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3. Volk und Staat

Haben wir einmal so den Blick gewonnen für den letzten Zweck aller dieser Arbeit, die ihre Organisation in den Berufen hat, dann erschließt sich uns das Wesen des gewaltigen Organismus, zu dem sich alle diese Berufe, alle menschliche Arbeit zusammenballen. In ihm werden die Menschen zu kleinen Gliedern eines großen Lebendigen: des Volkes. Die gesamte menschliche Arbeit zusammengefaßt, das ist nicht nur eine gewaltige Nebeneinanderstellung der verschiedenen Berufe, es ist ein gewaltiges Ineinandergreifen der verschiedenen Berufe, in dem jeder vom anderen abhängig ist, keiner sich – nicht nur wirtschaftlich – unabhängig erhalten kann. Von einem Künstler ist dies wirtschaftliche Ineinander in Naumanns Neudeutscher Wirtschaftspolitik geschildert – nur ein Künstler schaut den lebendigen Organismus und kann ihn darstellen. Aber die ganze menschliche Arbeit zusammengefaßt ist nicht nur eine äußere wirtschaftliche, sondern auch eine innere Einheit des Gewaltigen, das zur Arbeit treibt, des Schaffenden, das sie beherrschend gestaltet, die innere Einheit dessen, was all die vielen Millionen als ihre Eigenart empfinden, der sie eben ein Wirken in der Welt schaffen wollen, was sie als den Wert auch in anderen empfinden, für den sie arbeiten, den sie zu verletzen scheuen, mit dem sie innere Gemeinschaft haben wollen.

Aber wo steckt diese innere beherrschende Eigenart eines Volkes? Sie steckt in seinem rechtlichen und religiösen, sittlichen und ästhetischen Empfinden. Überall im Arbeitsleben sind sie vorhanden, wie im Körper das Leben, und sie sind die Kraft, die ihm seine Gestalt, Organisation, seine Willensimpulse und Bewegung geben. So durchzieht das Rechtsempfinden eines Volkes sein gesamtes Arbeitsleben als gestaltende Kraft. Wie der einzelne seine Arbeit regelt, wie er sich zu Mitarbeitern und Konkurrenten, wie zu der Berufsgemeinschaft stellt, in die er gehört, wie er sich überhaupt auf Schritt und Tritt benimmt, das wird geregelt durch sein Rechtsbewußtsein. Es formt sich ihm aber beim Mitleben in dieser rechtlich geregelten und empfindenden Gemeinschaft, ist also das ihrige, nur stärker oder schwächer bei ihm ausgebildet. Wie sich dann die großen Geschäfte und Unternehmungen ihre Ordnungen, wie sich die ganze Gemeinschaft ihre Gesetzgebung schafft, ist immer wieder bedingt durch dies einheitliche Rechtsempfinden. So begreifen wir denn auch die Tatsache, daß das alles, oft in ganz unmerklicher Entwicklung, in jedem Volke eine völlige andere Gestalt erhält. Und wenn ein Volk wirtschaftliche Fortschritte, Neuordnung der Verhältnisse, ja neue Formen des Zusammenarbeitens infolge von Anregungen eines anderen Volkes übernimmt, es bildet sie doch zu anderen rechtlichen Gestaltungen um, die in seinen rechtlichen Organismus passen und seinem Rechtsempfinden entsprechen. Und wie in der Ordnung seines gesamten äußeren Lebens das Rechtsempfinden in allem wirksam ist, so sein religiöses für die seines inneren: Staat und Kirche sind darum die beiden letzten Wurzeln des Gesamtlebens eines Volkes. Mit ihnen steht darum auch jedes einzelne Blatt am großen Baum in lebendigem Zusammenhang.

In ein solches Volk wird jeder einzelne hineingeboren, vom ersten Tage seines Lebens an steht jedes neue Individuum unter dem Einfluß dieser Geistesart und von Menschen dieser Geistesart. Sein Gemüt entwickelt sich also ganz unbewußt schon in dieser Richtung, nimmt diese Wertgefühle auf, fühlt sich in dieser Art wohl, kann sie später nicht mehr entbehren. So ist es ein doppeltes Band, das uns mit unserem Volk zusammenschließt. Es ist die geistige Gemeinschaft, die von den Menschen geschaffen ist, deren geistige und körperliche Eigenart uns anhaftet, weil wir ihre Kinder sind. Sie ist die Gemeinschaft, in die wir von Jugend auf durch die stärksten Einflüsse hineinerzogen werden. Aus alledem ergibt sich – was denn auch die Tatsachen beweisen –, daß ein Mensch in seinem Volke die beste Art der Betätigung finden wird. Deshalb muß auch das Streben des einzelnen sein, die Gemeinschaft mit seinem Volke aufrechtzuerhalten – nur dann wird er auch in seinem Berufe erfolgreich wirken können, weil er nur dann recht in dessen Wesen einzudringen vermag, das auch von jenem Gesamtempfinden des Volkes gestaltet ist.

Der Staat sucht dieses Einleben dem einzelnen nach Kräften zu erleichtern. Denn der Staat bedarf auch seinerseits jedes einzelnen und des Mitwirkens eines jeden einzelnen, um seine Aufgabe zu erfüllen. Darum muß der Staat im eigenen und im Interesse aller seine Glieder ausrüsten zum wirtschaftlichen und geistigen Kampfe, den er zum Wohle des Ganzen von ihnen fordert. Diese Aufgabe erfüllt er mit der Schule. Sie stellt darum gewissermaßen das Barometer dar für die Auffassung, die der Staat, die Volksgemeinschaft selbst von ihren Aufgaben hat. Mit der Schule sucht der Staat den jungen Menschen, der in ein riesenhaftes verwickeltes Volks- und Wirtschaftsleben eintritt, auf die geistige Höhe zu heben, auf der er dies alles überschauen kann. Er rüstet ihn mit den Kenntnissen aus, die dazu notwendig sind. Er übt seine geistigen Fähigkeiten, damit ihm das selbständige verarbeiten vor Erfahrungen im späteren Leben möglich ist. Er führt ihn ein in die geistigen Güter dieses Volkes, damit er dessen innere Größe und Eigenart verstehen, lieben lernt, um dann selbst an deren Erhaltung mitarbeiten, in deren Sinne auch seine Arbeit gestalten zu können.

