir tanzen, wenn ich ihr rote Rosen brächte,« rief der junge Student; »aber in meinem ganzen Garten ist keine rote Rose.« In ihrem Nest auf dem Eichbaum hörte ihn die Nachtigall, guckte durch das Laub und wunderte sich.

»Keine rote Rose in meinem ganzen Garten!« rief er, und seine schönen Augen waren voll Tränen. »Ach, an was für kleinen Dingen das Glück hängt. Alles habe ich gelesen, was weise Männer geschrieben haben, alle Geheimnisse der Philosophie sind mein, und wegen einer roten Rose ist mein Leben unglücklich und elend.«

»Das ist endlich einmal ein treuer Liebhaber,« sagte die Nachtigall. »Nacht für Nacht habe ich von ihm gesungen, obgleich ich ihn nicht kannte; Nacht für Nacht habe ich seine Geschichte den Sternen erzählt, und nun seh ich ihn. Sein Haar ist dunkel wie die Hyazinthe, und sein Mund ist rot wie die Rose seiner Sehnsucht; aber Leidenschaft hat sein Gesicht bleich wie Elfenbein gemacht, und der Kummer hat ihm sein Siegel auf die Stirn gedrückt.«

»Der Prinz gibt morgen nacht einen Ball,« sprach der junge Student leise, »und meine Geliebte wird da sein. Wenn ich ihr eine rote Rose bringe, wird sie mit mir tanzen bis zum Morgen. Wenn ich ihr eine rote Rose bringe, wird sie ihren Kopf an meine Schulter lehnen, und ihre Hand wird in der meinen liegen. Aber in meinem Garten ist keine rote Rose, so werde ich einsam sitzen, und sie wird an mir vorübergehen. Sie wird meiner nicht achten, und mir wird das Herz brechen.«

»Das ist wirklich der treue Liebhaber,« sagte die Nachtigall. »Was ich singe, um das leidet er; was mir Freude ist, das ist ihm Schmerz. Wahrhaftig, die Liebe ist etwas Wundervolles! Kostbarer ist sie als Smaragde und teurer als feine Opale. Perlen und Granaten können sie nicht kaufen, und auf den Märkten wird sie nicht feilgeboten. Sie kann von den Kaufleuten nicht gehandelt werden und kann nicht für Gold ausgewogen werden auf der Wage.« »Die Musikanten werden auf ihrer Galerie sitzen,« sagte der junge Student, »und auf ihren Saiteninstrumenten spielen, und meine Geliebte wird zum Klang der Harfe und der Geige tanzen. So leicht wird sie tanzen, daß ihre Füße den Boden kaum berühren, und die Höflinge in ihren bunten Gewändern werden sich um sie scharen. Aber mit mir wird sie nicht tanzen, denn ich habe keine rote Rose für sie«; und er warf sich ins Gras, barg sein Gesicht in den Händen und weinte. »Weshalb weint er?« fragte ein kleiner grüner Eidechs, während er mit dem Schwänzchen in der Luft an ihm vorbeilief. »Ja warum?« fragte ein Schmetterling, der einem Sonnenstrahl nachjagte.

»Er weint um eine rote Rose,« sagte die Nachtigall.

»Um eine rote Rose?« riefen alle; »wie lächerlich!« und der kleine Eidechs, der so etwas wie ein Zyniker war, lachte überlaut.

Aber die Nachtigall wußte um des Studenten Kummer und saß schweigend in dem Eichbaum und sann über das Geheimnis der Liebe. Plötzlich breitete sie ihre braunen Flügel aus und flog auf. Wie ein Schatten huschte sie durch das Gehölz, und wie ein Schatten flog sie über den Garten.

Da stand mitten auf dem Rasen ein wundervoller Rosenstock, und als sie ihn sah, flog sie auf ihn zu und setzte sich auf einen Zweig.

»Gib mir eine rote Rose,« rief sie, »und ich will dir dafür mein süßestes Lied singen.«

Aber der Strauch schüttelte seinen Kopf. »Meine Rosen sind weiß,« antwortete er, »so weiß wie der Schaum des Meeres und weißer als der Schnee auf den Bergen. Aber geh zu meinem Bruder, der sich um die alte Sonnenuhr rankt, der gibt dir vielleicht, was du verlangst.«

So flog die Nachtigall hinüber zu dem Rosenstrauch bei der alten Sonnenuhr.

»Gib mir eine rote Rose,« rief sie, »und ich will dir dafür mein süßestes Lied singen.«

Aber der Strauch schüttelte seinen Kopf.

»Meine Rosen sind gelb,« antwortete er, »so gelb wie das Haar der Meerjungfrau, die auf einem Bernsteinthrone sitzt, und gelber als die gelbe Narzisse, die auf der Wiese blüht, bevor der Mäher mit seiner Sense kommt. Aber geh zu meinem Bruder, der unter des Studenten Fenster blüht, und vielleicht gibt der dir, was du verlangst.«

So flog die Nachtigall zum Rosenstrauch unter des Studenten Fenster.

