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II. Unsere Kultur

1. Die Entwicklung der geistigen Kultur

Den Inbegriff unseres Wertvollsten, dessen Erschaffung unseren Hauptruhmestitel darstellt, dessen Erhaltung und Mehrung unsere Hauptaufgabe bildet, nennen wir unsere geistige Kultur. Ihren Inhalt in einer klaren Wortbestimmung erschöpfen zu wollen, wäre ebenso schwierig wie müßig: was gemeint ist, sieht jeder leicht ein, wenn er sich im Streit der Meinungen auf dasjenige besinnt, was, selber nicht umstritten oder nicht mehr umstritten, diesen Streit erst ermöglicht und fruchtbar macht. Ob die Entstehung der lebendigen Welt rein mechanisch zu erklären sei oder aber unter Zuhilfenahme einer geheimnisvollen Lebenskraft, darüber wogt ein ernster Streit; darüber jedoch, daß sie so oder anders erklärt werden muß, und daß diese Erklärung etwas Wertvolles ist, darüber sind wir einig, und demjenigen, der uns etwa mit einem überlegenen »Was geht euch das an!« auf andere Gedanken bringen wollte, weisen wir mitleidig oder verächtlich die Tür. Und ob die Malweise unserer Alten oder aber der und jener Pfad des modernen ästhetischen Irrgartens uns dem ersehnten Schönheitsideal näher bringt, darüber mögen die Meinungen und Gefühle heftig aufeinanderplatzen; das Recht indessen, es zu ersehnen und der Verwirklichung dieser Sehnsucht zu leben – dies Recht betrachten wir als die Grundlage jenes Streites, als dasjenige, was ihm seine Bedeutung verleiht. Und ob endlich der leidenden Menschheit mit den Mitteln des Liberalismus oder denen des Sozialismus Hilfe gebracht werden kann – nein, greifen wir tiefer: ob ihr im großen ganzen oder in ihren stärksten und besten Vertretern eine solche geleistet werden soll – darüber streiten wir mit aller Erbitterung der Leidenschaft; die Pflicht indessen, am Wohl der Menschheit, wie wir es immer verstehen mögen, nach Kräften zu arbeiten, schwebt unerreicht über dem Parteigewoge wie die Sonne über dem Staube und Qualme der Schlacht.

Das sind die drei großen Ja, das heilige Trigon, das für uns das Gottesauge des Ideals umschließt – das Wahre, das Schöne, das Gute. Nicht als ob ein Nein hier an sich unmöglich wäre: es läßt sich hin und wieder hören, aber wie ernst es auch von seinem Autor gemeint ist – wir nehmen es mitsamt seinem Autor nicht ernst, vielmehr gilt uns dieser – je ernster er es meint, um so mehr – als ein Feind unserer Kultur, als ein Barbar.

Hie Kulturmensch, hie Barbar – vor zwei Jahrtausenden lautete der Gegensatz etwas anders, man sagte: hie Hellene, hie Barbar. Der ruhende negative Pol lehrt uns die Wandlung erkennen, die der positive erlitten hat, aber auch die Linie der vollzogenen Bewegung: in der Tat, aus dem damaligen Hellenismus hat sich unser heutiger Europäismus, das will sagen unsere heutige geistige Kultur entwickelt. Dennoch wäre es falsch, zu behaupten, diese wäre aus jener entstanden, wie der Baum aus dem Steckling entsteht: vielmehr hat der Hellenismus – oder, wie wir gewöhnlich sagen, die Antike – zwei weitere Elemente aufnehmen müssen, um jene Entwicklungskraft zu erlangen, die sie befähigte, zu dem Gesamtumfang unserer heutigen geistigen Kultur heranzuwachsen: das eine ist das Christentum, das andere das nordeuropäische Volkstum.

Gehen wir von der Antike aus, so ist es ja freilich eine Täuschung, wenn man in ihr eine ruhende und einheitliche Größe sehen zu können vermeint und in diesem Sinne die Gegensätze »antik und christlich« oder auch »antik und modern« schmiedet; dem Forscher zerrinnt der Begriff der in sich vollendeten Antike unerbittlich unter den Händen: er hat es in allewege mit einem rastlosen Vorwärtsstürmen, mit einer nie stillstehenden Entwicklung zu tun. Sucht er sodann nach Marksteinen innerhalb dieser Entwicklung, will er ihr reiches und wie alle Natur verwickeltes Gesamtbild auf eine einfache Umrißzeichnung, wie sie der menschliche Geist braucht, zurückführen, so findet er leicht, daß es hauptsächlich drei gewaltige Ereignisse sind, die den Strom der antiken Kultur zeitweilig eingedämmt haben, auf daß er sodann mit erneuter Macht anschwellen und dahinströmen konnte – die dorische Wanderung, die Perserkriege und der Zug Alexanders des Großen.

Jenseits der ersten dieser drei Ereignisse liegt die achäische Antike der patriarchalischen Monarchie und der Zeusreligion. Was sie auf dem Gebiete der Kunst erreicht hat, ersehen wir jetzt mit freudigem Staunen aus den in ihren Trümmern in Tiryns, Mykene und jüngst in Kreta wiedererstehenden Schöpfungen ihrer Kultur; ihren unmittelbaren Nachfolgern ging es verloren, sie haben nach Zerstörung der achäischen Herrscherburgen alles von vorne lernen müssen. Aber der rein geistige Ertrag der achäischen Gedanken- und Gefühlsarbeit, jene wunderbare Zeusreligion mit ihrem so eigenartigen Gemisch von Göttermacht und Götternot, ihrer hoch über Götter- und Menschenleben thronenden Schicksalsidee, ihrem menschlich ringenden und menschlich untergehenden Götterheiland (für uns verkörpert in der Gestalt des Herakles), den sein Vater dazu gezeugt, die Schrecknisse der hereinbrechenden Götterdämmerung, der Gigantomachie, zu bestehen – dieses schöne und stolze Meisterwerk des sinnenden und ahnenden Menschengeistes ist nicht untergegangen. Getragen von all dem Glanze des frühgriechischen Rittertums und seiner Schlachten, hat es nicht allzulange nach dem Zusammenbruch der achäischen Kultur im homerischen Epos seinen Niederschlag gefunden. Und auch das menschliche Abbild des achäischen Götterstaates, die homerische Gemeinde mit ihrem König an der Spitze, der als der Priester, Heerführer und Richter seiner zur Polis, zum Stadtstaat, erweiterten Familie Vaterehren bei seinen Untertanen genießt – auch sie hat den Fall ihrer Schöpfer überdauert und ist als die Keimzelle künftiger Bürgerkämpfe in die nun folgende, in die hellenische Welt hinübergegangen.