Und nun gilt es für den einzelnen die Gemeinschaft mii seinem Volke aufrechtzuerhalten; das aber geschieht am besten, indem man sich immer tiefer in sein innerstes Empfinden hineinzuleben, dauernd mit ihm zu leben sucht.

Wer geistig von seinem Volke getrennt wird, der wird in der Regel verkümmern. Geistige Trennung entsteht aus zwei Tatsachen: sie ist entweder Verbitterung gegen die herrschende Volksart. Weil man in vielen Stücken über das Bestehende hinaus möchte, übersieht man die Ähnlichkeit, den Boden, den man in ihr hat, träumt sich entweder eine Zukunft zurecht, in der alles edel ist, oder träumt vom fremden Volkstum als dem Besseren. Das erste ist der Fehler der Menschen, die noch nicht erkannt haben, daß wir unser Volkstum in seiner Eigenart weiterbilden müssen, damit es wahr und stark bleibt, nicht wünschen können, daß alles nach uns schon gestaltet sei. Dann wären wir ja umsonst auf der Welt. Beim zweiten ist dieser Irrtum verknüpft mit der Unkenntnis anderer Völker. Man beurteilt deren Institutionen von der eigenen Eigenart aus, legt sie sich zurecht nach Kenntnissen aus Büchern, ohne doch ihre praktischen Wirkungen im Lande selbst beobachtet zu haben, Da man so das Ungünstige, das immer dabei ist, nicht sieht, erscheint alles idealer als die Zustände, unter denen man sich quält. Daraus entsteht in Deutschland besonders, wo man so viel papierne Kenntnis anderer Völker und Sprachen hat, das Schielen nach Fremdem zum Schaden des Einheimischen.

Eine dritte, die häufigste, Scheidung vom Volkstum ist die durch Trägheit vollzogene. Man ist zu faul, sich in das geistige und praktische Leben des eigenen Volkes einzuleben. Man läßt sich bestenfalls schieben, soweit man muß, lebt aber nicht froh und stark mit. Eine bestimmte Art dieser Trägheit ist der Chauvinismus. Er ist Faulheit, verbunden mit einer gewaltigen Selbsttäuschung. Man behauptet vor sich und anderen, die Arbeit getan, sein Volk und seine Eigenart verstanden zu haben. Nun jubelt man jedem Worte und Gedanken, jedem klugen Menschen zu, der von der Größe dieses Volkes, seiner Vergangenheit zu reden weiß, der uns seinen Vorteil als das dieser Eigenart und Größe gerade Entsprechende hinzustellen weiß – aber Kritik haben wir nicht mehr. Da diesem Chauvinismus das Volkstum etwas äußerlich Gekennzeichnetes, kein Leben ist, verschmäht er auch den Fortschritt und verschmäht die echte, lernende Auseinandersetzung mit dem Auslande. So sehr wir ein blindes Anbeten des Fremden ablehnen müssen, so sehr sollen wir unser Volk unbefangen mit dem fremden vergleichen. Dadurch verstehen wir es in seiner Eigenart besser und werden zur Weiterentwicklung angeregt. Der Chauvinist kennt dies Lernen nicht. Ihm ist das fremde Volk nur ein Gegenstand des äußeren Kampfes. Es muß niedergerungen werden. Ihm fehlt deshalb auch der sittliche Maßstab für die Taten des eigenen Volkes. Was seine äußere Größe zu fördern scheint, ist ihm recht, auch wenn es Taten sind, die nach innen das Rechtsempfinden und die sittlichen Werte zerstören. Englands Verhalten gegen uns kann als warnendes Beispiel dienen. Chauvinismus und Gewaltpolitik, Chauvinismus und Blindheit gegen das sittlich Faule, das am Marke des Volkes frißt, Chauvinismus und rücksichtsloser Kampf gegen das fortschreitende Leben des eigenen Volkes, wie oft sind sie zusammen!

Patriotismus deshalb, Liebe zu dem, was wir als wirkliche geistige Eigenart unseres Volkes an seinen Großen und im Edlen seines geistigen Lebens gespürt haben – aber kein Chauvinismus! Freilich Patriotismus erfordert Arbeit und ist eine Kraft sittlicher Selbstzucht für das ganze Volk. Chauvinismus ist viel bequemer für Herrschende und Beherrschte. Aber nicht das Bequeme, sondern das Starke hat die Zukunft. Der Chauvinist kennt gar nicht das geistige Leben und die geistigen Güter seines Volkes, bemüht sich nicht, sie kennen zu lernen, kann also auch im Sinne dieser Volksart nicht weiterarbeiten. Gerade unsere Zeit hat eine erschreckend oberflächliche Kenntnis von allem, was in unserem Volke groß war und ist, von seiner Kunst, Literatur, Frömmigkeit, seinen großen Männern, seiner Entwicklung. Das alles müssen wir uns aneignen, um lebendige Glieder darin sein zu können, und werden es nicht ohne eigene innere Bereicherung tun. Wer diese geistige Eigenart kennt, dem geht es im Volkstum wie dem beherrschenden Geiste im einzelnen Berufe. Er sieht die Wege der Zukunft. Er kann weiterarbeiten, und hat Erfolg damit, weil er den Weg geht, den dies Volk braucht, dem seine besten Instinkte zustreben. Er schafft und lebt und ist reich und wird reicher, weil alles in ihm ein Zusammenleben mit dieser gewaltigen Organisation und keine Vereinzelung ist. Zusammenleben mit dem Strome der Entwicklung, der aus der Vergangenheit zur Zukunft fließt, das ist geistiges Leben, Abgetrenntheit davon der Tod.