»Gib mir eine rote Rose,« rief sie, »und ich will dir dafür mein süßestes Lied singen.«

Aber der Rosenstrauch schüttelte den Kopf. »Meine Rosen sind rot,« antwortete er, »so rot wie die Füße der Taube und röter als die Korallenfächer, die in der Meergrotte fächeln. Aber der Winter machte meine Adern erstarren, der Frost hat meine Knospen zerbissen und der Sturm meine Zweige gebrochen, und so habe ich keine Rosen dies ganze Jahr.«

»Nur eine einzige rote Rose brauche ich,« rief die Nachtigall, »nur eine rote Rose! Gibt es denn nichts, daß ich eine rote Rose bekomme?«

»Ein Mittel gibt es,« antwortete der Baum, »aber es ist so schrecklich, daß ich mir es dir nicht zu sagen traue.«

»Sag es mir,« sprach die Nachtigall, »ich fürchte mich nicht.«

»Wenn du eine rote Rose haben willst,« sagte der Baum, »dann mußt du sie beim Mondlicht aus Liedern machen und sie färben mit deinem eigenen Herzblut. Du mußt für mich singen und deine Brust an einen Dorn pressen. Die ganze Nacht mußt du singen, und der Dorn muß dein Herz durchbohren, und dein Lebensblut muß in meine Adern fließen und mein werden.«

»Der Tod ist ein hoher Preis für eine rote Rose,« sagte die Nachtigall, »und das Leben ist allen sehr teuer. Es ist lustig, im grünen Wald zu sitzen und die Sonne in ihrem goldenen Wagen zu sehen und den Mond in seinem Perlenwagen. Süß ist der Duft des Weißdorns, und süß sind die Glockenblumen im Tale und das Heidekraut auf den Hügeln. Aber die Liebe ist besser als das Leben, und was ist ein Vogelherz gegen ein Menschenherz?«

So breitete sie ihre braunen Flügel und flog auf. Wie ein Schatten schwebte sie über den Garten, und wie ein Schatten huschte sie durch das Gehölz.

Da lag noch der junge Student im Grase, wie sie ihn verlassen hatte, und die Tränen seiner schönen Augen waren noch nicht getrocknet. »Freu dich,« rief die Nachtigall, »freu dich; du sollst deine rote Rose haben. Ich will sie beim Mondlicht bilden aus Liedern und färben mit meinem eigenen Herzblut. Alles, was ich von dir dafür verlange, ist, daß du deiner Liebe treu bleiben sollst; denn die Liebe ist weiser als die Philosophie, wenn die auch weise ist, und mächtiger als Macht, wenn die auch mächtig ist. Flammfarben sind ihre Flügel, und flammfarben ist ihr Leib. Ihre Lippen sind süß wie Honig, und ihr Atem ist wie Weihrauch.«

Der Student blickte aus dem Grase auf und horchte; aber er konnte nicht verstehen, was die Nachtigall zu ihm sprach, denn er verstand nur die Bücher.

Aber der Eichbaum verstand und ward traurig, denn er liebte die kleine Nachtigall sehr, die ihr Nest in seinen Zweigen gebaut hatte.

»Sing mir noch ein letztes Lied,« flüsterte er; »ich werd mich sehr einsam fühlen, wenn du fort bist.« Und die Nachtigall sang für den Eichbaum, und ihre Stimme war wie Wasser, das aus einem silbernen Kruge rinnt.

Als sie ihr Lied geendet hatte, stand der Student auf und nahm ein Notizbuch und einen Bleistift aus der Tasche.

»Sie hat Form,« sagte er zu sich, als er aus dem Gehölz schritt, »– sie hat ein Formtalent, das kann ihr nicht abgesprochen werden; aber ob sie auch Gefühl hat? Ich fürchte, nein. Sie wird wohl sein wie die meisten Künstler: alles nur Stil und keine echte Innerlichkeit. Sie würde sich kaum für andere opfern. Sie denkt vor allem an die Musik, und man weiß ja, wie egoistisch die Künste sind. Aber zugeben muß man, sie hat einige schöne Töne in ihrer Stimme. Schade, daß sie gar keinen Sinn haben, nichts ausdrücken und ohne praktischen Wert sind.« Und er ging auf sein Zimmer und legte sich auf sein schmales Feldbett und fing an, an seine Liebe zu denken; bald war er eingeschlafen.

Und als der Mond in den Himmeln schien, flog die Nachtigall zu dem Rosenstrauch und preßte ihre Brust gegen den Dorn. Die ganze Nacht sang sie, die Brust gegen den Dorn gepreßt, und der kalte kristallene Mond neigte sich herab und lauschte. Die ganze Nacht sang sie, und der Dorn drang tiefer und tiefer in ihre Brust, und ihr Lebensblut sickerte weg von ihr.

Zuerst sang sie von dem Werden der Liebe in dem Herzen eines Knaben und eines Mädchens. Und an der Spitze des Rosenstrauches erblühte eine herrliche Rose, Blatt reihte sich an Blatt wie Lied auf Lied. Erst war sie bleich wie der Nebel, der über dem Fluß hängt, bleich wie die Füße des Morgens und silbern wie die Flügel des Dämmers. Wie das Schattenbild einer Rose in einem Silberspiegel, wie das Schattenbild einer Rose im Teiche, so war die Rose, die aufblühte an der Spitze des Rosenstockes.

Der aber rief der Nachtigall zu, daß sie sich fester noch gegen den Dorn presse. »Drück fester, kleine Nachtigall,« rief er, »sonst bricht der Tag an, bevor die Rose vollendet ist.« Und so drückte die Nachtigall sich fester gegen den Dorn, und lauter und lauter wurde ihr Lied, denn sie sang nun von dem Erwachen der Leidenschaft in der Seele von Mann und Weib.

Und ein zartes Rot kam auf die Blätter der Rose, wie das Erröten auf das Antlitz des Bräutigams, wenn er die Lippen seiner Braut küßt. Aber der Dorn hatte ihr Herz noch nicht getroffen, und so blieb das Herz der Rose weiß, denn bloß einer Nachtigall Herzblut kann das Herz einer Rose färben. Und der Baum rief der Nachtigall zu, daß sie sich fester noch gegen den Dorn drücke. »Drück fester, kleine Nachtigall,« rief er, »sonst ist es Tag, bevor die Rose vollendet ist.«

Und so drückte die Nachtigall sich fester gegen den Dorn, und der Dorn berührte ihr Herz, und ein heftiger Schmerz durchzuckte sie. Bitter, bitter war der Schmerz, und wilder, wilder wurde das Lied, denn sie sang nun von der Liebe, die der Tod verklärt, von der Liebe, die auch im Grabe nicht stirbt. Und die wundervolle Rose färbte sich rot wie die Rose des östlichen Himmels. Rot war der Gürtel ihrer Blätter, und rot wie ein Rubin war ihr Herz. Aber die Stimme der Nachtigall wurde schwächer, und ihre kleinen Flügel begannen zu flattern, und ein leichter Schleier kam über ihre Augen. Schwächer und schwächer wurde ihr Lied, und sie fühlte etwas in der Kehle.

