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4. Die Dichtkunst

Wenn es das Wesen der Kunst ist, daß sie in inniger Wechselwirkung mit dem Leben steht, aus ihm quillt und zu ihm zurückführt, daß sie nur eine besondere Ausdrucksform des Lebens ist und nicht ein von außen an das Leben herangetragener Schmuck, daß sie somit nicht nur eine anmutige Bereicherung, sondern einen notwendigen Teil des Lebens darstellt – so gilt das alles in besonderem Maße von der Dichtkunst. Nur derjenige kann eine Dichtung recht verstehen, sich von unklarer Schwärmerei so gut wie von unberufener Aburteilung zu wahrem Verständnis durchringen, sein Gemüts- und Verstandesleben von ihr nicht nur reizvoll bewegen, sondern von Grund aus bereichern lassen, der die feinen Fäden erkennt, die sie mit dem Leben verknüpfen. Freilich sind die Beziehungen zwischen Dichtkunst und Leben ungemein zart und oft nur schwer auffindbar; denn so wenig die Dichtkunst vom Leben absehen oder es unwahr darstellen darf, so wenig darf sie auch ihm allzu plump moralische Richtlinien vorziehen oder es allzu kleinlich getreu nachbilden wollen. Leben und Dichtung sind noch nicht dasselbe, vielmehr bedarf es erst der vermittelnden Persönlichkeit des Dichters, um die im Leben schlummernde zu erwecken.

Schon auf der ursprünglichsten Kulturstufe kann ein jedes Volk seine Dichter aufweisen, denn jeder verdient so genannt zu werden, der ein ihn bewegendes Erlebnis, einen Sieg, einen glücklichen Jagdzug, einen Todesfall, so in Worten wiederzugeben weiß – wozu eine besondere Form des Ausdrucks gehört, die nicht jeder bilden kann–, daß seine Hörer sein Empfinden teilen, daß er also einen Teil seines Lebensinhalts auch dem Inhalte ihrer Leben aufzuzwingen vermag. In der zu- oder abnehmenden Tiefe und Gewalt solcher Erlebnisse und ihrer Ausdrucksformen in einem Volke ist die auf- und absteigende Entwicklung seiner Dichtkunst begründet; denn nicht zu allen Zeiten geschehen gleich bedeutende Ereignisse, nicht zu allen Zeiten empfinden die Menschen mit gleicher Stärke oder vermögen ihren Erlebnissen den zwingendsten Ausdruck zu geben. So unterscheidet sich das die Hilfe seines Fetischs anrufende Gebet eines Naturmenschen von einer Sophokleischen Tragödie wie das ursprüngliche Empfinden jenes primitiven Dichters von den komplizierten Seelenregungen des griechischen Tragikers, wie die Kulturanfänge eines Volkes von der höchsten ihm erreichbaren Kulturhöhe.

Dieses Gesetz, das die Poesie eines Volkes von der Tiefe seiner Erlebnisse abhängig erscheinen läßt, findet auch in der Entwicklung der deutschen Dichtung seine Bestätigung. Die Höhepunkte der deutschen Dichtkunst stehen mit den gewaltigsten Erlebnissen des deutschen Volkes in ebenso notwendiger Beziehung, wie die Niederungen in der künstlerischen Entwicklung von einem zeitweiligen Tiefstand der Kultur zeugen, wenngleich man natürlich diese Parallelen nicht auf ihre mathematische Genauigkeit nachprüfen darf. Nach dichterischen Anfängen, wie sie vielen Völkern in gleicher Weise eigen sind, bestehend aus Zaubersprüchen, Totenklogen, Heldenliedern und dergleichen rhythmisch-sprachlichen Erzeugnissen, löst das erste Millionen von Germanen erschütternde Erlebnis, die Völkerwanderung, deutscher Dichtkunst die Zunge. Staunend sehen die Westgermanen dem kraftvollen Ringen vor allem der Goten zu, entsetzt werden sie Zeugen von deren tragischem Untergang, bewundernd vernehmen sie die Heldentaten der großen Führer wie Theoderichs, erschüttert hören sie, wie in diesen Kämpfen Germanen auf Germanen gehetzt werden, voll Schmerz sehen sie germanische Helden als Knechte des hunnischen Eroberers – und aus diesem beispiellos gewaltigen Erlebnis, aus Bewunderung und Schmerz gemischt, ersteht bei den Westgermanen der großartige Dichtungskreis der Germanischen Heldensage. Dieser prachtvolle Tempel germanisch-heidnischer Kultur, von dessen Größe nur noch die zerborstene Säule des Hildebrandsliedes zeugt, muß der römisch-christlichen Kirche Platz machen. Statt Dietrichs von Bern oder Siegfrieds wird Christus zum Helden epischer Dichtungen deutscher Sänger und Mönche (»Heliand«, Otfrid), und die in der Askese der Reform von Cluny gipfelnde Einseitigkeit und Weltfeindlichkeit der christlichen Anschauungen äußert sich in Todestraurigkeit und Lebensverachtung predigenden und lehrenden Klagegesängen (Heinrich von Melk), aus denen nur vereinzelt noch die alten Klänge germanischen Heldentums hervorklingen, wie des Mönches Ekkehard ebenso frischer und hinreißender wie künstlerisch stilloser Sang von Walther und Hildegunde.