Wollen wir aber mit unserem Volke so leben, so müssen wir uns vor allem um seinen Staat und seine Kirche kümmern, in denen sein rechtliches und sein religiöses Empfinden ihren lebendigsten Ausdruck finden. Ein nie ruhendes, stetig fortschreitendes Leben ist die Arbeit eines Volkes, ein Lebensstrom, dessen Ufer die überlieferten Gestaltungen des gesamten äußeren Lebens bilden, dessen forttreibende Wassermassen die ererbten eigenartigen Anlagen im Geistesleben aller seiner Glieder sind. Arbeiten ist Leben, ist Werden. Wo ein Mensch mit seinen geistigen Fähigkeiten wirkt, entstehen neue Gestaltungen im Erwerbsleben, in Kunst und Wissenschaft, in Frömmigkeit. Zuzeiten wächst das Neue langsam und bedächtig, zuzeiten brechen im Gefolge von Erfindungen und Entdeckungen neue Gestaltungen wie wilde Überschwemmungen herein und drohen die Dämme zu zerreißen. Neue Erfindungen sind Werkzeuge in der Hand der Starken, Unabhängigen, geben diesen plötzlich ein Übergewicht über die, welche in ruhigen Zeiten durch die Mittel der Sitte, der Gewohnheit alles beherrschen. Manchmal auch treten Hemmungen des Lebens ein, die die Wasser stauen. Denn wenn die Kräfte der Menschen sich in eigenartigem Schaffen nicht mehr rühren können, das ist, wie wenn die Wassermassen an den Dämmen bohren und sich neue Wege suchen. Die Gefahr scheint groß, wenn man in die kochenden Wassermassen sieht. Sie ist es nicht, solange noch an den Dämmen das stille, starke Bauen weitergeht, gewaltig genug, einmal den Strom zu dämmen, einmal nach neuen Bedürfnissen ihn zu dem neuen Bette hinüberzuleiten, einmal auch weit und breit, einmal schmal und tief ihn zu fassen. Erst wo das Bauen an den Dämmen aufhört, wo man sie zerfallen läßt oder nur daran denkt, sie in alter Gestalt zu erhalten, während doch der Strom nach anderer Richtung drängt, entstehen die unsagbar schrecklichen Katastrophen des Völkerlebens. Dies stille, starke Bauen ist der Staat. Machen wir uns diese seine gewaltige Aufgabe klar, dem flutenden Strome des Volkslebens Damm und Halt zu sein, dann verstehen wir sofort, daß nicht die ausrechnende Kunst und Klugheit einzelner, sondern das heiße instinktive Bedürfnis aller das Schaffende darin sein muß. Gibt man diesem instinktiven Bedürfnis Raum und Recht, dann erheben sich die einzelnen, die es zu klarem Gedanken und starker Tat machen und so das Leben in die Form fassen können, die es braucht, die Staatsmänner. Je größer die Völker, je umfassender ihr geistiges Leben wurde, desto notwendiger wurde dies Mitschaffen aller, dies Ringen vieler durch das ganze Volk hin, dem neuen Bedürfnis Ausdruck zu verschaffen. Die Möglichkeit dazu hat man im parlamentarischen Leben geschaffen. Ohne seine richtungbestimmende Kraft könnte heute keine Regierung mehr ihr Volk zur Zukunft leiten. Deshalb ist der Gegensatz zwischen Parlamentarismus und Regierung der eines kurzsichtigen Machtegoismus, nicht wahren Tatsachengefühls. Der Parlamentarismus aber kann das, worin hiernach seine Aufgabe besteht, nur leisten, wenn er möglichst tief aus dem gesamten Volke aufsteigt. Darum muß jeder, der dem Volke als Sprecher willkommen sein soll, tief die Gesamtbedürfnisse erfassen, eindringlich allen sie klar machen können, deutlich sie nach oben zum Ausdruck zu bringen vermögen. Wer das kann, hat im Parlamentarismus die Zukunft. Der soll sie haben, denn er ist Segen für das Volk. Jede Hemmung parlamentarischer Volksbetätigung hemmt die Entfaltung dieser Kräfte, macht sie also unwirksam zu ihrer eigentlichen Aufgabe. Dann kann es kommen, daß die Wasser schon lange die Dämme unterwühlt hatten und das Bauen unterblieben ist, man hat noch gar nicht gefühlt, daß ein Neues werden will – und eines Tages werden sie fessellos übers Land fluten, ihre edlen Kräfte werden sich zerlaufen. Ob sie je wieder zum einheitlichen, starken Strom sich sammeln werden?

Aber wo im Volke das Gefühl für das Drängen des Stromes nach einer bestimmten Richtung ist, da wird man bauen wollen und können, seinen Lauf zu regeln und seine Kraft zusammenzuhalten, ohne ihn zu hemmen – denn gehemmt wirkt seine Macht zerstörend. Dies Bauen vollzieht sich in dem beständigen Neuordnen der rechtlichen Verhältnisse. Mit jeder Veränderung des Wirtschaftslebens wird ja das alte Recht zum Unrecht an bestimmten Gliedern des Volkes. Das alte Dienstboten- und Gesellenrecht, das die Bediensteten als Glieder des Hauses ansieht und sie der patriarchalischen Gewalt des Hausvaters unterstellt, ist ein Unrecht in der Zeit, da selbständige Menschen für andere arbeiten, die persönlich gar keine Berührung mit ihnen haben, da der Verkauf der Arbeitskraft zum riesigen Massengeschäft geworden ist und Millionen sich nie daraus erheben, also darin selbständige Menschen sein müssen, wenn sie es überhaupt sein wollen. Neues Recht bildet sich hier durch das Arbeiten der Millionen, die hüben und drüben organisiert sind, um sich durch gemeinsame Kraft im Kampfe der Zeit aufrechtzuerhalten. Neues Recht bildet sich im Kampfe der Frauen um Einfluß und Arbeit, bildet sich für Ehe und Familie, auf allen Gebieten des Lebens.

