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Rußland

Der Kuckuck

Kam aus der Ferne ein Kuckuck geflogen,
flog durch Berg und Hain;
war aus seinem Fittich eine Feder gefallen,
in die Donau hinein.

O, gleich der bunten verlornen Feder
die der Strom fortreißt –
schwebt mein Leben im fernen Lande
einsam, verwaist.

Floß mein Leben hin, wie auf der Welle
ein einsam Blatt ...
Fort! was wahr ich den Goldring,
den er uns gegeben hat ...

(Deutsch von Bodenstedt)

Das Insekt

Iwan Turgenjeff

Mir träumte, es säßen unser etwa zwanzig Personen in einem großen Saale mit offenen Fenstern.

Frauen, Kinder, Greise befanden sich darunter ... Die Unterhaltung drehte sich um irgendeinen alltäglichen Gegenstand und ging laut und wirr durcheinander.

Plötzlich schwirrte ein großes Insekt von etwa drei Zoll Länge mit einem harten Geräusch ins Zimmer ... schwirrte herein, flog ein paar Mal im Kreise herum und setzte sich an die Wand.

Es hatte Ähnlichkeit mit einer Fliege oder Wespe. Der Rumpf war schmutzig-braun; dieselbe Farbe hatten auch die flachen, rauhen Flügel, die gespreizten Füßchen waren federig, der Kopf groß und eckig, wie bei einer Libelle; und dieser Kopf und diese Füßchen waren hellrot, gleichsam blutig.

Dieses seltsame Insekt zappelte mit den Füßchen und drehte seinen Kopf unaufhörlich auf und ab, rechts und links. Dann riß es sich plötzlich von der Wand los, flog summend durchs Zimmer – und setzte sich wieder, indem es von neuem ohne sich von der Stelle zu rühren, seine widerlichen, peinlich berührenden Bewegungen machte.

In uns allen erregte es Abscheu und Furcht – ja fast Schrecken ... Niemand von uns hatte jemals etwas ähnliches gesehen, alle schrien: »Jagt das Ungetüm fort!« – alle schwenkten von weitem abwehrend ihre Taschentücher ... aber keiner wagte näher zu treten ... und wenn das Insekt aufflog, dann wichen alle unwillkürlich bei Seite.

Nur einer aus unserer Gesellschaft, ein junger Mann mit bleichem Antlitz, sah uns alle mit verwunderten Blicken an. Er zuckte die Achseln, lächelte und konnte durchaus nicht begreifen, was mit uns vorging und weshalb wir so aufgeregt waren. Er selbst sah kein Insekt, hörte nicht das widerliche Schwirren seiner Flügel.

Plötzlich schien das Insekt ihn starr anzublicken, flog auf, schmiegte sich fest an seinen Kopf und stach ihn oberhalb der Augen in die Stirn.

Der Jüngling ließ ein leises Stöhnen vernehmen – und fiel tot zu Boden.

Die unheimliche Fliege schwirrte sogleich von dannen ... Jetzt erst errieten wir, was für ein Gast das war.

 

Iwan Turgenjeff, Die Natur

Mir träumte, ich befände mich in einem großen unterirdischen Saal mit hohen Gewölben. Er war ganz erfüllt von einem gleichmäßigen, ebenfalls unterirdischen Licht.

Mitten im Saal saß eine majestätische Frauengestalt, angetan mit einem grünfarbigen, faltenreichen Gewande. Das Haupt auf die Hand gestützt, schien sie in tiefes Sinnen verloren.

Ich begriff sofort, daß diese Frau die – Natur war, und ehrfurchtsvolle Scheu durchdrang mich bis ins Innerste gleich einer plötzlichen Kälte.

Ich näherte mich dieser Frau, und nachdem ich mich tief verbeugt hatte, rief ich aus:

»O du unsre gemeinsame Mutter, an was denkst du? Sinnst du über die zukünftigen Schicksale der Menschheit nach? Oder darüber, wie sie zur höchsten Vollkommenheit gelangen, wie sie des größten Glücks teilhaftig werden könne?«

Langsam richtete die Frau ihre dunklen, drohenden Augen auf mich. Ihre Lippen bewegten sich – und ich vernahm eine durchdringende Stimme, wie das Dröhnen des Eisens.