Dann schluchzte sie noch einmal auf in letzten Tönen. Der weiße Mond hörte es, und er vergaß unterzugehen und verweilte am Himmel. Die rote Rose hörte es und zitterte ganz vor Wonne und öffnete ihre Blätter dem kühlen Morgenwind. Das Echo trug es in seine Purpurhöhle in den Bergen und weckte die Schläfer aus ihren Träumen. Es schwebte über das Schilf am Fluß, und der trug die Botschaft dem Meere zu. »Sieh, sieh!« rief der Rosenstrauch, »nun ist die Rose fertig«; aber die Nachtigall gab keine Antwort, denn sie lag tot im hohen Gras, mit dem Dorn im Herzen.

Um Mittag öffnete der Student sein Fenster und blickte hinaus. »Was für ein Wunder und Glück!« rief er; »da ist eine rote Rose! Nie in meinem Leben habe ich eine solche Rose gesehen. Sie ist so schön, ich bin sicher, sie hat einen langen lateinischen Namen«; und er lehnte sich hinaus und pflückte sie. Dann setzte er seinen Hut auf und lief dem Professor ins Haus, mit der Rose in der Hand.

Des Professors Tochter saß in der Einfahrt und wand blaue Seide auf eine Spule, und ihr Hündchen lag ihr zu Füßen.

»Ihr sagtet, Ihr würdet mit mir tanzen, wenn ich Euch eine rote Rose brächte,« sagte der Student. »Hier ist die röteste der Rosen der Welt. Tragt sie heut abend an Eurem Herzen, und wenn wir zusammen tanzen, wird sie Euch erzählen, wie ich Euch liebe.«

Aber das Mädchen verzog den Mund. »Ich fürchte, sie paßt nicht zu meinem Kleid,« sprach sie; »und dann hat mir auch der Neffe des Kammerherrn echte Juwelen geschickt, und das weiß doch jeder, daß Juwelen mehr wert sind als Blumen.«

»Wahrhaftig, Ihr seid sehr undankbar,« rief der Student gereizt; und er warf die Rose auf die Straße, wo sie in die Gosse fiel, und ein Wagenrad ging darüber. »Undankbar?« sagte das Mädchen; »ich will Euch was sagen: Ihr seid sehr ungezogen – und dann: wer seid Ihr eigentlich? Ein Student, nichts weiter. Ich glaube, Ihr habt nicht einmal Silberschnallen an den Schuhen, wie des Kammerherrn Neffe.« Und sie stand auf und ging ins Haus.

»Wie dumm ist doch die Liebe,« sagte sich der Student, als er fortging; »sie ist nicht halb so nützlich wie die Logik, denn sie beweist gar nichts und spricht einem immer von Dingen, die nicht geschehen werden, und läßt einem Dinge glauben, die nicht wahr sind. Sie ist wirklich etwas ganz Unpraktisches, und da in unserer Zeit das Praktische alles ist, so gehe ich wieder zur Philosophie und studiere Metaphysik.« So ging er wieder auf sein Zimmer und holte ein großes staubiges Buch hervor und begann zu lesen.

Thomas Henrys Entartung

Jerome K. Jerome

Die achtbarste Katze, die ich jemals kennen gelernt habe, war Thomas Henry. Sein ursprünglicher Name war Thomas, aber es schien albern, ihn so zu rufen. Die Familie von Hawarden hätte ebensogut daran denken können, Herrn Gladstone als »Bill« anzureden. Er kam zu uns aus dem Reformklub, via den Fleischer, und sobald ich ihn sah, fühlte ich, daß unter allen Londoner Klubs dies der einzige war, aus dem er kommen konnte. Sein Dunstkreis von gediegener Würde und versteinertem Konservatismus schien ihm anzuhaften. Warum er den Klub verließ, vermag ich in diesem Zeitraume nicht mit Bestimmtheit anzugeben, aber ich bin geneigt, zu vermuten, es war die Folge eines Streites mit dem neuen Chef, einer anmaßenden Persönlichkeit, die das ganze Feuer für sich beanspruchte. Der Fleischer, der von dem Zwist hörte und uns als eine katzenlose Familie kannte, schlug einen Ausweg aus der Sackgasse vor, der von der Katze und dem Koch zugleich freudig begrüßt wurde. Der Abschied zwischen ihnen war, wie ich glaube, rein formell, und Thomas langte an, für uns günstig gestimmt.

Meine Frau empfahl, sobald sie ihn sah, Henry als einen passenderen Namen. Mich dünkte die Vereinigung beider noch angemessener, und demgemäß wurde er in der Stille des häuslichen Kreises Thomas Henry gerufen. Wenn wir mit Freunden von ihm sprachen, erwähnten wir ihn als Thomas Henry, Wohlgeboren.