Aber das neue Recht kann durch keinen der Kämpfenden geschaffen werden. Das ist die Arbeit des Staates. Er wägt ab, was von den Forderungen der einen gegenüber den anderen Recht ist und Recht werden kann, was der Gemeinschaft dienen würde, was ihr schädlich ist, und baut darauf seine Vorschläge für die Gesetzgebung auf. Den Boden für die Auseinandersetzung der verschiedenen Strömungen bildet wieder die »Volksvertretung« – und auch dieser Aufgabe kann sie nur genügen, wenn sie in möglichst gleichmäßiger Weise die einzelnen Stände und Klassen in sich vereinigt. Was Regierung und Volksvertretung dann gemeinsam als das den Interessen der Gemeinschaft Dienliche gefunden, das sucht dann der Staat weiter durch die stillen Maßregeln der Verwaltung und durch die Arbeit der Rechtsprechung zur Geltung zu bringen, zu lebendiger Wirkung werden zu lassen.

Da nun jede Veränderung des Rechtes eine Veränderung im Rechtsempfinden selbst voraussetzt, so findet sie oft Widerstände da, wo das neue Rechtsempfinden noch nicht fertig gebildet ist. Das gilt in den sozialen Verhältnissen unserer Zeit für einen großen Teil der Beamten und der Vertreter der alten Stände. Ebenso herrscht oft noch eine veraltete Vorstellung von dem, was der Gemeinschaft nützlich ist. So muß heute unter schweren Kämpfen die Erkenntnis verbreitet werden, daß die Gesundheit und die Macht unseres Volkes durch Besserstellung seiner untersten Stände, vor allem durch deren höhere Bildung erreicht werden muß. Darum muß für den Beamten des Staates wie für die Vertreter der einzelnen Stände gefordert werden, daß sie eine klare, beherrschende Kenntnis der wirtschaftlichen, sozialen, rechtlichen Tatsachen haben, die Veränderungen und neu aufkommenden Strömungen auf allen Gebieten des Lebens aufmerksam verfolgen. Dazu gehört ein feines Empfinden für die Eigenart seines Volkes, für seine geistigen Güter. Dies kann er nur haben, wenn er sich mit dem geistigen Leben seines Volkes beschäftigt hat. Dies erst gibt sichere Haltung im Fortschritt, während die handwerksmäßige Sachkenntnis nur getreues Weitermachen im alten Geleise ermöglicht. Dies schafft Menschen, die mit jedem Manne ihres Volkes in seiner Arbeit und ihren Bedürfnissen mitempfinden, zugleich das Beste und Edelste im Volksleben herauszufühlen und mitten im forteilenden Strom des wirtschaftlichen Lebens festzuhalten wissen, während sie zugleich die äußere Form für das neue Leben umschaffen.

So ist und bleibt der Staat das starke Gerüst des Volkslebens nach innen. Aber eben weil er dies Gerüst ist, ist er auch die formgebende und aufrechterhaltende Gewalt nach außen. Es liegt in jedem Volksleben eine sich ausdehnende, im modernen Wirtschaftsleben, in dem unser Volksleben heute gipfelt, eine weltbeherrschende Tendenz, die nur begrenzt wird durch gleichstarkes Wirtschaftsleben anderer Völker.

Deshalb ist es auch unmöglich, die Arbeit der gesamten, weiten Menschheit so einfach auf den Wunsch der Menschen hin zu einer Einheit zusammenzufügen. Alle wirtschaftlichen Bedingungen ließen sich noch verstandesmäßig erfassen und regeln. Aber diese innere Einheit im Triebe zur Arbeit, in der Gestaltung der Arbeit nach ihrem höchsten Zweck läßt sich nicht verstandesmäßig herstellen. Sie wird durch die innere Kraft eines jeden Volkes langsam gebildet. Zwei wirtschaftliche Betriebe, geschaffen von zwei starken, eigenartigen Menschen, lassen sich nicht einfach zusammenlegen. Sie müssen von einer starken organisatorischen Kraft vereinigt werden. Eine stärkere Eigenart muß das Wirken beider bewältigen und ineinanderfügen. So ist es auch mit den Völkern. Sie sind Arbeitsgemeinschaften, in denen die Arbeit von bestimmter geistiger Eigenart getrieben, beherrscht, gestaltet wird. Aber der Mensch oder die Menschen, die auch nur zwei dieser gewaltigen Völker in ihrer inneren Eigenart umfassen und dann dieses innere Zusammenbilden vornehmen können, sind unter den heutigen Verhältnissen noch nicht möglich. Zu fern stehen sich die Völker einander in Sinnen, Denken und Fühlen, in wirtschaftlichen Verhältnissen und rechtlicher Gestaltung. Langsam müssen sie durch ihre Tätigkeit der Zeit zureifen, wo das Zusammenarbeiten möglich ist. Heute stehen wir noch in der Zeit des Kampfes. Ihn nicht führen wollen, heißt das Leben unserer Volkswirtschaft gefährden – denn Leben ist Wachstum, und das unseres Volkes ein riesenhaftes. Wollen wir dieser ungeheuren Lebenskraft uns freuen und sie nicht langsam erlahmen lassen, so müssen wir stark sein zur steten Ausdehnung unseres Wirtschaftslebens; neue Märkte, neue Absatzgebiete, immer ausgedehnteren Handel, immer gewaltigere Arbeit für andere Völker brauchen wir, um leben zu können. Was wir brauchen, müssen wir uns durch die Höhe unserer Leistungen, nötigenfalls aber auch gegen Gewalt durch Gewalt schützen können. Ein Staat, der das nicht mehr will, ist ein Verräter an der Kraft seines Volkes.

All dies, was hier über die Bedeutung des Staates für den einzelnen, seine Stellung nach innen und nach außen gesagt ist, das hat seine Bestätigung empfangen im Weltkrieg, im Deutschen Krieg.