Diese hat zunächst in der neuen Religion, die durch sie geschaffen wurde – denn was uns im Olympischen Götterverein der späteren Sage und Dichtung entgegentritt, sind ursprünglich Gestaltungen des Glaubens verschiedener Zeiten und verschiedener Stämme –, der apollinischen, die alte Vorstellung vom eingeschränkten und bedrängten Götterfürsten überwunden: Apollon, so drückt es die Sage aus, hat den Erddrachen getötet und seinen Vater zum Herrn des Schicksals gemacht; und so durchdringt, durch den überragenden Einfluß Delphis gefördert, jene freudige, lebenbejahende Stimmung die hellenische Geisteswelt, deren Nachhall die große Lyrik des 6. und 5. Jahrhunderts darstellt. Andererseits werden unter der Oberfläche durch die beiden anderen Hauptreligionen der Zeit, die dionysische und demetrische, die aus der Wiedergeburt der im winterlichen Todesschlaf erstarrten Natur die bevorstehende Befreiung unserer Seele aus den Banden des Todes erschlossen, in den verschwiegenen Gemeinden der Eingeweihten, in den Mysterien, die Ahnungen eines besseren Jenseits ausgestreut, die den Boden des antiken Geistes für den Samen des Christentums dereinst empfänglich machen sollten. Die Kunst wandelt sich zuerst unter dem aufstrebenden religiösen Gedanken: an Stelle der weltlichen Kunst des achäischen Zeitalters, die mitsamt den weltlichen Herrensitzen hatte untergehen müssen, entsteht jetzt eine ideale, überweltliche Kunst: Gotteshaus und Gottesbild hat die apollinische Religion geschaffen. Überweltlich, nicht außerweltlich: namentlich die Plastik ist bestrebt, in ihren Schöpfungen die schöne Natur zum Ausdruck zu bringen, und am Ausgang unserer Periode steht dieser Wunsch fast dicht vor dem Tore der Erfüllung. Daß dies gelang, lag an Bedingungen, die nirgends und niemals wieder eintraten; dieselbe apollinische Religion hatte auf allen Gebieten des Lebens den Geist der Agonistik, des Wettkampfes, entstehen lassen: in den Ringschulen der Knaben und in den Festreigen der Jungfrauen hatte der Künstler eine überwältigende Fülle von Motiven schöner Natürlichkeit, die von selber zur Darstellung drängte. Gleich der bildenden Kunst war, oder vielmehr wurde, auch die Poesie religiös: hatte das Epos der ausgehenden achäischen Zeit den uralten Kern der Weltentstehungs- oder Weltuntergangssage mit reichem weltlichen Stoffe übersponnen, so sehn wir nun die neuerstehenden Gattungen der Lyrik, der Schöpfung der hellenischen Periode, dem Dienste des delphischen Gottes geweiht, dessen Dogmen sie auf dem Gebiete der Religion, der Moral, ja sogar der Politik vertritt. Auch die beginnende Prosa knüpfte zunächst an die Religion an: die Spekulationen über die Weltentstehung gaben der philosophischen, die genealogischen Klitterungen – der historischen Forschung die erste Nahrung, wenngleich dort die wachsende Denkerstrenge bald zur Überwindung des persönlichen Gottes durch die überwesenhafte Gottheit führte, hier die ionische Wanderlust die Sage von der Urzeit durch die Mär aus der nächsten Vergangenheit ersetzte. Hier wie dort war es die Wahrheit, die siegreich der Schönheit ihre Pfade wies; und dieselbe Wahrheit war es auch, die um dieselbe Zeit die hellenische Wissenschaft ins Leben rief – nicht als ein im Banne der Nützlichkeit stehendes System von praktischen Maßnahmen der Heilkunst, der Feldmessung oder anderer »Künste«, sondern, und das ist eben das Einzigartige, als ein Erzeugnis des freien und uneigennützigen Forschungstriebes. Und wie Hellas darin – in der Anerkennung der erhebenden und veredelnden Kraft der selbstlosen Wissenschaft – allen folgenden Völkern die Leuchte vorantrug, so war es auch dasselbe Hellas, das um dieselbe Zeit die vorbildliche Haltung, wenn der Ausdruck erlaubt ist, des wahrhaft wissenschaftlichen Forschers schuf: den Fuß fest aufgestemmt auf den sicheren Boden der Erfahrung, den Blick aufwärts gerichtet nach den Höhen des absolut Wertvollen.

Die Bäume, an denen all diese Früchte reiften, erfreuten sich durchaus keiner sonnenwarmen und windstillen Witterung: es war vielmehr eine stürmische, von äußeren und inneren Unruhen durchwütete Zeit. Aus dem Königtum der achäischen Epoche war verhältnismäßig unblutig eine Adelsherrschaft hervorgegangen, die denn auch die Sanktion des delphischen Gottes erhielt; sie gegen die Tyrannei auf der einen, gegen die Demokratie auf der anderen Seite zu schützen, war eine Gesellschaftsordnung vonnöten, die die Tüchtigkeit aller Mitglieder bis aufs äußerste steigerte und dabei dem hochgemuten einzelnen ein erlaubtes, staatsungefährliches Ziel seines Ehrgeizes wies. Das war die Gliederung nach Verbänden gleichartiger Teilnehmer, Thiasoi, die die auf den Familien beruhende patriarchalische Gesellschaftsordnung ersetzen sollte. Diese Verbandgliederung war auch die natürliche Grundlage der obenerwähnten, vom delphischen Gott mächtig geförderten Agonistik, die nach und nach das gesamte hellenische Wesen durchdrang und als seine schönste Frucht den hellenischen Begriff der Arete, der als Tüchtigkeit gefaßten Tugend, zeitigte.