Erst ein neues weltgeschichtliches Erlebnis führt zu einem neuen Höhepunkt der deutschen Dichtkunst: die Kreuzzüge. Aber weniger die kriegerischen oder die menschlich ergreifenden Ereignisse der Kreuzzüge finden im Abendland künstlerische Gestaltung, als vielmehr die kulturellen Werte, die der Orient dem Okzident in diesen Jahrzehnten überliefert hat. Das eigentliche künstlerisch gestaltete Erlebnis der Kreuzzüge ist die äußere und innere Wandlung des Ritterstandes. Aus dem fehdelustigen Raufbold des 11. Jahrhunderts war der fromme und gottgefällige Kreuzritter des 12. geworden. Neue Lebensideale waren im Ritterstande erwacht und die fast selbstverständliche Rauheit des Kriegsmannes hatte man durch die feine und höfische » mâze« des ritterlichen Kavaliers zu ersetzen gesucht; aus dem Herrendienst des Reitersmannes und dem Gottesdienst des Kreuzfahrers war allmählich der Frauendienst des Minneritters, des eigentlichen Kulturträgers dieser Zeit, geworden. Die typischen Lebensgebräuche und Anschauungen, die Sitten und Lebensformen dieser Kreise finden bei Hartmann von Aue und Gottfried von Straßburg ihren Niederschlag, während sich Wolframs von Eschenbach »Parzival« ebenso hoch darüber zu einem Idealbild dieser Kultur erhebt wie Walthers von der Vogelweide liebliche Lieder über die andern kunstreichen, aber einförmigen Erzeugnisse des Minnesangs. Aber nicht auf die höfische Poesie allein beschränkt sich der Aufschwung der deutschen Dichtkunst, den die Kreuzzüge herbeigeführt haben, sondern die große Zeit der Staufer, die ruhmreichste des Mittelalters trotz allen politischen Irrtümern und militärischen Mißerfolgen, hat auch im Volke die alte Zeit der kriegerischen Völkerwanderung und damit die Erinnerung an die Heldensage neu erweckt. So erstehen das Nibelungenlied, das Gudrunlied und manch anderer bereits vergessener Heldensang zu neuem Leben, in neuer, nicht immer passender Form, oft mißverstanden, oft töricht bearbeitet, aber im ganzen den Geist der alten Heldenzeit atmend.

Wie sehr diese Glanzzeit der deutschen Dichtung Ausdruck der ritterlichen Kreuzzugs- und Staufenzeit gewesen ist, zeigt sich darin, daß sie mit dem Untergang des Rittertums verschwindet. Dessen Kultur wird abgelöst durch die städtisch-bürgerliche. In noch stärkerem Maße zeigt sich in ihr das Fehlen einer individuellen Lebensauffassung. Die breite Masse des Bürgertums, grade durch die Macht ihres Zusammenhalts Wunderwerke auf dem Gebiete der städtischen und kirchlichen Baukunst schaffend, ist nicht der günstige Boden für die Entwicklung der Persönlichkeiten heischenden Dichtkunst. Meistersang und Passionsspiel sind der poetische Ausdruck dieser mehr breiten als tiefen Kultur; nur fast unhörbar sind daneben die ungeschickt geformten, aber tief empfundenen Volkslieder zu vernehmen.

Der geistige Aufschwung der Renaissance ist durch seinen ausgeprägt antik-italienischen Charakter nicht geeignet, deutsche Poesie auf neue Höhen zu heben, ebensowenig wie die Reformation, deren streitbare Literatur im Schmutz des Satirenkampfes reinere Geister unterdrückt, so daß etwa das feine Gemüt des Hans Sachs sich nur zu geringer absoluter Höhe aufschwingt. Erst das 17. Jahrhundert bringt wieder ein erschütterndes, künstlerisch wirkendes Erlebnis: den Dreißigjährigen Krieg. Den dichterischen Ausdruck dafür finden wir in den geistlichen Liedern nicht nur Paul Gerhardts, in den Sinnsprüchen Friedrich von Logaus, im »Simplizissimus« Grimmelshausens. Wenn wir trotzdem von einer Höhe der deutschen Poesie in diesem Jahrhundert nicht reden können, so liegt das daran, daß fast überall der Stoff in der ungeschlachten Form erstickt, während den Dichtern wiederum, die wie Martin Opitz die Form meistern, die Gabe des tiefen Erlebens abgeht.