Mit selbstverständlicher Festigkeit und heiliger Größe brach die Liebe zu Volk und Staat aus den Herzen der Menschen hervor – ich möchte sagen, die große, heiße Leidenschaft für Volk und Staat, die in den Tod stürmt, diese beiden zu retten. Das aber heißt: Stärker als Eigenliebe und Todesangst erwies sich die Liebe des Menschen zur Gerechtigkeit. Lebendig wurde der Staat empfunden als die Summe von Lebensformen und Gemeinschaftsgesetzen, herausgeschaffen aus dem Gefühl unserer Vorfahren für das, was ein Mensch dem andern, jeder der Gemeinschaft, die Gemeinschaft dem einzelnen schuldig sind. Sie fühlten wir als unseres Lebens Grundlage. Wir leben aus demselben Wesen, aus dem die Vorfahren schufen. Die Formen und Gesetze bilden wir weiter, wie der Wandel der Verhältnisse Änderungen erheischt, die wachsende Bildung und Tiefe des Empfindens sie veredelt wünscht – aber es ist immer ein Wachsen in demselben Geiste, es ist unsere deutsche Gerechtigkeit, deren Wesen in diesem Staate verkörpert ist und wachsend, arbeitend sich immer besser verkörpert. Ohne diese unsere deutsche Gerechtigkeit und ihre wachsende Herrschaft über unsere Gemeinschaft wollen und können wir nicht leben.

In Zeiten, wo die Herrschaft dieser Gerechtigkeit gesichert scheint, erlauben sich die Menschen wohl auch ihr ein Schnippchen zu schlagen ihres eigenen Vorteils, ihrer eigenen Bequemlichkeit willen. Es sind so viele, die nicht klar und wahr genug sind, zu fühlen, wie sie dadurch das Herrschen und Weiterbilden des Besten in unserm Lebensglück hemmen, der freien, starken Gemeinschaft deutscher Menschen. Nun aber, da sie bedroht war, da die Frage, da die Möglichkeit vor uns hintrat, daß wir wieder nach der Gerechtigkeit anderer Völker würden leben müssen, da wußte und fühlte es jeder: lieber sterben als dies erleiden! – Das ist eben doch die tiefe, gewaltige Leidenschaft des Edlen in der Menschennatur, daß der Mensch nach seiner eigenen Gerechtigkeit leben und Leben gestalten will und muß. Jenes Wesen, das unsere Sprache durchflutet und zum Einheitsbande der Deutschen macht, jenes Wesen, das in Luthers Frömmigkeit, Kants und Fichtes Denken, Goethes Singen und Lebensgestalten waltet, es durchdringt auch die mächtige Gestaltung dieses Staates, und deshalb ist er die Heimat unserer Seele, das Vaterland, die Stätte unserer frohen gemeinschaftlichen Arbeit und unserer deutschen Weltbezwingung im wirtschaftlichen Leben und Fortschreiten. Auf deutsche Weise haben wir hier die Wildheit und Roheit, den Eigennutz, aber auch die arme Lebensnot der Unkultur gebannt und uns eine reiche, wunderbar reiche und edle Gestaltung des Gemeinschaftslebens geschaffen.

Sollte es wieder so werden, daß der Deutsche als ein einsamer Träumer bei armseliger Arbeit sitzt und draußen im Leben keine Gestaltung seiner Träume findet, draußen im Leben nur Armseligkeit, Fremdheit und Erdrücktsein von gewandter, fremder, gestaltungskräftiger Eigenart hat? Nein, deutsches Wesen soll auch seine Weltgestaltung haben und deutsche Menschen leben können, wie ihre eigene Seele sich die Lebensgestaltung träumt. So viel tiefer und reiner, so viel herzlicher und so viel mehr gefüllt mit Gewissenhaftigkeit und Pflichtgefühl träumt sich die deutsche Seele die Gestaltung der Gemeinschaft, als andere Völker es tun. Da fühlen wir – je mehr es uns gelingt, einen Staatsbau zu errichten, den unsere Gerechtigkeit gestaltet, desto mehr werden wir ein Beispiel geben, das allen Völkern einen Weg zu erhöhtem Menschendasein zeigt. Auch für die andern lassen wir uns nicht rauben, was deutsches Wesen nun nach langem, heißem Mühen und Kämpfen sich gestaltet hat – noch nicht vollkommen, auch für unser eigenes Gerechtigkeitsempfinden und Sehnen noch nicht vollkommen, aber werdend und reifend zu einem Ziele, das bis jetzt noch kein anderes Volk schaute und erstrebte. – Bei uns ist die große Verantwortlichkeit des Staates für alle seine Glieder, ihre Bildung, ihre Gesundheit, ihre Arbeitskraft, ihr Alter. Bei uns ist das eiserne Pflichtbewußtsein, das dem einzelnen Wert gibt, soweit er der Gesamtheit dient. Sie nennen das unsern Militarismus. Uns ist es ein Gut mit der Hingabe des Lebens nicht zu teuer bezahlt. Gerade aus der Kraft dieses deutschen Wesens heraus wuchs die ungeheure wirtschaftliche und politische Stärke unseres Staates, die sie fürchten, die wir so dankbar und staunend in dieser unendlichen Gefahr erleben.

Ein Bund des Neides gegen unser wirtschaftliches Aufsteigen mit der Unwissenheit, die hinter unserm »Militarismus« Roheiten, Gewaltsamkeiten und Barbareien sieht, weil sie der Hoheit edler Kraft, die darin steckt, kein Verstehen entgegenbringen kann, gefährdet uns unsern Staat und damit die Gestaltung unseres edelsten, deutschen, volkstümlichen Fühlens zur Wirklichkeit in der Welt. Wir wissen wohl: Drüben unter unsern Gegnern sind Leute, die würden in tiefster Seele erschrecken, wenn sie wüßten, was sie täten. In ihrer Unwissenheit meinen sie ein furchtbar gewaltsames System zu bekämpfen und bildeten einen Bund der Welt gegen das beste, edelste Leben eines Volkes und gegen sein heißes Bemühen tiefer, edler Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Gemeinschaft Wirklichkeit zu geben. Ist es Schuld, daß die Art unserer Arbeit und Lebensgestaltung mehr Kraft bringt als die ihre?