Er befreundete sich mit uns in seiner ruhigen, zurückhaltenden Weise. Er erkor meinen eigenen persönlichen Armstuhl für sich und hielt an ihm fest. Eine gewöhnliche Katze hätte ich hinausspediert, aber Thomas Henry war nicht die Katze, die man fortjagt. Hätte ich ihm klar gemacht, daß ich seine Anwesenheit in meinem Armstuhle mißbilligte, so bin ich überzeugt, er würde mich angesehen haben wie etwa die Königin Viktoria, wenn diese gnädige Dame mich freundschaftlich besucht und ich ihr mitgeteilt hätte, ich bäte sie, einen anderen Nachmittag bei mir vorzusprechen. Er würde aufgestanden und weggegangen sein, aber nie wieder mich angeredet haben, so lange wir unter demselben Dache lebten.

Damals verweilte eine Dame bei uns – sie wohnt jetzt noch bei uns, aber sie ist nunmehr älter und besitzt mehr Einsicht – die keine Achtung vor Katzen hatte. Ihre Schlußfolgerung war: da der Schwanz aufrecht stehe und einem bequem an die Hand reiche, so sei er das natürliche Anhängsel, an dem man eine Katze aufhebe. Sie litt ferner unter dem Irrtum: das richtige Verfahren eine Katze zu füttern, sei, daß man ihr Sachen ins Maul stopfe, und ihr höchster Genuß eine Ausfahrt in einem Puppenwagen. Ich fürchtete Thomas Henrys erste Begegnung mit dieser Dame. Ich hatte Angst, sie würde ihm eine falsche Vorstellung von unserer Familie geben, und wir würden in seinen Augen einbüßen.

Aber ich hätte mir alle Sorgen sparen können. Thomas Henry hatte etwas an sich, das Dreistigkeit hemmte und Vertraulichkeit dämpfte. Sein Verhalten ihr gegenüber war freundschaftlich, aber fest. Zögernd und mit einer neugeborenen Achtung für Katzen streckte sie furchtsam ihre Hand nach seinem Schwanze aus. Er schlug ihn sanft auf die andere Seite und blickte sie an. Es war weder ein zorniger noch ein beleidigter Blick. Es war der Ausdruck, mit dem Salomo das Entgegenkommen der Königin von Saba aufgenommen haben mochte. Er drückte Herablassung aus, verbunden mit Zurückhaltung.

Er war wirklich eine höchst feine Katze. Einer meiner Freunde, der an die Lehre von der Seelenwanderung glaubt, war überzeugt, er sei Lord Chesterfield. Er schrie niemals nach Nahrung wie andere Katzen. Er saß bei den Mahlzeiten neben mir und wartete, bis er bedient wurde. Er fraß nur das Knöchelnde einer Hammelkeule und guckte übergares Rindfleisch gar nicht an. Einer unserer Gäste bot ihm einmal ein Stück Knorpel an. Er sagte nichts, aber er verließ still das Zimmer, und wir sahen ihn nicht wieder, bis unser Freund abgereist war.

Doch jeder hat seinen Kaufpreis, und Thomas Henrys Kaufpreis war Entenbraten. Thomas Henrys Verhalten in Gegenwart eines Entenbratens wurde eine psychologische Offenbarung für mich. Es zeigte mir zugleich die niedrigere und mehr tierische Seite seiner Natur. In Gegenwart eines Entenbratens wurde Thomas Henry einfach und ausschließlich eine Katze, beherrscht von den wilden Gelüsten seiner Rasse. Seine Würde fiel von ihm ab wie ein Mantel. Er krallte nach Entenbraten, er kroch um seinetwillen auf dem Bauche. Er hätte sich dem Teufel für Entenbraten verkauft.

Wir vermieden demgemäß dies besondere Gericht. Es war schmerzlich, den Charakter einer Katze so völlig entwürdigt zu sehen. Außerdem gab sein Betragen, wenn Entenbraten auf dem Tische war, den Kindern ein schlechtes Beispiel.

Er war eine Leuchte unter allen Katzen der Nachbarschaft. Man hätte seine Uhr nach seinen Bewegungen stellen können. Nach dem Mittagessen unternahm er unabänderlich einen halbstündigen Gesundheitsbummel auf dem Platze; Punkt 10 Uhr nachts kehrte er an die Hoftür zurück und um 11 schlief er bereits in meinem Armstuhl. Er befreundete sich nicht mit anderen Katzen. Er fand kein Gefallen am Raufen; und ich zweifle, ob er – selbst in seiner Jugend – jemals geliebt hat. Seine Natur war zu kalt und verschlossen; weibliche Gesellschaft betrachtete er mit äußerster Gleichgültigkeit.

So führte er ein unsträfliches Dasein den ganzen Winter über. Im Sommer nahmen wir ihn mit aufs Land. Wir dachten, der Luftwechsel würde ihm gut tun; er wurde entschieden dick. Ach, armer Thomas Henry – das Land wurde sein Verderben! Was den Wechsel hervorbrachte, kann ich nicht sagen; vielleicht war die Luft zu stärkend. Er glitt den moralischen Abhang mit furchtbarer Geschwindigkeit hinab. In der ersten Nacht blieb er bis 11 aus. In der zweiten kam er überhaupt nicht heim. In der dritten kam er früh um 6 zurück und brachte nur die Hälfte seines Kopfschmucks mit. Natürlich war eine Dame beteiligt; in der Tat – nach dem Radau zu schließen, der die ganze Nacht hindurch dauerte, müssen es eigentlich ein Dutzend gewesen sein. Er war jedenfalls eine schöne Katze, und sie begannen tagsüber ihn zu besuchen. Dann begannen Herrenkatzen, die gekränkt waren, ihn ebenfalls zu besuchen und Erklärungen zu fordern – die Thomas Henry, um gerecht gegen ihn zu sein, stets bereitwillig gab.