»Ich sinne darüber nach, wie sich den Fußmuskeln des Flohs größere Kraft verleihen lasse, damit er sich leichter vor seinen Feinden retten könne. Das Gleichgewicht zwischen Angriff und Verteidigung ist gestört. Es muß wieder hergestellt werden.«

»Wie!« stammelte ich, »daran denkst du? Aber sind wir, die Menschen, denn nicht deine bevorzugten Kinder?«

Die Frau runzelte ein wenig die Brauen.

»Alle Geschöpfe sind meine Kinder,« sprach sie, »und ich sorge für sie alle in derselben Weise – und in derselben Weise werden alle von mir vernichtet.«

»Aber das Gute ... die Vernunft ... die Gerechtigkeit,« stammelte ich wieder.

»Das sind Menschenworte,« entgegnete die eiserne Stimme. »Ich kenne weder Gut noch Böse ... Eure Vernunft ist mir nicht Gesetz – und was ist Gerechtigkeit? ... Ich gab dir das Leben, ich werde es dir wieder nehmen und es andern geben: Würmern oder Menschen ... gleichviel wem ... Und du, wehre dich bis dahin und belästige mich nicht!«

Ich wollte noch etwas erwidern ... doch rings um mich her begann die Erde dumpf zu stöhnen und zu beben – und ich erwachte.

Die Wölfe

A. K. Tolstoi

Wenn das Kirchdorf entschlummert
und kein Lied mehr erklingt,
wenn ein graulicher Nebel
ob den Sümpfen erblinkt –
dann verlassen die Wälder
und durchstreifen die Felder
fraßbegierig neun heulende Wölfe.

Auf den ersten, den grauen,
struppen Haars, folgen flugs
sieben nachtschwarze Wölfe;
als Beschließer des Zugs
keucht der neunte, der rote.
Mit bluttriefender Pfote
lahmt er nach seinen grauen Gefährten.

Nichts erschreckt und verscheucht sie.
Wenn durchs Kirchdorf sie gehn,
bellt kein Hund und der Bauer
bleibt entsetzenbleich stehn.
nicht ein Glied kann er rühren,
kann den Atem nicht führen –
nur ein Angstgebet stammelt die Lippe.

Sie umschleichen die Kirche
und betreten gemach
das Gehöfte des Priesters;
dann enthuschen sie jach
zu der Schenke und lauern,
ob sie drin von den Bauern
keine sündigen Reden erlauschen.

Mußt mit Kugeln, mit dreizehn,
dein Gewaffen versehn
und mit Ziegenhaarpfropfen,
willst den Kampf bestehn.
Feure ruhig: vor allen
wird der graue Wolf fallen,
und dann stürzen die andern von selber.

Kräht der Hahn dann den Dörfler
aus dem Morgenschlaf wach –
siehst du liegen die Leichen
von neun Weibern am Bach:
Rechts die eine, die graue,
links die lahme im Taue,
alle blutig – Gott gnade uns Sündern!

(Deutsch von Fr. Fiedler)

Die Krähe

Fjodor Sollogub

Eine Krähe fliegt. Sie erblickt einen Bauern und fragt ihn:

– Bauer, du Bauer?

– Was willst du? – fragt der Bauer.

– Kannst du uns Krähen zählen?

– Ach, du Schelmin, was ist das für ein Wunsch, – flieg fort, sonst könnte es dir schlecht ergehen.

Die Krähe fliegt fort, begegnet einem Kaufmann und fragt den:

– Du, Kaufmann, kannst du uns Krähen zählen?

Aber der Kaufmann antwortet:

– Mit solchen Kleinigkeiten geben wir uns nicht ab, unsere Sache ist der Handel.