Weil wir Widerstand leisten diesem Bunde des Neides und der Unwissenheit, geht nun der Krieg mit seinem Schrecken durch die Länder. Wir verbergen uns nicht, wie grauenhaft er ist. Er trifft uns ja selbst so unsagbar schwer, daß wir uns wundern über die Kraft, die in uns solchen Schrecken standhält. Es ist die innere Gewißheit, daß unsere Volksgemeinschaft nicht zerbrechen kann und darf, denn sie ist eine Entfaltung des Besten, was wir für uns und die Menschheit in uns tragen. Es ist das heilige Erleben, daß diese Volksgemeinschaft sich bewährt, sich stärkt und vollendet in einer Weise, die wir uns vorher nicht vorstellen konnten. Ungeheure Kräfte der Hingabe, der Tapferkeit, der Liebe, Einigkeit und Opferwilligkeit sind lebendig geworden. Wir stehen fest und erleben die ungeheure Kraft unsers Volkes – nicht nur seine äußere, nein, seine innere Kraft, die eine Macht des Leides von unerhörter Furchtbarkeit trägt und überwindet – um der Zukunft willen.

Es bewährt sich uns der Glaube, mit dem wir in den Krieg zogen, daß es nicht der Sinn der weltgestaltenden Kraft sein könne, etwas so Großes, Heiliges und Zukunftsvolles, wie unser deutscher Staat es ist, vernichten zu lassen. Das war Gottesglaube. Nun sehen wir immer deutlicher, wie in den ungeheuren Nöten die Volksgemeinschaft sich bewährt, sich gestaltet, Zukunft fühlt und gewinnt, wie unter Qualen und Nöten ein Neues in ihr aufsteigt – wir fühlen uns geführt durch diese furchtbare Zeit von einem Zukunft schaffenden Willen, einem furchtbaren Schicksal, das doch Bestes und Edelstes in uns entbindet und dem zur Verwirklichung in der Welt hilft: Gottesglaube, der immer deutlicher ein Schauen des Willens wird, der über uns waltet.

Nun werden die Opfer gebracht, und die Menschen bleiben aufrecht. Sie fühlen so klar, daß die Opfer dem Schicksal gebracht werden, das uns zu Heiligem führt und zieht. Sie fühlen die große Einheit geistiger Kraft, die Lebende, Sterbende, Tote verbindet und die keiner auflösen möchte, könnte er nur auch so sein Leben gewinnen. Nein, in der Einheit dieser geistigen Kraft und Erhebung will er bleiben. Das ist das Verbundensein der Menschen durch Höheres als Irdisches, Sichtbares, durch inneres Leben und Erheben, Ewigkeitserleben gewaltigster Art. Was sollen wir zweifeln, daß solches Verbundensein geistiger Art auch in einer geistigen Welt seine uns unvorstellbare Vollendung hat.

Die Leidenschaft des allertiefsten Fühlens im Menschenherzen steigt herauf und stellt es wieder in Verbindung mit der Tiefe, aus der der Menschenseele das Bedürfnis ihrer eigenen Gerechtigkeit und edlen Weltgestaltung quillt. Damit wird etwas unserm Volke geschenkt, was zuletzt zu schwach in ihm gestaltet war, die Tiefe des Erlebens über Irdisches hinaus, Frömmigkeit. Frömmigkeit aber ist die wahrhaft volksbildende Kraft. Sie schafft die Einheit eines erhabenen Lebenszieles und -gefühls. Sie wird uns über die Hemmungen hinaustragen, die es uns unmöglich machten, unser Volkstum zu erweitern und unserm deutschen Geiste Welteroberungen zu machen. Jene Tiefe war immer da, denn wir waren immer Deutsche. Aber sie ist nun wieder zu bewußtem Leben geworden, und damit wird sie neue Kraft gewinnen.

Aber wenn du ein Christ bist – oder auch nur ein edler, liebevoller Mensch, kannst du dann den Krieg für etwas Berechtigtes erklären? Wir wissen, daß wir eines tun müssen, unser edles inneres Leben und Sehnen zur äußeren Verwirklichung zu bringen. Als Christen glauben wir an das Reich Gottes. Das aber wird nur wirklich, indem Menschen ihr Gerechtigkeitsempfinden verwirklichen. Das geschieht im Volk und Staat. Soweit sie da sind, soweit sie unserm Empfinden entsprechen, sind sie ein Stück verwirklichtes Gottesreich auf Erden. Soweit sie es nicht sind, strebt unser Sehnen sie vollkommener und vollkommener zu machen. So nur kann Gottesreich wachsen, und wir können uns unsere Arbeit daran nicht nehmen lassen – wenn wir Christen sind mit der tiefen Leidenschaft für Gerechtigkeit und Gemeinschaft, die Jesus füllte. Daß dabei viel Menschenleben und -glück vernichtet wird? – Gerechtigkeit und Gemeinschaft sind heiliger als äußeres Menschenleben. Wenn wir fühlen, daß sie heiliger sind als unser Leben, und dies dafür einsetzen, sollen wir sie dann vernichten lassen, um das Leben derer zu schonen, die sie uns angreifen? Warum? Weil sie sich nie die Mühe gaben, uns zu verstehen! – Nein, dort ist die Schuld, und wir müssen tun, was wir tun, gerade weil wir Christen sind!

Soll der Krieg aufhören, dann gebt euch die Mühe, uns zu verstehen. Wir suchten schon immer die andern zu verstehen. Warum sie nicht uns? Vielleicht wird daraus einmal die Möglichkeit wachsen, daß die Völker nebeneinander stehen, arbeiten, ringen, Gemeinschaften bilden und sich achten und lieben und nicht mehr aus Eigennutz und Unverstand einander zu zerbrechen suchen. – Wenn es werden kann, kann es nur werden aus einem Sieg des Geistes, der Verständnis sucht, des deutschen Geistes. Jetzt aber wollen wir unsern Staat erhalten, und das ist die erste Pflicht, die wir haben und an die wir denken können, damit wir Menschen bleiben können, Christen bleiben können, das bleiben können, zu dem Gott uns schuf, Wesen, die ein inneres Sehnen nach wahrer Gemeinschaft und Gerechtigkeit zu verwirklichen suchen in gemeinschaftlichem Streben und Arbeiten. Wir kämpfen für das Größte, was Gott in uns werden ließ.