Ihr Werk war der Sieg in den Perserkriegen und seine unvermeidliche Folge, daß der Staat, der aus diesem großen Staatenagon, aus dem wetteifernden Kampf um die nationale Selbstbehauptung, als der tüchtigste hervorgegangen war, fortan der Mittelpunkt der geistigen Kultur Griechenlands wurde; die hellenische Periode lief in die attische aus. Neue religiöse Werte von überragender Bedeutung hat diese Periode nicht geschaffen, aber während das Volk streng und zäh an väterlichem Brauch und Glauben festhielt und nur in der Wendung zu den heimatlichen Göttern Athens, Dionysos und Demeter seiner antidelphischen Stimmung Raum gab, vollzog sich auf den Höhen eine fortschreitende Verweltlichung der Kultur. Wohl feiert die religiöse Architektur in den Bauten der Akropolis ihren höchsten Triumph; aber schon macht sich das Bestreben geltend, auch die Arbeits- und Erholungsstätten des souveränen Volkes künstlerisch zu gestalten; neben dem Tempel wird die Stoa, die Säulenhalle, in ihren mannigfaltigen Formen entwickelt, deren eine – die sog. Königshalle, die »Basilika« – in der Folgezeit zu ungeahntem Ansehen gelangen sollte; später entstand auch das Theater als Kunstbau. Auch die Plastik bewegt sich anfangs in vorwiegend religiösem Geleise; es gelingt ihr das Gebundene der archaischen Kunst abzustreifen und mit Phidias das Ideal der strengen Schönheit zu erreichen; indem sie aber darüber hinaus eine Vermenschlichung der Götter erstrebte, führte sie unbemerkt ihre eigene Verweltlichung herbei, die in dem glänzenden Doppelgestirn des 4. Jahrhunderts – Praxiteles, dem Meister des Ethos, und Skopas, dem Meister des Pathos – ihren Höhepunkt erreichte. Vorwiegend weltlich war von Anfang an die Malerei, die wir im 5. Jahrhundert von der Gebundenheit des Polygnot zur lebendigen Wiedergabe der ruhenden Natur, im 4. Jahrhundert auch zu der der Gemütsbewegung fortschreiten sehen. Rascher vollzieht sich dieselbe Wandlung in der Poesie, deren große Schöpfung in unserer Periode das dionysische Drama ist. In der Tragödie ist sie an die Namen des attischen Triumvirats geknüpft: Äschylos der Priester, Sophokles der Künstler, Euripides der Denker – mit jeder weiteren Stufe tritt die religiöse Idee zugunsten der Darstellung menschlicher Gemütsäußerungen zurück, vorab der mächtigsten unter ihnen, der Liebe. Ein weiteres Fortschreiten war auf dem Gebiete des Heroendramas unmöglich: die Motive der euripideischen Tragödie, Liebeswesen und Ränkespiel, übernahm die Komödie, um mit ihnen jene Lücke auszufüllen, die entstanden war, als die beim Glanz des dionysischen Zaubers aufgebrochenen Blüten der älteren, der aristophanischen Komödie – Märchenzauber und Spott –, mit dem Erlöschen jenes Glanzes verwelkt waren. So erwuchs um die Wende der attischen Zeit die neue, die menandrische Komödie, die uns gerade jetzt in größeren Bruchstücken wiedergeschenkt ist; indem sie die Errungenschaften der Tragödie der Schilderung der Menschenwelt zugute kommen ließ, wurde sie von selbst zu jenem trotz aller Komik ernsten Sittendrama, das seitdem dank seiner römischen Spiegelungen in Plautus und Terenz für alle Zeiten vorbildlich gewesen ist.

Daß es dazu kommen konnte, dazu war allerdings die Mitwirkung einer anderen Macht nötig, der Philosophie – aber freilich, der von der Weltdeutung zur Sittenlehre ungewandelten. Sokrates hat »die Philosophie vom Himmel auf die Erde geführt«; er hat noch mehr getan, er hat das sokratische Warum vor die Pforte der Arete gestellt und sie dadurch von der gottgegebenen, instinktiven Tüchtigkeit zur bewußten, auf das Wissen gestützten Tugend umgeschaffen. Auf seinen Pfaden ging Plato weiter: indem er den sokratischen Tugendbegriff an die Spitze jenes von der hellenischen Periode herausgearbeiteten lebenbejahenden Eudämonismus stellte, schuf er den Satz von der zur Glückseligkeit genügenden Tugend, das seitdem das Glaubensbekenntnis des edlen Heidentums geblieben ist. Indem er aber zugleich jener anderen mystischen Unterströmung in seinen großartigen Weltentstehungs- und Weltuntergangsspekulationen Raum gewährte, wurde er für Heiden wie für Christen zu einer Quelle der in sich gekehrten, auf Verinnerlichung der Erkenntnis gerichteten Mystik und damit unwillkürlich zu einem Religionshaupt. Die Einseitigkeit aber, die in dieser Bevorzugung des Seelenlebens lag, wurde durch Platos großen Schüler Aristoteles ausgeglichen, der für den griechischen Gedanken den Boden der Erfahrung zurückgewann und damit das Aufblühen der Wissenschaften in dem nun folgenden, durch die Idee des Weltreichs bedingten, dem ökumenischen Zeitalter ermöglichte. Daß mit der also emporgewachsenen Philosophie auch in der entsprechenden Gattung der Kunstprosa ein Höhepunkt erreicht war, soll nur nebenbei bemerkt werden: das sokratische Warum fand im philosophischen Dialog sein natürliches literarisches Gewand. Noch früher hatte die zweite Gattung, die Geschichtschreibung, ihre höchste Stufe in Thukydides erstiegen, der dem von seinen Vorgängern überkommenen Wahrheitsstreben in der von ihm entdeckten historischen Kritik ein taugliches Werkzeug geschaffen hatte. Er fand Anerkennung und Nachfolge, bis das 4. Jahrhundert auch hier die strenge Schönheit zugunsten der reizvollen zurücktreten ließ und die Forderung des Stiles aufstellte, dem sich von nun ab die historische Wahrheit zu beugen hatte. Diese Forderung selbst wurde nun von der dritten Gattung der Kunstprosa geschaffen, die ganz der attischen Zeit angehört, von der Beredsamkeit. Isokrates war der Schöpfer des künstlerischen Stils, der bereits in der attischen Zeit die Geschichtschreibung, in der hellenistischen nach und nach die übrigen Gattungen der Literatur eroberte.

Alle diese Blüten und Früchte hat der attische Staat hervorgebracht; einzig und allein sich selbst als einen Nationalstaat zu schaffen, ist ihm nicht gelungen, an dieser Aufgabe ist er verblutet. Die attische Zeit hat die Aristokratie durch die Demokratie ersetzt und dem lockeren dorischen Staatenverband das festergefügte seemächtige attische Reich entgegengestellt: auf beiden Gebieten hat sie mit verhängnisvoller Eile die Rechtsfrage zu einer Machtfrage umgewandelt und doch nur den Beweis geliefert, daß Demokratie und Imperialismus unvereinbar sind. Aber während der wirkliche Staat, von Dike verlassen, unstet von Klippe zu Klippe geschleudert wurde, erstand im Herzen der Besten das Idealbild eines Staates, der dem Dienste der Gerechtigkeit gewidmet war: die Staats lehre, wie sie Plato geschaffen hat, ist einer der stolzesten Ruhmestitel Athens.