Auf das Dunkel des unsagbar trüben Jahrhunderts des großen Krieges folgt das Licht der »Aufklärung«. Aber ihre wesentlich verstandesmäßige Kraft unterdrückt wiederum die zarten Empfindungen, deren Ausdruck Poesie ist. Ist der Aufklärungskultur somit der höchste Reiz dichterischer Kunst versagt, so vermag sie doch mit ihren klaren und verständigen, erleuchtenden und belehrenden Anschauungen die Wege zu ebnen; das geschieht im Zeitalter Friedrichs des Großen durch Lessing. Durch ihn besinnt sich die deutsche Dichtung auf ihre Aufgabe und ihr Wesen, und zugleich mit dem Verstande Lessings bereitet Klopstocks überströmendes Gefühl, Wielands elegante Formenkunst, Herders anregende Genialität auf einen neuen Höhepunkt vor. Goethes universale Schöpfergabe und Gestaltungskraft, in der sich alle die bleibenden Werte aus der Kultur früherer Jahrhunderte vereinigt haben, und Schillers sittliche Persönlichkeit mit ihrem zwingenden Pathos stehen auf diesem Gipfel, ihrer beider Dichtungen nicht wie das höfische Epos oder die Heldensage unmittelbare Erzeugnisse eines äußeren weltgeschichtlichen Erlebnisses, sondern nur mittelbare einer zunehmenden geistigen Kultur. Freilich bedarf die klassische Dichtung mit ihrer mehr typisierenden als individualisierenden, nach der Antike ausblickenden Kunst noch einer Ergänzung. Diese wird ihr in der Romantik, die mit ihrer stärkeren Betonung der Phantasie, der Pflege volkstümlicher Kunstrichtungen, dem Erwecken deutschen Naturgefühls weniger in Gegensatz zur klassischen Dichtung als ihr zur Seite tritt. Klassik und Romantik vereint bilden die Höhe der deutschen Dichtung um die Jahrhundertwende. Sie sind mit ihrer idealen Forderung die Welt und ihrer phantastischen Träumerei so recht das Sinnbild ihrer Zeit.

Diese wird erst weltkundig und tatkräftig, als Napoleons rauhe Hand ein neues Zeitalter, besonders den Deutschen, diktiert. Mit dem Erwachen des politischen Sinnes erwächst eine umfassende historische Forschung, und der durch die Notwendigkeit des gewaltigen Lebenskampfes zu Anfang des 19. Jahrhunderts für die Wirklichkeit geschärfte Blick kommt dem Aufschwung der Naturwissenschaften zugute, in deren Gefolge die Wunder schaffende Technik besonders auf chemischem und physikalischem Gebiete einherschreitet. Reich wie die historisch-naturwissenschaftliche Kultur dieses Jahrhunderts ist auch seine Dichtung. Mannigfaltige neue Stoffgebiete – die Dorfgeschichte, geschichtliche Romane und Novellen, Gesellschaftsschilderung, die patriotische und die soziale Lyrik – und der neue Darstellungsstil des Realismus, um den seit Heinrich von Kleist bis zu Gerhart Hauptmann in der deutschen Literatur gerungen worden ist, sind die Gaben des 19. Jahrhunderts, wie sie außer dem Inhalt auch der Form der Dichtkunst zuteil geworden sind.

Dadurch daß nun das Weltgeschehen, sowohl in seinen außerordentlichen politischen und geistigen Erlebnissen wie in dem stetigen und alltäglichen Gegensatz von Liebe und Haß, Tod und Leben, durch die vermittelnde Tätigkeit des Dichters zum Kunstwerk geformt wird, entsteht gemäß der unendlichen Mannigfaltigkeit der dichterischen Persönlichkeiten die unendliche Mannigfaltigkeit der dichterischen Werke. Schon in der Auswahl der Stoffe tritt die Persönlichkeit des Dichters zutage; denn nur das kann er aus der Fülle des Geschehens nachbilden und gestalten, was seine eigene Seele in Schwingungen versetzt, was ihm selbst zum Erlebnis wird, indem es sein Seelenleben erweitert und bereichert. So erklärt sich die Verschiedenheit von Goethes und Shakespeares oder Schillers und Kellers Dichten aus ihren Persönlichkeiten. Goethes Kunst erwächst aus seiner Phantasie. Wir wissen, wie in seinen Jünglingsjahren seine ganze Seele erfüllt ist von den Gestalten seiner Phantasie, die zum Lichte drängen; wie seine Schritte beim Wandern zu rhythmischen Hymnen sich gestalten; wie er fast traumhaft unbewußt seine Werke zu Papier bringt; wie er in und mit seinen Gestalten lebt und leidet; wie er erst Ruhe findet in der eigenen Brust, wenn diese Gestalten außer ihm als Kunstwerk dastehend sich von seiner Seele gelöst haben. So bezieht er alles in der Welt auf sich selbst; sein Gemüt wird der Ausgangspunkt aller seiner Werke, und so wird es dem Alternden immer mehr zum Bedürfnis, auch das eigene Leben, das eigene Selbst zum Kunstwerk zu formen. Wie ganz anders verhält sich Shakespeare! Nicht die Phantasie, sondern eine bis zu wunderbarer Höhe gesteigerte Wahrnehmungsgabe kennzeichnen die Eigenart seiner Persönlichkeit und damit seines Schaffens. Schon der bei seiner Jugendbildung sonst unerklärliche Umfang seines Wissens und seiner Kenntnisse kann nur aus einer ungewöhnlichen Beobachtungsfähigkeit verstanden werden. Und indem er nicht als müßiger Zuschauer das Leben beobachtet, sondern mitten darin steht, sich in allen möglichen Lebenslagen versucht, wie auch Cervantes, der Dichter des »Don Quichote«, und als Schauspieler sogar seine Persönlichkeit in die verschiedenartigsten Charaktere hineinfühlte, wie es Molière ebenfalls tat, vergißt er darüber sein eigenes Selbst, lebt ganz in dem, was um ihn geschieht, und gestaltet, was er in Welt und Leben außer sich sieht und genießt. Der Schlüssel zu Schillers Schaffen hinwiederum ist die Willenskraft, die sich auf das höchste Ziel, die Freiheit, richtet. Die rohe Knechtschaft, unter der die Seele des Jünglings geschmachtet hatte, hat diese Seite seines Wesens zur beherrschenden gemacht. So drängt seine Kunst auch unablässig zum Drama dessen Wesen Entwicklung, Handlung, Fortschritt zum Ziele ist, so entsteht sein Heroismus, sein Pathos, seine strenge Sittlichkeit; denn immer schwebt ihm das Idealbild der Freiheit vor und zieht ihn zu immer erhabeneren Höhen. Ist der Persönlichkeit Schillers durch die unterdrückte Freiheit seiner Entwicklung der Weg gewiesen, so der Gottfried Kellers durch den Mangel kraftvoller Erziehung, von schwacher Hand geleitet, eigenen unverständigen Trieben folgend ist der Jüngling, ja noch der Mann dem Untergang nahe; da setzt bei ihm das strenge Werk willensbewußter Selbsterziehung ein und errettet ihn aus schwerer Schuld gegen sich selbst. Erziehung zum Jüngling, zum Gatten, zum Vater, zum Bürger, zum Menschen ist daher der immer wiederkehrende Kern aller seiner Dichtungen und prägt ihnen ihren im besten Sinne lehrhaften Charakter auf, bestimmt aber auch ihren Stil. Denn Kellers auf kraftvolle Tüchtigkeit und nutzbare Tätigkeit, auf das Notwendige und Einfache, das Wesentliche gerichteter Sinn verlangt eine die Wirklichkeit nachbildende Darstellungsweise, einen realistischen Ausdruck, nicht einer idealistischen wie den Schillers.