Mit diesem gewonnenen Gut an Vertrauen zueinander und unserm Volk, mit dieser neuen Glut der Einheit und Liebe gehen wir dem Frieden zu. Schäden zeigten sich. Sie mußten sich zeigen. Wo solch ein Gut der Kraft ist, werden sie überwunden. Unsere deutsche Gerechtigkeit hat neue Lebens- und Gestaltungskraft gewonnen, nicht nur uns, der ganzen Welt zum Segen.

Wie aus dem Staat und seinen Rechtsordnungen, in denen sein Rechtsempfinden Gestalt gewonnen, spricht die Eigenart unseres Volkes zu uns aus dem alten Gefüge seiner Kirchen, den Gemeinschaften, in denen Menschen sich ihrer Frömmigkeit als der andern Hauptwurzel ihres Daseins gemeinsam bewußt werden, als der zweiten ihr Leben bestimmenden Macht. Ordnet der Staat die äußeren Formen des Lebens, so sollen ihre Feiern die Seele mit Mut, goldnem Hoffen und Ahnen einer Welt, einer Wirklichkeit erfüllen, die sie sehnend sucht. Geburt, Ehe, Grab vor allem sind so in ihrer tiefen Wunderbarkeit durch fromme Gebräuche herausgehoben. Die sollen in den Stunden, wo die Seele sich der geheimnisvollen Wurzel alles Daseins am nächsten fühlt, zum Ausdruck bringen, was sie bewegt, und ihr das Gefühl stärken, daß diese geheimnisvolle Unendlichkeit keine Kälte, kein Tod, sondern Liebe und Leben ist. Jede dieser Sitten ist geschaffen von dem frommen Gemütsleben unserer Vorfahren, das auch in den Tiefen unserer Seele schlummert und darum uns als Kind schon mit tiefen, schauernden und doch seligen Ahnungen des Überirdischen erfüllte. Nur gewaltige Erschütterungen können uns von diesen Sitten loslösen, ihr Mißbrauch kann sie uns abstoßend erscheinen lassen, sie können, wenn uns zum Bewußtsein kommt, daß sie Gedanken enthalten, die veraltet sind, uns zur Lüge werden – und dann kann sich der Mensch gegen sie wenden. Und doch – solange er keinen Ersatz hat, wird er sich doch wieder an den entscheidenden Punkten des Lebens von solchem Brauch umgeben, sich von ihm sagen lassen, was ihn ahnend bewegt und keine Worte ganz ausdrucken können.

Betrachten wir die einzelnen Kirchen von hier aus, so sind sie nicht so sehr verschieden. Was beide dem empfänglichen Menschen bieten, ist die Tatsache, daß er mitten in einem ewigen Geheimnis steht, daß aber aus diesem Geheimnis sein Leben, Leben und Glück überhaupt, geistige Kraft, Sehnen und Hoffen zu ihm kommen, wie aus einem ewigen Quell schaffender Macht und Liebe. Sobald der Mensch das fühlt, ist er fromm, hier in dieser Tiefe des Empfindens sind beide Kirchen nicht so verschieden, als man oft denkt. Wir freuen uns der Andacht des frommen Katholiken und fühlen sie mit.

Verschieden werden die Kirchen erst, wenn wir von diesen Tiefen des Empfindens wegsehen zu dem Gebäude hin, das ihnen dienen soll. Da tritt in der katholischen Kirche die Königin vor uns hin, die beansprucht, irdische Verkörperung alles Himmlischen zu sein, und dementsprechend geehrt sein will, die Hierarchie, an der Spitze der Stellvertreter Gottes auf Erden, dem alles gehorchen soll. Diese Hierarchie hält mit jenen gewaltigen Banden die Seelen gefesselt: ich kann euch euer Leben deuten, euch das Überirdische erleben lassen. Ich kann euch auch das Ewige geben. In gar viel Formen und Gelegenheiten sucht sie den Menschen das Gefühl solcher Berührungen mit dem Göttlichen zu geben. In den protestantischen Kirchen finden wir nichts von dieser herrschenden Majestät. Klein erscheint uns ihre äußere Gestalt, und auch in ihren Sitten und Formen ist vieles eng und arm. Aber ihre Größe ruht darin, daß sie den Menschen nicht ruhen lassen wollen in jenen mächtigen Gefühlen des Übersinnlichen allein. Er soll sie zu klarer, bewußter Weltanschauung verarbeiten, er soll sie zu fester, starker Tat machen. Deshalb ist in den protestantischen Kirchen neben der gemütvollen Feier ein Element der Unruhe, das zur Tat treibende Wort, der zur klaren Weltanschauung ringende Gedanke. Sie können nicht sein ohne Kampf und Ringen, ohne beständiges Spornen des Menschen zu sittlicher Selbständigkeit und Tatkraft. Tief im Bewußtsein der protestantischen Bevölkerung wurzelt das Ideal, das dem Wesen dieser Kirchen, wenn auch zunächst halb unbewußt, zugrunde liegt: das Ideal der Selbständigkeit des Menschen in seinen Überzeugungen, besonders in seinen tiefsten Gefühlen. Er soll sich nicht durch andere in Gefühle hineinsteigern lassen. Sie sollen aus seinem Innern herauswachsen. Fremde sollen ihm nur die Erziehung zu solcher Tiefe bieten, dann aber soll alles sein Eigen sein. Deshalb die Nüchternheit der protestantischen Gottesdienste in Predigt, Gebet und Liedern, wo die katholische Kirche in aller Pracht das Geheimnis des Überirdischen darstellt. Sie wollen und dürfen nicht wachrufen, was nicht da ist. Deshalb treten sie nur an den Punkten mit frommen, alten Sitten, die schlicht und einfach sind, an den Menschen heran, wo durch die Tatsachen das Ewige ihm schon nahe ist. Das ist die tiefe Scheu vor dem Heiligen im Innenwesen des Menschen, seiner schlichten Wahrhaftigkeit, das Ideal evangelischer Sittlichkeit. Wir nennen es so, weil es dem echten, schlichten Sinn entspricht, der uns in den Evangelien in der Gestalt Jesu entgegentritt: Du und deine echte Innerlichkeit bist Gottes Kind! Sei klar und wahr und stark, so wirst du ihn erfassen.