Die Dorfjungen pflegten den ganzen Tag umherzulungern, um die Raufereien zu beobachten; und zornige Hausfrauen stürzten beständig in unsere Küche, um tote Katzen auf den Tisch zu schleudern und den Himmel und mich um Gerechtigkeit anzurufen. Unsere Küche wurde ein wahres Leichenhaus für Katzen, und ich mußte einen neuen Küchentisch kaufen. Die Köchin sagte, es würde ihre Arbeit vereinfachen, wenn sie einen Tisch ausschließlich für sich haben könnte. Sie sagte, es mache sie ganz verwirrt, so viele tote Katzen unter ihren Braten und Gemüsen herumliegen zu haben; sie fürchte sich, einen Mißgriff zu tun. Demgemäß wurde der alte Tisch unter das Fenster gestellt und den Katzen gewidmet. Und danach erlaubte sie niemandem wieder, eine Katze – und wenn sie noch so tot war – an ihren Tisch zu bringen.

»Was soll ich mit ihr tun?« hörte ich sie bei einer Gelegenheit eine aufgeregte Dame fragen; »sie braten?«

»Es ist meine Katze,« sagte die Dame; »jawohl, das ist sie!«

»Ei nun, ich mache heute keine Katzenpastete,« antwortete unsere Köchin. »Legen Sie sie auf den richtigen Tisch, das hier ist mein Tisch!«

Zuerst war »Gerechtigkeit« in der Regel mit einer halben Krone zufrieden. Aber im Verlaufe der Zeit schlugen Katzen auf. Ich hatte bisher Katzen als einen billigen Artikel betrachtet und ich war überrascht über den Wert, den man ihnen beilegte. Ich begann ernstlich an Katzenzucht als ein Gewerbe zu denken. Nach den im Dorfe gangbaren Preisen hätte ich ein Einkommen von Tausenden gehabt.

»Sehen Sie, was Ihr Vieh getan hat,« sagte ein wütendes Frauenzimmer, das mich mitten während des Essens hatte herausrufen lassen.

Ich sah hin. Thomas Henry hatte ein räudiges, abgemagertes Tier »abgetan«, das weit glücklicher tot als lebendig gewesen sein muß. Hätte das arme Geschöpf mir gehört, so hätte ich ihm gedankt, aber manche Leute wissen nie, wann's ihnen wohl ist.

»Ich würde diese Katze nicht für eine Fünfpfundnote hingegeben haben,« sagte die Dame.

»Das ist Ansichtssache,« erwiderte ich. »Aber ich persönlich denke, Sie würden unklug gewesen sein, dies auszuschlagen. So wie das Tier ist, fühle ich mich nicht geneigt, Ihnen mehr als einen Schilling zu geben. Wenn Sie glauben, Sie fahren anderswo besser mit ihm, so gehen Sie nur hin.«

»Er war mehr ein Christ als eine Katze,« sagte die Dame.

»Ich nehme keine toten Christen,« antwortete ich fest, »und selbst wenn ich es täte, würde ich Ihnen für ein derartiges Exemplar nicht mehr als einen Schilling geben. Sie mögen ihn als einen Christen oder als eine Katze betrachten – aber in beiden Fällen ist er nicht mehr als einen Schilling wert.«

Wir einigten uns schließlich auf 19 Pence.

Die Menge der Katzen, mit denen Thomas Henry fertig zu werden verstand, überraschte mich ebenfalls. Ein reines Gemetzel schien unter den Katzen vor sich zu gehen.

Als ich eines Abends in die Küche kam – denn ich hatte es mir angewöhnt, jetzt die Küche jeden Abend zu besuchen, um die tägliche Lieferung toter Katzen zu besichtigen – fand ich unter anderen eine merkwürdig gezeichnete, schwarz und gelbgefleckte Katze auf dem Tische liegen.

»Diese Katze ist einen halben Sovereign wert,« sagte der Besitzer, der Bier trinkend dabei stand.

»Ihre Katze hat ihn gestern getötet,« fuhr der Mann fort. »Es ist eine Sünde und Schande.«

»Meine Katze hat ihn dreimal getötet,« erwiderte ich. »Am Sonnabend wurde er als Frau Hedgers Katze getötet – am Montag wurde er für Frau Myers getötet. Ich war am Montag nicht ganz sicher, aber ich hatte meinen Verdacht und machte mir Notizen. Jetzt erkenne ich ihn. Ich rate Ihnen, begraben Sie ihn, bevor er ein Fieber erzeugt. Mir ist es gleich, wie viele Leben eine Katze hat – ich bezahle nur für eins.«

Wir gaben Thomas Henry alle Gelegenheit sich zu bessern; aber er sank nur immer tiefer und fügte Wilddieberei und Hühnerstehlen seinen anderen Verbrechen zu, und ich bekam es satt, für seine Laster zu zahlen.

Ich beriet mich mit dem Gärtner, und der Gärtner sagte, er hätte schon früher Katzen auf solche Wege geraten sehen.

»Wissen Sie ein Mittel dagegen?« fragte ich.

»Ei nun,« erwiderte der Gärtner, »ich habe gehört, daß eine Dosis von Ziegelstein und Teich im allgemeinen recht gut ist.«

»Wir wollen ihn mit dieser Dosis just vor dem Schlafengehen behandeln,« antwortete ich. Der Gärtner verabreichte sie, und wir hatten keine weitere Not mit ihm.

Armer Thomas Henry! Es zeigt uns, wie der Ruf der Achtbarkeit von der bloßen Abwesenheit der Versuchung abhängen kann. Im Dunstkreis des Reformklubs geboren und erzogen – welcher Herr könnte da mißraten? Es tat mir leid um Thomas Henry, und ich habe seitdem niemals wieder an den moralischen Einfluß des Landaufenthalts geglaubt.