Diese Ausdrucksformen, die sowohl vom Stoffe wie von der Persönlichkeit des Dichters bestimmt werden, sind das Vermögen des Künstlers, seinen Empfindungen einen auch andere ergreifenden Ausdruck zu geben. Sie bestehen aus den Kunstformen und Kunststilen. Die Kunstformen haben sich erst im Laufe langer Entwicklung ausgebildet. Wenn es im 1. Buche Samuelis, Kap. 18, 7 heißt: »Und die Weiber sangen gegeneinander und spielten und sprachen: Saul hat tausend geschlagen, aber David zehntausend«, so ist das nicht nur die Vereinigung von Tanz, Musik und Wortkunst, durch den Rhythmus verbunden, sondern in dem »gegeneinander« liegt sowohl ein dramatischer Reim, wie die Stimmung des Siegsgesanges lyrisch und sein berichtender Inhalt episch ist. Diese drei Kunstformen haben sich denn auch nie ganz scharf geschieden – universale Werke wie Goethes »Faust« weisen sie noch alle drei vereint auf –, sondern nur nach dem Maße der zunehmenden Verselbständigung des Erlebnisses, des weiteren Zurücktretens des Dichters von ihm geht die Lyrik in die Epik und diese in die Dramatik über. Die zunehmende Reichhaltigkeit des künstlerischen Ausdrucks hat dann auch diese drei grundlegenden Kunstformen weiter gegliedert, so im wesentlichen nach stofflichen Gesichtspunkten oder denen der Vortragsweise das Drama in Tragödie und Komödie, die Epik in Ballade und Epos, Roman und Novelle, auch zwischen diesen Gliedern wiederum die Grenzen verschwimmen lassend. – Aber zur Gestaltung des Erlebnisses gehört nicht nur die Kunstform, sondern auch der Kunststil. Er wird bestimmt durch den Stoff, durch die Persönlichkeit des Dichters, durch die äußere Form der Gliederung oder des Versbaus, durch die Sprache, und ist abhängig von den Zeiten und Völkern: Ein Heldensang verlangt andern sprachlichen Ausdruck als zartes Naturempfinden; das Germanentum der Völkerwanderung baut seine kunstvollen Stabreimverse, dagegen das unkünstlerische Bürgertum des 16. Jahrhunderts seine holprigen Knüttelverse; und die dichterischen Persönlichkeiten des Elisabethanischen Zeitalters sind aus anderen Bedingungen hervorgegangen als die der perikleischen Zeit. Stimmen nun diese Bestandteile eines Dichtwerkes nicht zusammen – ist etwa der Stoff heroisch und die Sprache empfindsam, oder wird ein atemlos spannender Inhalt durch strophische Gliederung aufgehalten und zerrissen –, so ist dieses stillos. Die Geschlossenheit der Darstellungsweise dagegen ist Stil. Die Stilformen wechseln nun dauernd; im ganzen aber kehren in den Dichtungen aller Kulturvölker drei Kunststile immer wieder: der realistische, der das Leben möglichst wirklichkeitsgetreu, wenn auch durch das Auge des Künstlers gesehen, darstellen will; der romantische, der die Ausnahmeerscheinungen, das Individuelle und Charakteristische im Leben aufsucht; und der klassische, der die typischen und ewigen Vorgänge des Lebens erforscht und daraus ein Idealbild der Lebensauffassung gestaltet.