Es ruht eine Riesengewalt in den Mächten, die die alten frommen Sitten hüten, in denen das Menschenherz seine Gemeinschaft und Ähnlichkeit mit der übersinnlichen Welt ausgesprochen fühlt. Klafft zwischen diesen Mächten und dem geistigen Leben eine Kluft, so ist die große Mehrzahl der Menschen innerlich gespalten. Sie können weder von der Wahrheit noch von der Frömmigkeit los. Erst wenn sich die Kluft wieder schließt, können sie einheitliche, starke Menschen werden, die in allen Stücken froh ins Leben schauen. Schon um dieser Gewalt willen muß jeder Gebildete sich mit den Kirchen seines Volkes und ihrer Frömmigkeit auseinandersetzen. Er muß sie in ihrem innersten Wesen kennen, sonst kennt er einen Teil der treibenden Mächte nicht, die sein Volksleben gestalten. Er kennt einfach sein Volk nicht. Denn was sein Volk am tiefsten bewegte, das liegt im Ahnen und Träumen der Frömmigkeit und den Sitten der Kirchen verborgen. Wer sie nicht versteht, versteht seine eigene Seele nicht. Es kann und muß nicht jeder ein positives Verhältnis zu einer Kirche finden. Dafür sind wir selbständige Menschen, daß wir nach unserem Wahrheitsempfinden entscheiden dürfen. Aber verstehen müssen wir diese gewaltigen Mächte, verstehen müssen wir auch die katholische Kirche und ihre Bedeutung in unserer Zeit, und worauf diese beruht, sonst stehen wir hilflos der Riesengewalt gegenüber, die heute so stark in unserem Volke ist.

Um ihre Hilflosigkeit gegenüber diesen Lebensmächten nicht eingestehen zu müssen, schließen viele die Augen vor ihren gewaltigen Tatsachen. Spottend tun sie so, als sei diese Macht gar nicht da. Verstehen müssen wir sie, dann werden wir weder zu denen gehören, die sich blind unterwerfen, noch zu denen, die ihre Verständnislosigkeit für das Tiefe und Wahre darin in törichtem Spotte verdecken müssen. In solch klarem Verstehen eint sich dann selbständiges Denken und des Menschen tiefstes, geheimstes Sehnen nach Ewigem, nach Erfassen des Geheimnisses, in dem er steht, zu echtem, frommem Wahrheitssuchen. Sowie dieser Sinn in den protestantischen Kirchen nachläßt, verlieren sie die Herrschaft über die Starken unter ihren Gliedern. Sie mögen dann nach Art der katholischen Kirche herrschen wollen, es gelingt ihnen nicht. Was die protestantischen Kirchen im geistigen Leben bedeuten sollen, geht dann auf andere Faktoren, Wissenschaft, Philosophie und Kunst über, bis sie sich wieder auf ihre Eigenart besinnen. Die gerade hinter uns liegende Zeit war eine Zeit, da die evangelischen Kirchen dies evangelische Ideal vergessen und sich so von dem Strome protestantischen geistigen Lebens geschieden hatten. Verständlich ist es freilich, daß die evangelischen Kirchen noch nicht die ganze Höhe ihrer Entwicklung erreichen konnten. Zu sehr zählt ihr innerstes Ideal auf die Selbständigkeit der Menschen, die doch etwas Seltenes ist. Immer wieder kommt deshalb die Unselbständigkeit zur Herrschaft und unterdrückt ihr eigenstes Wesen. Darum ist es aber auch so notwendig, daß die Selbständigen sich nicht zurückziehen, sondern sich eine starke eigene fromme Überzeugung bilden, sie in der Kirche zur Geltung bringen, für sie Nahrung und Pflege von ihr verlangen. So werden sie mithelfen, die Masse und die gesamte Kirche zur wahren evangelischen Freiheit zu führen. Es ist das auch ein Stück unserer sittlichen Lebensarbeit, das Tiefste, Zarteste in uns nicht ersticken zu lassen, sondern zu klarer Überzeugung zu verarbeiten, zu einer Macht werden zu lassen, die andern auch hilft, dies Tiefe und Zarte zu entwickeln und ganze Menschen zu werden. Daß heute noch die Menschen dies Zarteste in sich ängstlich verbergen, sich seiner vor sich selbst schämen, ist eine beängstigende Verkümmerung ihres Wesens. Sie ist nur möglich, weil man glaubt, klare, feste Überzeugung in religiösen Dingen sei unmöglich. Aber sie ist ja möglich, hat doch das Denken und Sinnen gerade unserer Größten von Kant her den Weg dazu gewiesen. Nur wer dem Menschen in diesem Tiefsten den Weg zeigen kann, hat ihn ganz, mit seiner ganzen Tatkraft. Protestantische Wissenschaft und Sittlichkeit werden auch darum ihrerseits erst dann wieder weltbeherrschend werden, wenn sie in dieser Tiefe ganz und wahr sind. Vieles hat sich in den letzten zehn Jahren gebessert. Starke kirchliche Richtungen unter Führung der theologischen Wissenschaft haben das Wesen evangelischer Frömmigkeit in eigener Überzeugung erkannt, suchen den Zwang des Dogmas und klerikaler Gesinnung abzuwerfen und echte freie Frömmigkeit zu verkünden. Sie zeigen den Weg zur Zukunft.


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