Es ist für die Antike bezeichnend, daß die Idee eines Nationalstaates in ihr keine Verwirklichung gefunden hat; die Polis, der Stadtstaat, wurde sofort durch das Weltreich abgelöst, das hellenisch-orientalische Weltreich Alexanders, das in seinen Stücken fortlebte, bis es durch Rom zum hellenisch-römischen Weltreich neu zusammengezimmert wurde. So brach die letzte, die ökumenische Periode an. Dieses Weltreich konnte nun freilich kein demokratisches und auch kein aristokratisches sein: mit zwingender Gewalt suchte das Imperium seinen Imperator und fand ihn im römischen Kaiser. Das war mehr als eine Institution – es war eine Idee, unter deren Bann seitdem alle Jahrhunderte gestanden haben bis in die neueste Zeit hinein. Unter dem Schutze dieser Idee kam auch das Recht, freilich nur das bürgerliche, zu seiner vollen Ausbildung – von den bescheidenen, handwerksmäßigen Anfängen der hellenischen Gesetzgebungen und des römischen Zwölftafelrechtes durch die mannigfachen Wandlungen der prätorischen Edikte und der Entscheidungen der Sachverständigen hindurch: nicht umsonst hieß es seitdem in der neueren Zeit in seiner endgültigen, vorbildlichen Fassung das »kaiserliche« Recht. Auch sonst waren vorzugsweise monarchische Institute die Mittelpunkte der Kultur: eines von ihnen, das »Museum« der Ptolemäer in Alexandrien – zugleich eine »königliche« Akademie, Universität und Bibliothek –, hat als eine staatliche Pflegestätte der Wissenschaft der Zeit ihr Siegel aufgedrückt und ihrer ersten Hälfte den Namen der alexandrinischen gegeben. Ein mächtiger Fortschritt der Wissenschaft war die Folge, der Naturwissenschaften sowohl wie der Geisteswissenschaften: was die Antike auf wissenschaftlichem Gebiet als Besitz und Vorbild hinterlassen hat, war, mochte es auch in späteren Überarbeitungen auf uns gekommen sein, vorzugsweise eine Errungenschaft dieser Alexandrinerzeit – der Gehalt und noch mehr der Geist, der freie, echte Geist selbstloser Forschung.

Freilich erlahmte dieser Aufschwung in der Römerzeit; doch wäre es unbillig, deshalb diese Zeit, die im zweiten nachchristlichen Jahrhundert ihre Blüte erreichte, geringzuschätzen. Man lebte unter dem Zeichen der Vollendung; statt weiter zu suchen, wollte man des Gefundenen froh sein und es möglichst vielen übermitteln; dieses Bedürfnis strebte das großartige Bildungssystem mit seinen zahlreichen Hoch-, Mittel- und Volksschulen zu befriedigen. Freilich kam noch eins zur Hilfe: jener Stil, den die attische Zeit geschaffen hatte, jene einseitige Forderung der kunstmäßigen Gestaltung bemächtigte sich auch der Wissenschaft, und so wie die stilisierte Wissenschaft zur allgemeinen Bildung umgeschaffen war, wurde ihr von selber, neben der leichten Faßlichkeit, das täuschende Aussehen der Vollendung gegeben. Dasselbe Schicksal teilte die Philosophie, die nun erst zur anerkannten Lebensleiterin geworden war: ob man mit der Stoa Platos Heroengedanken von der Selbstgenügsamkeit der Tugend pflegte oder mit den Neuplatonikern mystische Vereinigung mit der Gottheit erstrebte oder endlich zum Ranzen des Diogenes griff und in der absoluten Bedürfnislosigkeit sein Heil suchte – immer war es ein bereits Bekanntes, das man sich zu eigen machte, die Zeit des Suchens schien ihr Ende erreicht zu haben.

Stilisierte Philosophie, stilisierte Geschichtschreibung, d. h. nach unserer Auffassung monumentale Historie, denn das Geschichtswerk des Livius ist auf diesem Boden entsprossen; endlich, wie sich von selbst versteht, stilisierte Redekunst, die auf der Bühne des Lebens in Cicero ihr Höchstes leistete und sich dann, wie übrigens schon vorher, allüberwältigend in den Schuldeklamationen ausbreitete, von wo aus sie zwei neue literarische Gattungen von überragender Bedeutung schuf oder schaffen half, den Roman und die Novelle. Diesen Eingriffen in ihr Recht konnte die Poesie auf die Dauer nicht widerstehen: nachdem sie in der Alexandrinerzeit ihre romantische Periode erlebt, brachte sie es sodann auf römischem Boden zu einer neuen klassischen Nachblüte, die um so bedeutsamer war, weil der nach größtmöglicher Vereinfachung strebende Geist des Römers darin den griechischen Gehalt und die griechischen Formen zu einer auch für die Folgezeit faßlichen und wirksamen Macht gesteigert hatte; dann sank sie aber, besonders in der griechischen Reichshälfte, zu völliger Bedeutungslosigkeit herab: die Prosa herrschte und mit ihr ihr überkünstlicher Stil. Daß übrigens diese Literatur vollständig verweltlicht erscheint, versteht sich von selbst. Dasselbe gilt von der Kunst des Weltreiches, woran uns vereinzelte religiöse Unternehmungen der Gewalthaber nicht irremachen können; die Architektur verwendet in diesen ihre alten Formen, wirklich Neues schafft sie nur auf weltlichem Gebiete, in der Basilika, der dem öffentlichen Verkehr dienenden »Königs«-Halle, dem Theater mit seinem folgereichen Fassadenbau, vor allem aber in der reizvollsten Schöpfung der Zeit, dem hellenistisch-römischen Privathaus, wie es uns in Pompeji in zahllosen Variationen wieder lebendig geworden ist.

Erscheint so die Religion aus allen übrigen Gebieten der geistigen Kultur durchaus verdrängt, so führt sie auf ihrem eigenen Gebiete ein um so regeres Leben. Mit der Polis hatten auch die Götter der Polis ihre Bedeutung verloren; die ökumenische Zeit verlangte nach einer ökumenischen Gottheit. Als solche boten sich während der Alexandrinerzeit und später die unplastischen und allumfassenden Gottheiten des Orients dar: Kybele, Isis, Mithras; auch der Gott Israels hatte infolge des entwickelten Proselytismus seine nationale Bedingtheit aufgegeben und warb in beiden Reichshälften eifrige Anhänger von »Gottesfürchtigen«. Dazu hatte sich jedoch im Laufe des ersten vorchristlichen Jahrhunderts, infolge eines wunderbaren Zusammentreffens entsetzlicher Erschütterungen des Weltreichs mit uralten, noch auf die Zeusreligion zurückgehenden Prophezeiungen eines Weltuntergangs und einer Weltverjüngung, ein tiefgehendes Erlösungsbedürfnis der Gemüter bemächtigt: man sprach von Erbsünde und Erbfluch, von einem großen Führer und Heiland, der die dem Untergang geweihte Welt reinigen und einem neuen Stande der Unschuld zuführen sollte. Der Kaiser Augustus verdankt dieser Bewegung Name und Ansehn; aber während dieser Same, auf das Saatland der Zeit geworfen, nur einen gotteslästerlichen Kaiserkult ergab, der alsbald als offizielle Soldatenreligion zu einem schweren Gewissenszwang wurde, reifte im stillen, von einer wachsenden Schar hingebender Jünger gepflegt, die eigentliche ökumenische Religion heran, das Christentum.