Die Beziehungen zwischen Leben und Dichtung sind nun aber nicht einseitig, so daß nur die Dichtung nach Stoff und Form aus dem Leben hervorwächst, sondern sie sind wechselseitig, indem die Dichtung wiederum das Leben beeinflußt, und zwar das des einzelnen so gut wie das der Nationen. Jeder von uns hat grade in dieser Zeit wieder die Beobachtung machen können, wie irgendein patriotisches Lied, das auf der Straße oder in einer Versammlung ertönt, plötzlich unsere Vaterlandsliebe zu hellen Flammen entfachen kann. Auf den ästhetischen Wert des Liedes kommt es dabei sehr wenig an; wir würden also unsere patriotische Dichtkunst, die in ihren schönsten Stücken zweifellos wirkliche Kunst ist, gar nicht würdigen können, wenn wir sie nur von ästhetischen Gesichtspunkten ansähen. Nun wirkt bei dem Absingen eines vaterländischen Liedes sicher auch die Massensuggestion auf die erweckte Stimmung ein. Aber wie viele können bezeugen, daß in ihnen auch außerhalb der Kirche in der Einsamkeit des Hauses ein geistliches Lied religiöse Empfindungen erweckt hat! Tragen doch grade die geistlichen Lieder der für diese Dichtgattung fruchtbarsten Zeit, des 17. Jahrhunderts, meist einen ganz persönlichen, gar keinen Massencharakter. Wenn ferner die höfische Poesie ein Abbild des ritterlichen Lebens der Staufenzeit in allen Verfaserungen ihrer freilich etwas einseitigen Kultur darstellt, so hat sie doch auch wiederum dieser Kultur zum Vorbild gedient, sie verfeinert oder auch verflacht. Und wer weiß nicht, daß zu den deutschen Siegern der Freiheitskriege auch Schiller und Goethe gehören, daß die geistige Höhe, auf die sie ihr Volk gehoben haben, erst die politische zur Folge gehabt hat, daß sie so gut wie Bismarck zu den Gründern des neuen deutschen Kaiserreichs zu zählen sind. Die Kunst, zumal die Dichtkunst, hat eben keineswegs nur ästhetische Werte; dann wäre sie allerdings nur ein mehr oder weniger notwendiger Schmuck. Sie hat auch Bildungswerte. Dessen sind sich die großen Dichter jederzeit bewußt gewesen. Wenn Lessing oder Schiller ihr heißes Bemühen daran setzten, dem deutschen Volke ein Nationaltheater als eine »moralische Anstalt« zu schenken, so wurden sie dieser Bedeutung der Dichtkunst in der gleichen Weise gerecht, als wenn Gottfried Keller in seinen Meisternovellen das Lehrhafte im besten Sinne des Wortes stark betont. Die großen Dichter haben jederzeit auf ihr Volk wirken wollen, und wie hätten sie das je hoffen dürfen, wenn sie ihren Kunstwerken nur ästhetische Reize verliehen hätten, die selbstverständlich vorhanden sein müssen, wenn man überhaupt von Kunstwerken reden will. Besonders heutzutage, wo gerade die Besten und Tüchtigsten unseres Volkes in der Hast des täglichen Lebens und in dem rastlosen Streben, immer neue Kulturgüter zu schaffen und aufzubauen, immer weniger Zeit dazu haben, sich in abstrakte ästhetische Schönheiten zu vertiefen, wo der gewaltige Weltensturm alle ästhetischen Streitfragen und Bedenklichkeiten hinweggefegt hat, erhalten die in dem unerschöpflichen Schatze unserer Dichtung schlummernden Bildungswerte besondere Bedeutung. Den vielen, die heute nicht mehr die Zeit haben, in der Jagd des Lebens behaglich zu genießen und ihr Dasein durch ästhetische Werte zu verzieren, ihnen sollte vor allen deutlich werden, daß die Beschäftigung mit der Dichtkunst nicht nur eine zu entbehrende Ausschmückung ihres Lebens ist, sondern ihnen neue Fernsichten eröffnet, neue Kräfte schenkt, ihnen die »Totalität« der Persönlichkeit nach Schillers Ideal schafft.

Keineswegs ist nun dieser Bildungswert der Dichtkunst zu vergleichen der Moral, die die Dichter der Aufklärungszeit ihren lehrhaften Fabeln und Erzählungen anhängten. Keineswegs soll uns etwa der Held einer Geschichte Vorbild oder Warnung sein oder die Stimmung eines Naturgedichtes Muster des gleichen Empfindens. Wir wollen nicht meinen, daß wir aus Büchern das Leben kennen lernen könnten, daß uns eine Bibliothek die Welt ersetzen könne. Wohl aber können uns die Bücher an das Rätsel Welt und Leben näher heranführen; sie können uns die Wege weisen, wenn auch nicht sie für uns gehen; sie können uns anregen zur Beschäftigung mit bestimmten Problemen, die unserem Leben sonst vielleicht fern blieben, wenn auch nicht sie für uns lösen. Sie wollen unser Urteil nicht bestimmen, aber sie können es lenken, indem sie unseren Gesichtskreis erweitern; sie wollen unseren Charakter nicht gestalten, aber sie können ihn bilden und formen helfen, indem sie ihm Wirklichkeit und Ideal vor Augen führen.