Wenn die Natur ruft

Jack London

[Bemerkung: Die Zuordnung von Jack London zu England hat der Herausgeber vorgenommen. Re für Gutenberg]

Im Laufe des Jahres mit dem kälteren Wetter zogen sich auch die Elche tiefer in das Land. Schon einmal hatte Buck ein Schmaltier gerissen, aber er wünschte sich würdigere Gegner. Am liebsten hätte er ein starkes Stück gehabt, und das trat ihm in der Morgendämmerung einst in den Weg. Ein Sprung von zwanzig Elchen kam aus der Flußgegend herauf, und unter ihnen ein starker Schaufler. Er war entsetzlich aufgeregt, und als das wohl sechs Fuß hohe Tier dem Hunde gegenüberstand, war das sicherlich ein so würdiger Gegner, wie er ihn sich nur wünschen konnte. Nach allen Seiten stieß das mächtige Tier seine Schaufeln, die wohl sieben Fuß Durchmesser hatten; die kleinen Augen blickten scharf und drohend, und es schnaubte vor Wut beim Anblick des Hundes.

Aus einer Flanke stand der Schaft eines Pfeiles hervor, der bunte Federn trug, wie die Indianer sie zu gebrauchen pflegen. Von dem Instinkt aus uralten Jagdtagen geleitet, versuchte Buck nun zunächst, den Elch von den übrigen abzuschneiden. Das war kein leichtes Werk. Er bellte und sprang vor ihm her, stets nahebei, doch immer gerade noch außerhalb des Bereiches der schweren Schaufeln und der mächtigen Hufe, von denen ein Tritt genügt hätte, ihn zu zermalmen. Es war dem Elch nicht möglich, voranzukommen, und seine Wut steigerte sich immer mehr. In solchen Augenblicken ging er zum Angriff über, doch Buck wich jedesmal aus und griff ihn dann von der Seite an. Oftmals, wenn er den Elch von den übrigen getrennt zu haben glaubte, kamen drei oder vier der jüngeren Stücke zurück und machten sich mit Buck zu schaffen, bis der alte Schaufler wieder bei dem Sprung angelangt war.

Aber die Geduld, mit der die Spinne endlose Stunden lang regungslos im Netz sitzt und der Panther im Hinterhalte lauert, die Geduld, die all den Tieren eigen ist, die ihre Nahrung lebend jagen, die bewies auch Buck in der Verfolgung des Elches. Er reizte die jungen Tiere, plagte die älteren mit seinem Gekläff und versetzte die Kälber in Angst und Schrecken. Einen halben Tag lang ging das so. Von allen Seiten griff Buck an, so daß die Elche überhaupt nicht zur Ruhe kamen, und immer wieder schnitt er dem alten Elch den Weg ab, bis dieser schließlich vor Wut schnaubte.

Der Tag ging bald zu Ende, und die Sonne sank im Nordwesten. Die Dunkelheit kam schon früh, und die Nächte begannen lang zu werden. Die jungen Elche mußten dem alten immer häufiger zu Hilfe kommen, und der Weg, den sie an diesem Tage zurückgelegt hatten, war kurz. Und doch mußten sie, ehe der Winter hereinbrach, noch weit wandern, aber es schien ihnen, als ob der lästige Quälgeist sie so bald nicht freigeben würde. Und all sein Tun galt immer nur dem einen von ihnen. Nur dieser, nicht der ganze Sprung war in Gefahr. Nur sein Leben wurde gefordert, und es galt doch nicht so viel, als das von all den anderen.

Als die Schatten der Bäume lang und schräg fielen, stand der alte Elch allein und sah dem abziehenden Sprunge nach. Da gingen sie hin, die Tiere, die er so lange geführt hatte, die er beschützt und beherrscht hatte. Er sah ihnen nach, bis daß sie im dämmerigen Licht verschwanden. Er konnte ihnen nicht folgen, denn vor ihm her hüpfte und bellte ein erbarmungsloser Feind, der es ihm verbot, und doch so klein war, daß einer seiner Hufe ihn hätte zertreten können. Er hatte ein langes, langes Leben hinter sich, ein Leben voll mutiger Kämpfe; und dies sollte nun sein Ende sein: der Tod von den Zähnen eines Geschöpfes, das ihm kaum bis an die Knie reichte.

Nun hatte er Tag und Nacht keine Ruhe; Buck ließ ihn nie zufrieden, ließ ihn kein Blättchen vom Strauch pflücken, keinen Tropfen Wasser aus dem Bach schöpfen. Er durfte seinen brennenden Durst nicht stillen und hörte doch das Wasser oft unter seinen Füßen rauschen. In heller Verzweiflung flog er oft in langen Fluchten davon. Dann war es Bucks Ehrgeiz durchaus nicht, ihm hart auf den Fersen zu bleiben; er ließ sich Zeit, denn er holte ihn doch, wenn es sein mußte, in wenigen leichten Sprüngen ein. Er ließ den Elch auch ruhig lange Zeit stehen und legte sich still daneben, und griff erst an, wenn er sich äsen oder tränken wollte.

Der schwere Kopf unter den großen Schaufeln sank immer tiefer zur Erde, der Gang wurde von Stunde zu Stunde unsicherer. Der Elch verhoffte jetzt oft und lange, die Muffel berührte fast das weiche Moos, die Lauscher hingen schlaff nach vorn, und Buck fand Zeit genug, für sich selbst Nahrung zu suchen.

Wenn er still dalag und den Elch im Auge hatte, dann war es Buck manchmal, als ob etwas vorging im Lande. Als die Elche einzogen, schien auch etwas anderes gekommen zu sein, aber er wußte nicht, was es war. Er konnte es nicht sehen, nicht hören und nicht riechen, aber mit einem anderen namenlosen Sinn vernahm er es doch. Es gingen seltsame Dinge vor, und wenn er die Sache mit dem Elch erledigt hatte, wurde es Zeit, danach zu sehen.