Das Christentum ist auf dem Boden des Judentums entsprossen, ist ihm aber innerlich fremd und aus ihm heraus nicht zu verstehen. Die den Mittelpunkt seiner Glaubenslehre bildende Idee des Gottmenschentums war dem Judentum ein feindseliges Element, das es entweder gesprengt hätte oder aber von ihm abgestoßen werden mußte; ebenso war die im Mittelpunkt seiner Sittenlehre stehende Idee, die der freien Gotteskindschaft der liebesbewußten Seele, geradezu ein Protest gegen das strenge Leben unter dem Gesetz, wie es das nachexilische Judentum mit zunehmender Peinlichkeit verlangte. Die fortschreitende Hellenisierung Judäas in der ökumenischen Zeit läßt uns diesen Protest und jenen Gedanken des Gottmenschentums begreiflich erscheinen; die Tatsache aber, daß das Christentum nachmals von dem Judaismus verleugnet wurde, sich dagegen dem antiken Heidentum so sehr wahlverwandt erwies, daß sein Verbreitungsgebiet mit dem römischen Weltreich nahezu zusammenfiel – diese Tatsache beweist hinreichend, daß das Christentum geradezu als die religiöse Krönung der antiken Welt in ihrer Entwicklung von der achäischen zur ökumenischen Periode verstanden werden muß. Wenn wir dennoch das Christentum als eine von der Antike verschiedene Kulturmacht auffassen und jener entgegensetzen, so geschieht es, weil wir jenen Begriff enger zu fassen gewohnt sind: das Christentum knüpft an jene öfter genannte mystische Unterströmung an, während es die verstandesmäßige Oberströmung war, die der Antike ihr eigentümliches Gepräge gegeben hatte. Nur so war es möglich, daß innerhalb der Antike die eigentlich heidnische Antike und das Christentum geradezu als Gegensätze gefaßt werden konnten.

Dazu trat allerdings noch eins. Äußerlich aus dem Judentum hervorgegangen und im Eifer des Glaubenskampfes auf das Judentum gelehnt, hat das Christentum in der seit seiner ersten Entwicklung auch dessen Haß gegen die heidnische Kultur, das will sagen gegen die Kultur überhaupt, offen zur Schau getragen. Einen Grund dazu bot diese Kultur selber nicht dar: sie war, wie wir gesehen haben, gründlich verweltlicht. Aber wie seinerzeit das echte Judentum, auf der Grenzscheide zwischen orientalischer und hellenischer Gesittung, unter stolzer Ablehnung beider einem einzigen Kulturwert, dem Gesetz des Herrn, seinen Dienst widmete, so stellt auch jetzt das kämpfende Christentum all den Errungenschaften der Antike, ihrem Staat und Recht, ihrer Kunst und Literatur, ihrer Philosophie und Wissenschaft, einen einzigen Gedanken als den überwertigen entgegen: den Gottesfrieden der durch Christus befreiten Seele. »Wir brauchen nicht mehr zu suchen, seit wir Christum haben.« Das war das Christentum unter dem Zeichen der Vollendung, das seinen Siegeszug begann, »als die Zeit erfüllt war«. Es sollte als solches auch nicht mehr verlorengehen. Indem es sich an das Ewige und Unveränderliche im Menschen wandte, an seine gottbedürftige Seele, hat es dieser für alle Zeiten eine sichere, von der Brandung der Entwicklungsstürme unerreichte Freistatt geschaffen. Nur war es freilich nicht das ganze, nicht das tätige und bewegte Christentum. Was das ewige Licht der Vollendung am hellsten über dem werdenden Christentum glänzen ließ, waren die obengenannten Ahnungen eines bevorstehenden Weltuntergangs; ihre heidnischen Deutungen lehnte das Christentum mitsamt dem Kaiserkult ab, um dafür in Christus allein den erwarteten Heiland zu finden.

Als nun dieser Untergang doch nicht eintraf, ergab sich die Notwendigkeit, sich mit der fortbestehenden Welt und ihrer Kultur, so gut es gehen mochte, abzufinden; das Christentum betrat die Bahn der Entwicklung, und das Endziel dieser Entwicklung war für die ökumenische Periode und die Antike überhaupt jenes Christentum des Ausgleichs, das nahezu von allen Elementen der antiken Kultur etwas in sich aufnahm und das Aufgenommene eben dadurch heiligte und der neuen Welt übermittelte. Es übernahm das Reich und seinen Kaiser und schuf zuerst eine Art Cäsaropapismus, aus dem sich später, zumal nach dem Zusammenbruch des westlichen Reichs, der römische Pontifikat entwickelte, bis auf den heutigen Tag der echte Erbe des römischen Imperiums. Es übernahm die antike Philosophie und wandelte sie zur christlichen Theologie und christlichen Ethik um; und weil also dem Denken auf dem Gebiete des Glaubens ein so großer Spielraum gegönnt wurde, fanden auch die Denkgesetze und ihr Meister Aristoteles vor dem Christentum Gnade. Es übernahm zu gottesdienstlichen Zwecken, soweit es beim Verfall der Fertigkeit anging, die antike Kunst, die Musik eingeschlossen; nur konnte freilich das christliche Gotteshaus nicht an die heidnische Tempelform anknüpfen, die eben darum dem Untergang anheimfiel, sondern an einen Profanbau, die aus der attischen Königshalle entwickelte ökumenische Basilika, die also die Stammutter der mittelalterlichen Dome wurde. Es übernahm endlich, und das war das folgenschwerste, die antike Schule und mit ihr einerseits ein Stück antiker Wissenschaft, die sogenannten sieben »Künste« ( artes), andererseits ein Stück antiker Literatur, Poesie wie Prosa; beiderseits allerdings nur kleine Ausschnitte, die aber dem Rest, soweit sich dafür Platz fand, wenigstens ein unangefochtenes Dasein sicherten.

Soweit sich dafür Platz fand – denn allerdings macht das Gebaren der gelehrten Kreise im letzten Jahrhundert der ökumenischen Zeit ganz den Eindruck, als suchten sie, des Schiffbruchs gewärtig, ihren Kulturbesitz auf möglichst geringen Umfang einzuschränken, um ihn so vor dem Untergang zu bewahren. Es tat not: das vielgefährdete, abgetakelte und lecke Schiff des römischen Imperiums scheiterte endlich in den Stürmen der Völkerwanderung. Der Eintritt der nördlichen Völker in die Weltgeschichte bildet, so sehr man auch über den Zeitpunkt streiten mag, die Grenzscheide zwischen der antiken und der neuen Welt; mit ihnen führt sich das nordische, vorwiegend germanische Volkstum als dritte Macht in die Kulturentwicklung ein.