Suchen wir in diesem Sinne in der Weltliteratur, vor allem auch der jüngsten, die uns als ein Niederschlag unserer Gegenwartskultur besonders nahe steht, nach ihren Bildungswerten, so wird uns sofort deutlich, daß in der Dichtung weit mehr noch als in der bildenden Kunst der Mensch im Mittelpunkte steht: sein Charakter und seine Seelenkräfte, seine Beziehungen zur Umwelt, zu Gesellschaft und Staat, sein Verhältnis zur Natur und zu den Mächten über ihm, zu Gott und Schicksal. So führt uns der Dichter die unerschöpfliche Fülle der Charaktere vor Augen: Er zeigt uns den willensstarken Helden, der voll Tatendrang und zielbewußter Energie seiner Zeit und seiner Umgebung den Stempel seiner Persönlichkeit aufdrückt und hohen Siegespreis und äußere Ehren erntet, wie der Cheruskerfürst Hermann in Kleists »Hermannsschlacht«, und den stillen Helden, den die Willenskraft seines kernhaften Charakters nicht zu äußerem Ruhm und Glanz, sondern nur zu einem sittlichen Erfolg zu erheben vermag, wie Pawel Holub, das »Gemeindekind« Marie von Ebner-Eschenbachs. Oft ist auch die Willenskraft irregeleitet, nicht zum Segen der Menschen, sondern zu ihrem Schaden tätig, dann wird Heldentum zu Verbrechertum, wie das oft bei Shakespeareschen Helden (Macbeth, Richard III.) der Fall ist. Ebenso oft ist freilich Willensschwäche der Keim von Verbrechen: schwache Erziehung fördert die Anlage, die Umgebung zeigt die Wege, die Begehrlichkeit sucht Befriedigung, wie in Annette von Droste-Hülshoffs »Judenbuche«. Anderseits kann Willensschwäche auch Gefühlsstärke bedeuten; oft liegt darin die Tragik des Künstlerlebens begriffen, wie Goethes »Tasso« sie zeigt, wie denn überhaupt niemand so tief in die Seele des Künstlers zu blicken weiß wie der Dichter. Wer hat uns so tief in die Geheimnisse des künstlerischen Schaffens geführt wie Mörike in seiner Novelle »Mozart auf der Reise nach Prag«! So öffnet die Dichtung uns den Einblick in rätselhafte Charaktere, lehrt uns die geheimsten Regungen des Herzens verstehen und macht uns begreifen, welche Mächte es sind, die einen Charakter bilden. Wie tief dabei der Dichter in die Rätsel der Seele eindringt, die er mit der Gabe des Sehers vor uns entschleiert, das zeigt sich auch bei der Schilderung von Frauenseelen: Sei es nun Goethes Iphigenie als eine Verkörperung aller im Weibe schlummernden edlen Eigenschaften des Verstandes und Gemüts, oder Kleists Penthesilea als ein erschütterndes Zeugnis der in der liebenden Frauenseele ruhenden Kräfte, oder Kellers Frau Regel Amrain als das Idealbild einer sorgenden und erziehenden, einer selbstlosen und opferbereiten Mutter. Ebenso zart entfaltet der Dichter vor uns die Seele des Kindes. Er kennt die kleinen Freuden und Wünsche des Kinderherzens so gut wie das tiefe Leid einer geplagten, zu Tode geängstigten Kindesseele (Stifter: »Bergkristall«; Gerhart Hauptmann: »Hanneles Himmelfahrt«.) Lassen wir uns so vom Dichter zum Verständnis all der Charaktere anleiten, die wir auf unserem Lebenswege treffen können und beurteilen sollen, so gibt er uns auch Aufschluß über die sittlichen Kräfte, die das Denken und Handeln der Menschen bestimmen. Er führt uns die furchtbaren Folgen eines irregeleiteten Rechtsbewußtseins vor Augen (Kleists »Michel Kohlhaas«) oder zeigt uns in heiterer Weise, wohin ein überspanntes Ehrgefühl führen kann (Lessings »Minna von Barnhelm«). Von der starken sittlichen Kraft des Pflichtbewußtseins handelt etwa Louise von François' »Letzte Reckenburgerin«, überhaupt gern Dichtungen von Frauen; sie zeigen, wie das Pflichtgefühl den Menschen von gefährlicher Selbstsucht freihält, seinen Blick von den kleinen Sorgen ablenkt und seine Tätigkeit zu höherem Streben treibt; entsagen lernen ist meist das große Opfer, das die Pflicht verlangt. Die Summe aller sittlichen Kräfte in einem Menschen, ihr Erwachen und allmähliches Hervortreten bedingt die Ausbildung seiner Persönlichkeit. Entwicklungsromane, die solch ein Werden einer Menschenseele darstellen, wie Goethes »Wilhelm Meister« oder Kellers »Grüner Heinrich«, sind deshalb von besonderem Reichtum.