Endlich am Abend des vierten Tages zog er den alten Schaufler nieder. Einen Tag und eine Nacht schenkte er sich Ruhe und fraß sich satt. Dann trat er erfrischt den Rückweg an. Im kurzen gleichmäßigen Trab ging es voran, immer geradeaus, ohne Zeitverlust; ohne auch nur eine unnötige Schleife zu machen, lief er gerade auf das Lager zu; keine Magnetnadel hätte genauer die Richtung zeigen können.

Und immer sicherer wurde er, daß etwas im Lande geschehen sei, von dem er nichts wußte. Er hörte die Vögel davon reden, die Eichhörnchen darüber schelten, und der Wind flüsterte geheimnisvoll davon. Dann und wann blieb er stehen, sog die frische Morgenluft in langen Zügen ein, aber mit ihr auch etwas, das ihn zu einem eiligeren Laufe antrieb. Erst als er in das Tal einbog, wo das Zelt stand, gebrauchte er Vorsicht.

Er kam auf eine Fährte, und diese Fährte führte geradeaus in das Lager, wo John Thornten war. Die Rückenhaare sträubten sich, seine Augen glühten, jeder Nerv an ihm bebte. Er wußte jetzt alles, nur das Ende noch nicht. Seine Nase hatte es ihm gesagt, in wessen Fußspuren er trat. Er empfand eine Stille des Waldes, die er nie empfunden; alles Vogelleben war tot; kein Eichhörnchen rührte sich. Nur eins sah er, ein kleines graues Kerlchen, das sich dicht an einen rauhen, grauen Stamm drückte.

Wie ein Schatten glitt Buck dahin, aber plötzlich war es ihm, als würde er mit eisernem Griff zur Seite gezogen. Er folgte der Weisung seiner Nase und fand im Dickicht Moor. Da lag sein Herr – lang ausgestreckt, tot, von Pfeilen durchbohrt, deren befederte Enden aus seinem Körper heraussahen.

Hundert Schritt weiter stieß Buck auf einen der neuen Schlittenhunde, die Thornten in Dawson gekauft hatte. Er lag im letzten Todeskampf. Vom Lagerplatz kam das Geräusch vieler Stimmen und ein eintöniger Singsang. Etwas weiter fand er Hans auf dem Gesicht liegend, mit Pfeilen bedeckt, wie ein Stachelschwein mit Stacheln. Im selben Augenblicke konnte er den Platz vor dem Zelt übersehen, und vor seinen Augen glühte es blutigrot. Es war die Welle der Wut, die ihn überlief. Er wußte es selbst nicht, daß er es war, der das Geheul ausstieß, das jetzt die Luft erschütterte. Es war das letzte Mal in seinem Leben, daß die Leidenschaft bei ihm Herr wurde über den Verstand: die Liebe zu John Thornten ließ ihn den Kopf verlieren.

Es waren Yeehats-Indianer, die dort auf dem freien Platze vor dem Zelt ihre Tänze aufführten und dazu sangen. Plötzlich hörten sie ein furchtbares Geheul und sahen ein Tier, wie sie noch keins gesehen hatten. Es war Buck, der sich zwischen sie stürzte. Er sprang auf den ersten zu, es war grade der Häuptling, warf ihn zu Boden und riß ihm die Gurgel auf, daß das Blut weit umherspritzte. In der nächsten Minute hatte er es mit dem zweiten geradeso gemacht, und auch über den dritten fiel er schon her. Er quälte sein Opfer nicht; dazu ließ er sich nicht Zeit. Von rechts nach links, nach hinten, nach vorn sprang er, zerriß, zerbiß und zermalmte, was ihm in den Weg kam. So schnell ging alles, und so eng hatten die Indianer zusammengesessen, daß sie nicht einmal ihre Pfeile gebrauchen konnten. Ein junger Krieger, der mit dem Speer nach Buck warf, traf einen anderen Indianer mit solcher Macht durch die Brust, daß das Speerende zum Rücken wieder herauskam. Eine Panik entstand, und Todesgeschrei durchgellte die Luft. Alle flohen in den Wald, als ob der böse Geist hinter ihnen wäre.

Und wie der leibhaftige Satan gebärdete sich Buck in seiner Wut. Es war ein Schicksalstag für die Yeehats. Weit über das Land wurden sie zerstreut, und erst eine Woche später sammelten sie sich in einem entlegenen Tale; es waren ihrer aber nicht mehr viele. Als Buck von ihrer Verfolgung zurückkam, fand er zunächst Peter, der schon auf seinem Lager im Schlafe erschlagen war. Thorntens verzweifelten Kampf las er aus den Fußspuren im Sande und verfolgte sie bis hinunter an den tiefen dunklen See. Am Ufer, die Vorderfüße im Wasser, lag Skeet, treu bis in den Tod. Der See aber war trübe und schlammig, und was er enthielt, war nicht zu sehen. Buck aber wußte es. John Thorntens Fußspuren führten hinein, aber nicht wieder heraus.

Den ganzen Tag lag der Hund dort oder wanderte ruhelos um das Zelt. Der Tod war ein Aufhören jeder Bewegung, jedes Lebens; das hatte er oft beobachtet und er wußte, daß John Thornten tot war. Er fühlte eine große Leere in sich und ein Gefühl des Schmerzes, wie Hunger. Aber es war ein Hunger, der nie gestillt werden konnte. Zu Zeiten, wenn er den Spuren der Yeehats nachjagte und wieder ein paar zu Tode brachte, dann vergaß er den Schmerz wohl auf Augenblicke, und Stolz erfüllte sein Herz. Er hatte das edelste Wild gehetzt, Menschen gejagt, Menschen getötet, und zwar nach dem Gesetze des Reißzahnes, mit dem Recht des Stärkeren war es geschehen. Er beschnüffelte die Toten neugierig. Sie waren so leicht zu töten; mit einem Polarhund gab es einen viel härteren Kampf. Menschen waren keine würdigen Gegner, wenn sie nicht Knüppel oder Speere hatten; er würde sie nie mehr fürchten, höchstens die Waffen in ihrer Hand.