Die seine Veranlagung hauptsächlich bestimmende Eigenschaft im Gegensatz zu der der Völker des klassischen Südens ist ebendieselbe, die schon vor Jahrhunderten sich Platos wunderbarem Seherblick offenbart hatte: eine starke Willenskraft im Gegensatz zum vorwiegend verstandesmäßig veranlagten Hellenentum. Damit war zweierlei vorausbestimmt: einerseits die naturgemäße Schülerstellung jenes Volkstums der Antike gegenüber, andererseits aber auch, daß das Reis des antiken Intellektualismus, auf diesen wurzelstarken und saftreichen Wildling gepfropft, es zu weit mächtigerer Entwicklung bringen sollte, als ihm je auf dem heimischen Boden möglich gewesen war. Es hängt mit diesem Hauptmerkmal, aber auch mit anderen Daseinsbedingungen zusammen, daß für die nordischen Völker, im Gegensatz zu der gleichmäßig ponderierten, man könnte sagen, verstandesmäßig begründeten antiken Polis, vielmehr der Stamm die politische Einheit bildete, der Stamm, dessen Schwerpunkt naturgemäß nach seinem Mittel- und Höhepunkt, dem Stammesoberhaupt, hin liegt. Aus dieser vorwiegend voluntaristischen Anlage ergaben sich, dem antiken Bürgersinn gegenüber, zwei bis dahin fast unbekannte ethische Kräfte, die eigentlich nur zwei Erscheinungsformen einer und derselben seelischen Befähigung sind: es ist erstens die Mannentreue, andererseits die Ritterehre, wie wir sie nach ihrer ausgeprägtesten, wenn auch späteren Gestaltung nennen. Das war die Keimanlage; mit ihr waren die Völker des Nordens zur Bildung derjenigen politischen Einheit befähigt, die, wie oben gezeigt worden ist, das in der Antike zwischen der Polis und dem Weltreich vermißte Zwischenglied darstellte – zur Bildung der Nationalstaaten, die unserer modernen Kultur, wenigstens nach ihrer bisherigen Entwicklung, als das Endziel des politischen Strebens erscheint.

Aus dem Gesagten erhellt, warum für das nordische Volkstum die Aufnahme der antiken Kultur die wesentliche Aufgabe war; aber auch, daß diese Aufnahme nicht etwa bloß in der Aneignung ihrer Früchte bestehen durfte. In dieser Weise sind die Araber zu Werke gegangen, was zwar ein glänzendes Aufflackern der islamitischen Kultur, nachher aber ihr um so gründlicheres Erlöschen zur Folge hatte. Dahingegen nahm es der Norden sehr ernst mit seiner Aufgabe: voll unbewußten Strebens nach dem, was ihm fehlte, und was seine Natur zu einer wahrhaft kulturellen ergänzen sollte, ging er auf eine innige Verquickung mit dem antiken Intellektualismus aus, was nur auf dem Wege eines eigentlichen Einlebens möglich war. Dies Einleben zieht sich durch die ganze moderne Kulturentwicklung; besonders innig und fruchtreich war es jedoch in den drei schöpferischen Perioden der Neuzeit – der Zeit der Aufnahme des Christentums, der Renaissance und des Neuhumanismus. Es ist schon hier zu betonen, daß diese Perioden auch für die echt neuzeitliche, die nationale Entwicklung besonders fördernd gewesen sind: der Humanismus kräftigt alle gesunden Triebe, also auch den nationalen. Antinational sind zu allen Zeiten nicht die humanistischen Bestrebungen gewesen, sondern teils die modernen fremdnationalen, teils aber diejenigen, die eine Auflösung der nationalen Eigenart in einen art- und farblosen, pseudokosmopolitischen Internationalismus bezweckten.

Wenn wir nun als die erste Periode der Humanisierung des Nordens die Zeit der Aufnahme des Christentums bezeichnen, so wollen wir damit weder jene Humanisierung als die eigentliche Aufgabe dieses welthistorischen Vorgangs bezeichnen noch die eigentliche Aufgabe, eben die Aufnahme des Christentums, als die minderwichtige. Vielmehr war es ein Ereignis von alles überragender Bedeutung, daß unsere Vorfahren mit Übergehung aller unvollendeten Zwischenstufen sofort der höchsten Religion des Menschengeschlechtes teilhaftig geworden sind, die, all ihr Tun auf einen überweltlichen Zweck beziehend, dieses verklärt und einem liebenden Gott die Lenkung ihres Schicksals überwiesen hatte. Diese Religion wurde für ihren eindrucksfähigen, tatendurstigen Geist zur Quelle einer neuen, noch nie gesehenen Frömmigkeit, ernst und hochgemut wie die wunderbaren Dome, in denen sie dereinst ihren vollendetsten Ausdruck finden sollte. Aber freilich, dieser erste Ertrag der Christianisierung Nordeuropas soll uns nicht gegen den zweiten, gleichfalls höchst wichtigen blind machen.

Dieser zweite bestand darin, daß mit dem Christentum – dem Christentum des Ausgleichs, wie wir es oben dargestellt haben – auch die von ihm übernommene und geheiligte antike Kultur den nordeuropäischen Völkern übermittelt wurde. Dieser Umweg über das Christentum war verlustreich, aber notwendig: der voluntaristische Norden wäre kaum zur Aufnahme der intellektualistischen Antike befähigt gewesen, wäre ihm diese nicht durch ein gleichfalls voluntaristisches Bindeglied, eben die Religion, nahegebracht worden. So aber ergab sich das eine aus dem andren: das Studium der Antike, zunächst des Seelenheiles wegen betrieben, wurde allmählich bei vielen Selbstzweck. Das gilt vor allem von der Sprache, die jetzt für Westeuropa die Gemeinsprache der Christenheit wurde, vom Latein: infolge der vielhundertjährigen Lebensgemeinschaft mit dem Latein intellektualisierten sich allmählich die Sprache der westeuropäischen Völker, auch derjenigen, die außerhalb der Grenzen des ehemaligen Imperiums geblieben und daher nicht romanisiert worden waren, und wurden also fähig, auch selber Trägerinnen einer entwickelten geistigen Kultur zu werden. Aber noch mehr: das Latein war auch der Schlüssel zur antiken Bildung, soweit sie in römischen Autoren niedergelegt war; indem nun das westeuropäische Christentum das Latein als Gemeinsprache empfahl, hielt es den westeuropäischen Gebildeten den Zutritt zur Schatzkammer der Antike allezeit offen. Des Unterschieds wird man leicht gewahr, wenn man das östliche Europa danebenhält, das von seinem Kulturmittelpunkt Byzanz wohl das Christentum, aber nicht die Sprache übernommen hatte und daher in der Kultur zurückgeblieben ist, bis es vom fortgeschrittenen Westen nicht ohne Zwang auf die Bahn der Gesittung gedrängt wurde.