Die Krähe fliegt weiter, begegnet einem Schüler, und wohl dem allerkleinsten aus der ganzen Schule, und sie fragt ihn:

– Du, Schüler, kannst du uns Krähen zählen?

Er aber antwortet:

– Ich kann alles zählen, ich verstehe bis zu einer Million zu zählen und sogar noch weiter. Ich habe mein Rechenbuch gut im Kopfe.

Aber die Krähe entgegnet ihm:

– Und doch wirst du die Krähen nicht zählen können.

– Nein, ich werde sie wohl zählen können, sagt der Schüler. Und begann zu zählen:

– Eins, zwei, drei ...

Aber da fliegt ihm die Krähe auch schon in den offenen Mund und beißt ihn in die Zunge.

Der Schüler weint und spricht:

– Hinfort werde ich euch Krähen niemals mehr zählen, denn da ihr beißt, so sollt ihr ungezählt weiter leben.

Leinwandmesser's Tod

Leo Tolstoi

Wenn Leinwandmesser in dieser Nacht wieder seinen Erinnerungen nachhängen wollte, so riß ihn Waska aus solchen Gedanken heraus. Er warf ihm eine Decke über und sprengte auf ihm davon. Bis zum Morgen ließ er ihn vor der Tür der Schenke neben einem Bauernpferde stehen. Sie beleckten sich gegenseitig. Am Morgen kam Leinwandmesser wieder zur Herde und kratzte sich unaufhörlich.

»Da juckt es mich ja ganz nichtswürdig,« dachte er.

So vergingen fünf Tage. Der Roßarzt wurde gerufen. Der sagte höchst vergnügt:

»Das ist Räude. Verkaufen Sie ihn an die Zigeuner.«

»Wozu? Dann mag er lieber abgestochen werden, aber schnell, damit er einem bald aus den Augen kommt.«

Es war ein stiller, klarer Morgen. Die Herde war auf das Feld gegangen; Leinwandmesser war zu Hause geblieben. Da kam ein sonderbarer, hagerer, schwarzhaariger, schmutziger Mann, dessen Rock ganz mit etwas Schwarzem bespritzt war. Das war der Abdecker. Er ergriff, ohne den Schecken anzusehen, den Riemen des Halfters, das man ihm angelegt hatte, und führte ihn weg. Leinwandmesser ging ruhig mit, ohne sich umzusehen; wie immer schleppte er die Beine nur mühsam weiter und verwickelte sich mit den Hinterfüßen im Stroh.

Als er aus dem Tor herauskam, streckte er den Hals nach dem Brunnen hin; aber der Abdecker zog ihn fort und sagte: »Das hat keinen Zweck.«

Der Abdecker und Waska, der ihm folgte, gingen nach einer kleinen Talmulde hinter dem Ziegelschuppen und machten da halt, als ob an diesem ganz gewöhnlichen Orte etwas Besonderes wäre. Der Abdecker übergab Waska das Halfter, zog sich den Rock aus, streifte die Hemdsärmel auf und holte aus dem Stiefelschaft ein Messer und einen Schleifstein hervor. Der Wallach reckte den Kopf nach dem Riemen hin; er wollte aus Langerweile daran kauen; aber er konnte ihn nicht erreichen. Er seufzte und schloß die Augen. Seine Unterlippe hing herab, so daß die abgenutzten gelben Zähne sichtbar wurden, und er schlummerte bei dem Geräusche des Messerwetzens ein. Nur das kranke Bein mit der Beule, das er seitwärts herausgestellt hatte, zuckte mitunter. Plötzlich fühlte er, daß ihn jemand unter den Unterkiefer faßte und ihm den Kopf in die Höhe hob. Er öffnete die Augen. Vor ihm befanden sich zwei Hunde. Der eine schnupperte nach dem Abdecker hin; der andere saß da und blickte den Wallach an, als ob er gerade von diesem etwas erwartete. Der Wallach sah sie an und rieb sich mit dem Backenknochen an der Hand, die ihn hielt.