Die Nacht kam, und der Vollmond stand still am Himmel über den dunklen Bäumen. Buck lag traurig am Ufer des Sees. Da tönte ein Laut zu ihm herüber, den er kannte. Er klang so nah und klang doch fern. Es war der Ton, den er schon oft in einer anderen Welt gehört hatte, der Ton, den seine Erinnerung ihm bewahrt hatte. John Thornten war tot; jetzt wollte er dem Rufe folgen, denn das letzte Band war zerrissen, das ihn an die Menschheit knüpfte.

Auf ihren Jagdzügen waren die Wölfe durch das Land der Ströme und Seen bis hier in das Tal gezogen. Im Mondschein kamen sie daher wie ein Silberstreifen, und Buck stand hoch aufgerichtet, sie zu erwarten. Sie standen starr vor Schrecken, als sie ihn plötzlich sahen, und es dauerte lange, bis der kühnste unter ihnen zum Angriff vorsprang. Buck faßte ihn gut und brach ihm das Genick. Dann stand er wieder da, regungslos und still. Drei andere versuchten ihr Heil und zogen sich blutüberströmt zurück.

Plötzlich fielen alle zusammen über ihn her, und nur seine fabelhafte Gewandtheit konnte ihn retten. Er schnappte nach rechts und nach links, war hier und dort zu gleicher Zeit, allerwärts und nirgends. Er mußte sich vorsehen, daß er sich den Rücken freihielt. Langsam ging er rückwärts bis an die Bucht am See. Dort hatten die Goldsucher beim Goldwaschen einen Haufen Sand und Steinchen aufgeworfen. Sich rückwärts schiebend, drängte er sich hinein, so daß er von drei Seiten geschützt war und sich nur nach vorne zu verteidigen brauchte.

Und so gut verstand er es, daß die Wölfe sich nach einer halben Stunde mißmutig zurückzogen. Sie schnaubten vor Wut, und ihre weißen Zähne leuchteten unheimlich vor Mordbegier. Sie wußten aber nicht, was sie zunächst tun sollten; einige legten sich mit gespitzten Ohren nicht weit von Buck hin, andere standen und beobachteten ihn scharf, während wieder andere zum Wasser hinuntergingen und tranken. Endlich kam ein Wolf näher. Es war ein alter, magerer, halb lahmer Geselle; er hob die Nase schnuppernd in die Luft und kam dann freundlich knurrend näher. Da erkannte Buck in ihm seinen wilden Bruder, mit dem er eine ganze Nacht und einen Tag durch die Wildnis gezogen war.

Dann trat ein alter, mit Narben bedeckter Wolf herzu, der anscheinend auch freundlich gesinnt war. Buck aber fletschte die Zähne und knurrte grimmig. Da setzte sich der Wolf, richtete die Nase empor zum Mond und stieß ein jämmerliches Geheul aus. Buck horchte auf. Das war der Ruf, jetzt erkannte er ihn genau, und eine unbestimmte Macht zwang ihn hervorzukommen, sich neben den Alten zu setzen und einzustimmen. Dann kam einer nach dem anderen heran, beschnupperte ihn und schloß sich dem Geheul an. Plötzlich aber sprang der alte Wolf auf und lief dem Walde zu, die anderen Wölfe folgten. An der Seite des wilden Bruders stürmte auch Buck laut bellend davon.

Es dauerte nicht lange, bis die Yeehats bemerkten, daß die Wölfe ihr Aussehen änderten. Einige hatten tiefbraune Flecken am Kopfe und ein weißes Mal vor der Brust. Und immer, wenn sie die Wölfe sahen, bemerkten sie an der Spitze des Rudels einen ungeheuer großen Wolf. Sie nannten ihn den Geisterwolf und fürchteten ihn mehr als alle anderen. Sie wußten wohl, daß er es war, der ihr Lager bestahl und ihre Fallen beraubte, aber er tat es mit solcher Schlauheit, daß sie ihm nichts anhaben konnten. Sie gaben es auch auf, sich gegen ihn zu wehren, denn er zerriß alle ihre Hunde und fürchtete selbst ihre tapfersten Krieger nicht. Es waren viele, die sie schon mit aufgerissenem Halse gefunden hatten, und stets waren Spuren in der Nähe, die größer waren, als die eines gewöhnlichen Wolfes.

Jedes Jahr bei Beginn des Winters, wenn die Elche in die wärmeren Gegenden ziehen, und die Yeehats ihnen folgen, dann vermeiden sie ein gewisses Tal. Viele Frauen verhüllen ihr Gesicht, wenn am Lagerfeuer davon gesprochen wird, was einstmals geschehen ist, als der böse Geist dort zum ersten Male gesehen wurde.

Dieses stille Tal aber hat einen Bewohner, und das ist ein großer Wolf mit seidenglänzendem, prächtigem Fell. Dort, wo aus verrotteten Säcken von Elchhaut ein glänzender gelber Strom zwischen den langen Grashalmen fließt, liegt er oft stundenlang und starrt still vor sich hin; manchmal geht er auch hinunter und sieht in das dunkle Wasser des stillen Sees, und ein Geheul, schrill und jämmerlich, erfüllt die Luft.

Er ist nicht immer hier. Wenn die Wölfe vor den langen Winternächten des Nordens fliehen und ihren Beutetieren zum Süden folgen, dann läuft Buck in langen Sätzen an der Spitze des Rudels und stimmt beim bleichen Scheine der Mitternachtssonne mit ein in den uralten Sang der Wölfe.

siehe Bildunterschrift

Albrecht Dürer, Hirsch.


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