Immerhin, durch ihre nie genug zu schätzende zivilisatorische Mission war die unmittelbare Trägerin des Christentums, war die römische Kirche eine Kulturmacht ersten Ranges geworden, die sich ihrer Herrschaft über die Gewissen bewußt war und sie zu ihrer eigenen Festigung auszunutzen trachtete. Ihr Bestreben ging nun dahin, die Kulturmittel der Antike zwar in Gebrauch zu nehmen, dann aber nach Kräften durch eigene zu ersetzen. So wurde das Latein zwar beibehalten, aber verkirchlicht und in dieser verkirchlichten Form als das heiligere dem klassischen als dem heidnischen entgegengesetzt. So wurde dem römischen Recht, das allmählich infolge seiner Durchdachtheit den unvollkommenen nordischen Rechtsspiegeln den Rang abgelaufen, ein entsprechend nachgebildetes, in seiner Art vorzügliches geistliches Recht, das sog. kanonische, an die Seite gestellt mit der ausgesprochenen Absicht, ersteres durch letzteres zu verdrängen. Schon früher war die politische Organisation des Imperiums in der kirchlichen Hierarchie nachgebildet, die, festgeschlossen und allumfassend, die in sich uneinige weltliche Macht wohl im Zaume zu halten verstand. Auch auf dem Gebiete der Literatur bewahrte das nordische Christentum den heidnischen Mustern gegenüber nicht die gleiche Pietät wie dereinst das antike: in ihrer Schule, die sie der Antike entlehnt hatte, suchte die Kirche je länger um so mehr die heidnischen Autoren durch christliche zu ersetzen. Damit ging Hand in Hand in der Zeit ihrer größten Machtentfaltung die Vernachlässigung der handschriftlichen Schätze der Antike, die sich bis dahin dank einer der segensreichsten kirchlichen Institutionen, der ars clericalis des Abschreibens, in den Klosterbibliotheken erhalten und gehäuft hatten. Vor allem aber hat es die Kirche auf dem Gebiete der Philosophie verstanden, mit dem Erbe der Antike zu wuchern; sie hat in der sog. Scholastik, die in Thomas von Aquino ihren Höhepunkt erreichte, ein bewunderungswürdiges und gedankentiefes System geschaffen, das, auf Versöhnung von Wissen und Glauben ausgehend, in die von Aristoteles geschaffenen Denkformen den christlichen Lehrgehalt gießen wollte. Die Kunst war ganz dem Preise des Höchsten gewidmet; und wenn auch die Plastik, Malerei und Musik mit dem Maßstabe jener Zeiten gemessen werden muß, um vor unseren Augen und Ohren zu bestehen, so hat dafür die Architektur eben damals in der Gotik eine solche Blüte erlebt, die mit keiner Kunstperiode vorher oder nachher den Vergleich zu scheuen braucht. So hat denn das Mittelalter unter ähnlichen Bedingungen, wie wir sie oben für die hellenische Periode der Antike festgestellt haben, in der Weltgeschichte zum zweitenmal die Kultur vergeistlicht: die civitas Dei, der Gottesstaat, sollte auf Erden verwirklicht werden. Die christliche Arete war aber die Demut: dankbar für die Segnungen, die ihm die Kirche als die Vermittlerin der göttlichen Gnade auf Erden zukommen ließ, sollte der Christ unter frommen Übungen, doch aber tätig und frohgemut sein Leben fristen, bis ihn Gott zu ewigem Lohne ins Jenseits abrufen würde. Das war das christliche Leben unter dem Zeichen der Vollendung.

Während so die Kirche des Mittelalters die Antike, die sie dereinst gerettet, zu überwinden trachtete, um unbeschränkt über die Gemüter zu herrschen, war das Volkstum mit ebendieser Antike eine eigentümliche, höchst reizvolle Mischung eingegangen. Ein tiefer religiöser Sinn, eine höchst fruchtbare Phantasie war diesen nordischen keltogermanischen Völkern von Haus aus eigen; das ergab eine urwüchsige, wenig ausgestaltete Poesie, fast seherhaften Charakters, von der uns die Lieder der älteren Edda eine Vorstellung geben. Diese Poesie ging mit ihren jungen Trägern in die Schule der Antike; sie lernte von ihr, was ihr fehlte, die Kunst der Gestaltung, der Entwicklung des poetischen Gedankens, der Übergänge, der Charakteristik, kurz, die gesamte poetische Technik. So entstand die weltliche Kunstpoesie des Mittelalters, nächst der gotischen Architektur dessen bedeutendste Schöpfung. Ihre technische Abhängigkeit von der Antike war viel wesentlicher als die stoffliche, die, obwohl ziemlich umfassend, doch den Kern der mittelalterlichen Poesie unberührt ließ. Doch war diese Blüte von nicht allzu langer Dauer: die zunehmende Feindseligkeit der Kirche gegen die Antike zerschnitt einen Lebensnerv auch der volkstümlichen Poesie, sie mußte mangels anderer Vorbilder sich auf die eigene Nachahmung beschränken, und das hatte ihre Entartung zur Folge. Im vierzehnten Jahrhundert erreichte diese Bewegung ihren Höhepunkt: das Christentum herrschte so weit, als es in der Kirche vertreten war; mit dem unterkirchlichen Christentum, das in zahlreichen Ketzerlehren seinen Ausdruck fand, erscheinen Antike und Volkstum in gleicher Weise zurückgedrängt.

Eben in dieser Zurückdrängung jedoch und der durch sie erzeugten Spannung war die Gewähr des Fortschritts enthalten. Das kirchliche Christentum hatte mit seiner grundsätzlichen Unpersönlichkeit über alles geistige Leben die Decke der Allgemeingültigkeit gebreitet, die wohl die Massen wärmte, die Persönlichkeit aber ersticken ließ. Mit dem Erstarken des Individualismus war der Gegenschlag unvermeidlich: er begann, als die ringende Persönlichkeit in der zurückgedrängten Antike einen Halt suchte und fand, ihn dort fand, wo er am leichtesten zu finden war – in Italien, das mit seinen Ruinen das lebendige Wahrzeichen der untergegangenen Antike geblieben war. Diesen Gegenschlag nennen wir die Renaissance; sie begann in jenem selben vierzehnten Jahrhundert mit Petrarca, der ihr Wegweiser war, pflanzte sich von ihm auf Florenz, von Florenz auf Italien fort, wo sie die üppige geistige Blüte des »Quattrocento«, des fünfzehnten Jahrhunderts, hervorrief, und eroberte um dessen Ausgang auch die Länder nördlich der Alpen, wo der Widerstand am hartnäckigsten und der Kampf am erbittertsten wurde. Es berührt uns jetzt eigentümlich, daß der Gegenstand des Kampfes anscheinend ein äußerlicher war – die Sprache, das Latein, dessen klassische Form gegen die kirchliche ausgespielt wurde: dem oberflächlichen Beobachter kann leicht der Gedanke kommen, als wäre der Streit des Humanismus eigentlich um die Wiederherstellung des Accusativus cum infinitivo geführt worden, den das Mönchslatein ausgemerzt hatte. Aber es hing eine ganze Weltanschauung an diesem Wahrzeichen. Das nächste war die Auffindung und Vervollständigung der antiken Literatur, zuvörderst der lateinischen, deren Schätze im Abendlande immer mehr in Verwahrlosung geraten waren, sodann aber auch der griechischen, die mitsamt der griechischen Sprache jetzt zuerst seit dem Beginn des Mittelalters den westeuropäischen Boden betrat. Es fand eine rückläufige Bewegung statt: hatte die Kirche mit wachsendem Erfolg die heidnischen Autoren aus der Schule verdrängt, so wurden sie jetzt im Triumph dahin zurückgeführt. Nun mußte die mittelalterliche, die scholastische Philosophie weichen: erst an Cicero, sodann aber namentlich an Plato rankte sich das aufkeimende philosophische Denken des neuen Europa empor. Der neugefundene Quintilian ließ die mittelalterliche, auf der Überzeugung von der ursprünglichen Verderbtheit der Natur beruhende Ruten pädagogik zurücktreten: die neue sah seitdem ihre Aufgabe in der Entwicklung der als ursprünglich edel anerkannten Anlage. Daß im Rechtsleben das römische Recht dem päpstlichen gegenüber in neuem Glanze erstarkte, war nur ein Erfolg neben vielen: die gesamte Wissenschaft, von der Kirche des ausgehenden Mittelalters als nutzlose »Kuriosität« verachtet, wurde durch die neuentdeckten Schätze der Alten zu neuem Leben erweckt. Im Zusammenhang damit stand die Wiederaufweckung der antiken Kunst, zunächst der Plastik, dann, deren Fortschreiten entsprechend, auch die Befreiung der Malerei; daß dabei auch die Architektur sich von der Gotik abwendete und, anknüpfend an die römischen Bauten, im Renaissancestil die antike Fassade wiederbrachte, war auch nur ein Fortschritt: die Gotik hatte sich tatsächlich ausgelebt und war zudem unfähig, den erwachten Bedürfnissen nach einem weltlichen Baustil zu genügen.