»Sie wollen mich gewiß wieder kurieren,« dachte er. »Nun, meinetwegen!« Und wirklich fühlte er, daß etwas mit seiner Kehle vorgenommen wurde. Er empfand einen Schmerz, zuckte zusammen, schlenkerte mit einem Beine; aber er hielt sich aufrecht und wartete, was nun weiter kommen werde. Was weiter kam, war, daß ihm etwas Flüssiges in großem Strome über den Hals und die Brust lief. Er seufzte so tief, daß sich sein ganzer Leib bewegte. Und es wurde ihm leichter, weit leichter.

Der ganze schwere Druck des Lebens war von ihm genommen!

Er schloß die Augen und neigte den Kopf, – niemand hielt ihn ihm fest. Dann begannen seine Beine zu zittern, der ganze Körper zu schwanken. Er war darüber nicht sowohl erschrocken, als vielmehr verwundert ...

Alles war ihm so neu. Er wunderte sich und machte eine krampfhafte Bewegung nach vorn, nach oben ... Aber vergebens; die Beine verschoben sich zwar von ihrer Stelle, versagten aber dann den Dienst; er neigte sich zur Seite; und als er die Füße anders zu setzen versuchte, fiel er nach vorn und auf die linke Seite nieder.

Der Abdecker wartete, bis die Zuckungen aufgehört hatten, und jagte die Hunde weg, die näher herangerückt waren. Dann ergriff er den Wallach an den Beinen, drehte ihn auf den Rücken, befahl Waska, das eine Bein festzuhalten, und machte sich daran, das Fell abzuziehen.

»Es war ein ganz brauchbares Pferd,« bemerkte Waska.

»Wenn das Tier nur nicht so abgemagert wäre, dann wäre das Fell ganz gut,« sagte der Abdecker.

Die Herde kam am Abend auf der Anhöhe vorüber, und diejenigen Tiere, die am linken Rande der Herde gingen, sahen unten etwas Rotes, womit sich die Hunde eifrig zu schaffen machten; darüber flogen Krähen und Geier. Der eine Hund hatte die Vorderbeine gegen den Kadaver gestemmt und riß, mit dem Kopfe hin und her schlagend, das, was er gepackt hatte, mit hörbarem Geräusche ab. Die braune Stute blieb stehen, streckte den Kopf und den Hals aus und zog lange die Luft ein. Nur mit Mühe konnte sie weitergetrieben werden.

In dem alten Walde, unten in einer dicht mit Gestrüpp bewachsenen Schlucht, heulten zur Zeit des Frührotes auf einer kleinen freien Stelle vergnügt etliche großköpfige junge Wölfe. Es waren ihrer fünf: vier fast gleich große und ein kleiner, bei dem der Kopf größer war als der Rumpf. Eine magere im Haaren begriffene Wölfin, die ihren vollen Bauch mit den herabhängenden Zitzen an der Erde hinschleppte, kam aus dem Gebüsch heraus und setzte sich den jungen Wölfen gegenüber hin. Diese standen im Halbkreise vor ihr. Sie trat zu dem kleinsten, ließ den Schwanz tief hinunterhängen, beugte die Schnauze hinab, und indem sie dann einige krampfhafte Bewegungen machte und den mit spitzen Zähnen besetzten Rachen öffnete, warf sie mit starker Anstrengung ein großes Stück Pferdefleisch aus. Die größeren Wölfchen drängten sich an sie heran; aber sie wandte sich drohend gegen sie und ließ alles dem kleinsten zukommen. Dieser zog, wie in Wut, knurrend das Fleischstück unter sich herunter und begann zu fressen. Ebenso spie die Wölfin auch dem zweiten, dem dritten und allen fünfen Fleisch hin und streckte sich dann ihnen gegenüber auf die Erde, um sich zu erholen.

Eine Woche darauf lagen bei dem Ziegelschuppen nur noch der große Schädel und zwei Schenkelknochen; alles übrige war hierhin und dorthin verschleppt. Im Sommer nahm ein Bauer, welcher Knochen sammelte, auch diese Schenkelknochen und den Schädel mit fort und verkaufte sie.


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