In die Entwicklung des menschlichen Charakters greifen nun aber auch äußere Kräfte ein. Zunächst ist die Beziehung zum andern Geschlecht von gewaltigem Einfluß. Da ist es besonders das Erwachen der Liebe, ihre ersten Freuden und Schmerzen, ihr Glück und ihr Hoffen, Entsagung und Verzweiflung, die immer wieder die Dichter zur Darstellung gelockt haben, vom Hohenlied Salomonis über Shakespeares »Romeo und Julia« und Goethes »Werther« bis zu Heines »Buch der Lieder« und den Novellen Storms (» Aquis submersus«) oder Fontanes (»Irrungen, Wirrungen«). Darüber hinaus aber haben auch Dramatiker wie Hebbel versucht, in die Tiefen der Beziehungen zwischen beiden Geschlechtern einzudringen, die Geheimnisse des stärksten menschlichen Triebes zu erforschen und zu deuten (»Herodes und Mariamne«). Vor allem aber ist im 19. Jahrhundert das Eheproblem immer häufiger behandelt worden. Schon von Goethe in den »Wahlverwandtschaften« zum Angelpunkt der Handlung gemacht, tritt es dann bei Ibsen (»Puppenheim«) und Fontane (»Unwiederbringlich«, »Effi Briest«) immer wieder in den Vordergrund und erscheint von zunehmender Wichtigkeit, aber auch von wachsender Tragik. Desgleichen hat die Grundlage der Gesellschaft, die Familie, in zunehmendem Maße zu dichterischer Erforschung gelockt. Vor allem ist es das Verhältnis von Vater und Sohn, den Verkörperungen der älteren und jüngeren Generation, das etwa in Otto Ludwigs »Zwischen Himmel und Erde« zu künstlerischer Behandlung gereizt hat, und darüber hinaus finden nicht nur die ethischen Werte der Familie (Goethes »Hermann und Dorothea«), sondern auch die Fesseln, mit denen sie ihre Glieder in einem bestimmten »Milieu« festhält, immer größere Beachtung. Kellers »Romeo und Julia auf dem Dorfe« oder Anzengrubers »Viertes Gebot« beleuchten dieses Problem.

Auf der Familie beruht die Gesellschaft; sie ist notwendig für jedes sittliche und kulturelle Leben. Wäre die Welt mit lauter Menschen wie den »drei gerechten Kammachern« Gottfried Kellers angefüllt, von denen jeder nur sein eigenes Selbst kennt und liebt und versorgt, so würde sie bald zugrunde gehen. Sie gliedert sich nach mannigfachen Gesichtspunkten, deren bedeutungsvollster die Gliederung nach Ständen ist. Da findet sich von alters her der Stand des Adels; wie sehr er sich der Neuzeit hat anpassen müssen, das zeigen Fontanes »Poggenpuhls«. Ebenso hat der Bauernstand gewaltige Umwälzungen durchgemacht. Das heitere Bauerndasein in Anzengrubers Komödien (»G'wissenswurm«, »Kreuzelschreiber«) oder auch die ernste angestrengte Bauernarbeit in Jeremias Gotthelfs Romanen (»Uli der Knecht«) weicht mehr und mehr zurück gegen den Kampf ums Dasein, den ein erlöschender Stand erfolglos führt: so meint jedenfalls Rosegger in vielen seiner Erzählungen (»Jakob der Letzte«) oder Polenz im »Büttnerbauer«. Neue Stände treten in den Vordergrund: der des Kaufmanns, dem schon Freytags »Soll und Haben« ein unvergängliches Denkmal setzt oder den Thomas Manns Roman »Buddenbrooks« interessant beleuchtet, und der des Arbeiters, für dessen seelentötende Tätigkeit und ausgenutzte Arbeitskraft etwa Hauptmanns »Weber« oder Zolas »Germinal« ergreifenden Ausdruck finden. – Wie auf der Familie die Gesellschaft beruht, so auf dieser der Staat. Auch vom Wesen des Staates hat wenigstens in Deutschland erst das 19. Jahrhundert unsere modernen Anschauungen herausgebildet. Die strengen Forderungen, die er an den einzelnen stellt und gegen die dem einzelnen kein Widerspruch möglich ist, bringen Kleists »Prinz von Homburg« oder Hebbels »Agnes Bernauer« zu dichterischer Darstellung. Die Aufgaben, die er nun seinerseits dem einzelnen gegenüber zu erfüllen hat, zeigen hinwiederum die oft revolutionär klingenden Gedichte unserer politischen Lyriker, besonders Freiligraths. Von den treibenden Kräften, die den Staat fortentwickeln, hat das Vaterlandsgefühl oft ergreifenden Ausdruck gefunden; man denke an Fontanes »Archibald Douglas«. Vor allem haben auch Kampf und Krieg den Dichtern reichen Stoff geboten. Feindeshaß und Siegesjubel singen Körners und Arndts patriotische Lieder, von kühnen Angriffen und trostloser Todesernte auf dem Schlachtfeld berichten Detlev von Liliencrons Gedichte und Kriegsnovellen; und wieviel verborgenes Heldentum der Krieg hervorbringt, zeigt ergreifend »Peter Moors Fahrt« von Gustav Frenssen. – Die Probleme, die Staat und Gesellschaft bewegen, führen von selbst zur Betrachtung früherer Zeiten. Auch auf dem Gebiete der historischen Dichtung hat erst das 19. Jahrhundert einen entscheidenden Aufschwung gebracht. Da wollen uns Walter Scott oder Willibald Alexis in ihren breiten Romanen, Conrad Ferdinand Meyer in seinen kürzeren Novellen, Fontane in knappen Balladen die Vergangenheit lebendig machen. Andere, wie Uhland in seinen Eberhardballaden, sehen dabei mit Sehnsucht nach der »guten, alten Zeit« zurück, und wieder Hebbel sucht die geheimsten Tiefen historischen Geschehens zu deuten (»Gyges und sein Ring«).

Aber der Mensch ist nicht nur in Staat und Gesellschaft gestellt, aus deren festgefügter Gliederung er sich nicht loszulösen vermag, sondern er steht auch in untrennbaren Beziehungen zur Natur. Sie ist uns längst, was sie dem Mittelalter noch nicht war, zum Spiegel unserer Seele geworden. Wir flüchten uns mit unsern Stimmungen zu ihr und lauschen auf ihren Gleichklang, oder wir suchen in der Natur die Stimmung, die uns Trost oder Zuversicht, Andacht oder Demut lehren soll. In der Lyrik der Völker finden wir den Ausdruck für alle Stimmungen, die die Natur hervorzuzaubern vermag, von der Aufgeregtheit des tobenden Meeres bis zur feierlichen Stille eines von der Abendsonne beschienenen Ackerfeldes. Diese Kraft der Natur, unsere Seele mannigfach schwingen zu lassen, hat dann – bei uns seit Goethe – die Dichter eine Seele in der Natur suchen lassen. Beispiele solcher Naturbeseelung bieten außer Goethes etwa Heines, Lenaus, Mörikes Lyrik. Mit der Zunahme der naturwissenschaftlichen Erkenntnis ist auch die Beobachtung der Natur durch die Dichter immer schärfer geworden. Mit allen Sinnen lauscht Eichendorff auf die Stille der Nacht oder beobachtet Stifter (»Das Heidedorf«, »Der Hochwald«) die kleinsten Regungen pflanzlichen und tierischen Lebens. Es ist klar, daß bei einem so völligen Aufgehen des Menschen in die Natur diese auf die Charakterbildung Einfluß haben muß; so haben denn grade in neuerer Zeit besonders Erzähler darzulegen versucht, wie das Wesen eines Menschen von der Art des Bodens, auf dem er erwachsen ist, beeinflußt wird; man denke an Frenssens »Jörn Uhl«.

Über dem Menschen, unberechenbar und unbeeinflußbar, stehen die heimlichen Mächte, die wir unter dem Begriff des Schicksals zusammenfassen. Was das Schicksal ist, darüber haben die verschiedenen Zeiten verschieden gedacht. Bei den griechischen Tragikern sind es die Götter, die, menschlicher Regungen voll, guter wie böser, das Geschick der Menschen bestimmen, mitleidslos wie im »König Ödipus«, sanfter Gefühle fähig wie in Euripides' »Iphigenie«. Shakespeare sucht das Schicksal im Charakter, in der eigenen Brust (»Hamlet«, »König Lear«), und diese Auffassung finden wir auch in Schillers »Wallenstein« und »Maria Stuart«. Dem 19. Jahrhundert wird mehr und mehr die Umwelt des Menschen, sein »Milieu«, zum Schicksal. Die Gesellschaft, die Familie, die Natur machen den Menschen zum Verbrecher, zum Künstler, zum Eroberer; eine Anschauung, die besonders der Naturalismus gern vertreten hat, die sich auch in Ibsens »Gespenstern« findet.

Schon dieser flüchtige Gang durch das große Reich der Dichtkunst läßt es offenbar werden, wie eng die wechselseitigen Beziehungen sind, die zwischen ihr und dem Leben bestehen. Je deutlicher ein Dichtwerk Ausdruck seiner Zeit ist, desto näher kommt es unserem Verständnis; je wichtiger die Bildungswerte sind, die es uns überliefert, desto bedeutender wird es für unser eigenes Leben sein. Diese Beziehungen zwischen Leben und Dichtung müssen klar sein, wenn uns das Kunstwerk etwas »sagen« will. Den schönsten Beweis dafür liefert Goethes »Faust«. Diese universale Dichtung, universal schon in der Summe der Kunstformen – dramatisch, episch, lyrisch – und Kunststile – realistisch, klassisch, romantisch – die es in sich vereinigt, ist ein überaus klarer Ausdruck der Kultur der beiden Menschenalter, in denen es entstanden ist. In Faust, dem Gefühlsmenschen, dem Grübler und Genießer, ist so treffend das 18. Jahrhundert mit seiner auf Beschaulichkeit und Betrachtung gerichteten Eigenart verkörpert, wie im Faust, dem Tatmenschen der letzten Akte, das willenskräftige, auf Handeln und Tätigkeit gerichtete 19. Jahrhundert. Und unerschöpflich ist die Ideenfülle dieses Werkes; denn alles, was einen weltumfassenden Geist wie Goethe in der ganzen Ausdehnung eines unerhört gesegneten Lebens beschäftigt hat, fand im »Faust« seinen Niederschlag und trägt unermeßliche Früchte dem, der sich darein vertieft. Was uns eine Dichtung wie diese im einzelnen gibt, das schenkt uns im großen die Summe der Weltliteratur. Denn in ihrer unerschöpflichen Mannigfaltigkeit ist sie der Niederschlag der Kulturen und Ideale, der Erlebnisse und Stimmungen aller Zeiten. In ihr spiegelt sich das ganze Weltall, und indem wir in diesen Spiegel blicken, erheben wir unser persönliches, einseitig beschränktes Leben sowohl nach der Fülle des Inhalts wie der Verschiedenartigkeit der Betrachtungsweise zu einer sonst unerreichbaren Höhe und Vielseitigkeit.


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