Das war weit mehr als jener Accusativus cum infinitivo; zu solcher Macht erstarkt zog die Renaissance auch das Volkstum gewaltig an, südlich und nördlich der Alpen. Es wurde sich seiner Kraft bewußt und schüttelte allenthalben, in Italien, Deutschland, England, das Joch der geistigen Fremdherrschaft ab. Am stärksten war der Rückschlag in England; hier entstand der Dichterheros, der am deutlichsten und durchgreifendsten die gesunde Verbindung der Antike mit dem Volkstum darstellt und bis heute der unvergessenste Dichter der Renaissance geblieben ist, Shakespeare.

Und da war es kein Wunder, daß auch das unterkirchliche Christentum, durch die scheinbare Gleichartigkeit des individualistischen Gegenschlages angezogen, an der Renaissance seine Stütze suchte und sich zunächst an ihrer Kraft stärkte; dabei wuchs es jedoch zu einer so gewaltigen Bewegung aus, die neben der erschütterten Kirche auch der Renaissance selber verderblich wurde und ihren weltfrohen Intellektualismus unter der Wucht eines neuen Voluntarismus erdrückte.

Doch davon sogleich; im Grunde trug die Renaissance den Keim ihres Unterganges in sich, und der bestand in ihren drei Irrungen den drei ursprünglichen Kulturkräften gegenüber, der Antike, dem Volkstum und dem Christentum. Der Antike gegenüber, in der sie im Überschwang des berechtigten Dankes die Vollkommenheit selbst zu erblicken bereit war, verfiel die Renaissance der Irrung des Klassizismus, der die wissenschaftliche Forschung und das künstlerische Schaffen auf die Erkenntnis des bereits Erkannten zurückführt und die Augen des Jüngers widernatürlicherweise rückwärts statt vorwärts lenkt; eine Irrung, die gewöhnlich entsteht, wenn die Antike, wozu unselbständige Geister nur zu leicht neigen, als Vorbild statt als Samen betrachtet wird. Sie hat die weitere, höchst schädliche Irrung zur Folge, daß die freieren Geister, die diese vorbildliche Bedeutung der Vergangenheit nicht anerkennen mögen, die dem Grundsatz der Vollendung den Grundsatz der Entwicklung gegenüberstellen und die Augen ihrer Zeitgenossen vorwärts zu richten bestrebt sind – wie das der Renaissance gegenüber namentlich Descartes und Bacon, späterhin Hobbes getan haben – sich als Gegner nicht nur des Klassizismus, sondern auch der Antike betrachten, während sie vielmehr ebendarin im echten Geiste der Antike handeln. – Dem Volkstum gegenüber bestand die Irrung der Renaissance darin, daß ihre Anhänger, in einseitiger Überschätzung des supranationalen Charakters der Antike, den nationalen Regungen nur allzuoft einen unberechtigten Widerwillen entgegenbrachten, der in dieser Zeit vorzugsweise den nationalen Sprachen gegenüber zum Ausdruck kam; diese Irrung des Kosmopolitismus, die bewußt zur Schau getragen wurde, stand in stärkstem Gegensatz zu der unbewußten Wirkung der Auferweckung der Antike, die eben, wie oben bemerkt, in der Kräftigung der nationalen Eigenart bestand. Sie hatte auch hier, damals wie des öfteren noch, die schädliche Gegenirrung zur Folge, daß die Förderer des nationalen Bewußtseins ihren Feind nicht nur in jenem Kosmopolitismus, sondern in der Antike selbst sahen. – Dem Christentum gegenüber bestand endlich die Irrung der Renaissance darin, daß sie, was allerdings verzeihlich war, die religiöse Entwicklung übersah, die in der Antike selbst dem Christentum als ihrer Krönung entgegentritt und daher aus ihr einen kühlen Skeptizismus schöpfte, der ihr wohl einen äußeren Frieden mit der herrschenden Kirche ermöglichte, sie aber dafür zu den grollenden Kräften des unterkirchlichen Christentums kein rechtes Verhältnis gewinnen ließ. Dabei darf freilich nicht übersehen werden, daß diese Kräfte – eben weil sie abermals, wie zur Zeit des werdenden Christentums, einen einzigen, aber übermächtigen Gedanken, den des Seelenheils, in den Mittelpunkt des Interesses stellten – gar leicht dazu führten, die gesamte durch die Renaissance vertretene geistige Kultur mit feindseligen Augen zu betrachten.

So kam es, daß die gewaltige religiöse Bewegung des sechzehnten Jahrhunderts, der Gegenschlag des unterkirchlichen Christentums, den wir mit dem Namen der Reformation bezeichnen, sich nicht nur gegen die Kirche, sondern auch gegen die Renaissance kehrte und dafür am Volkstum den stärksten Bundesgenossen fand; daß dabei auch volkswirtschaftliche Momente mitwirkten, soll nicht abgestritten werden, gehört aber nicht in diese Darstellung. Nun war es um die allgemeine, die supranationale Kirche geschehen – denn auch dort, wo der Sieg der Gegenreformation die Bildung von Nationalkirchen verhinderte, also hauptsächlich in den romanischen Ländern, erhielt die in ihrem Ansehen geminderte katholische Kirche dennoch einen halbnationalen, romanischen Anstrich. Auch der Renaissance wurde durch die erwachten religiösen Streitigkeiten das Interesse entzogen: durch den unvermeidlichen Konfessionalismus wurde der heidnische Charakter der Antike abermals als solcher betont, Reformation und Gegenreformation waren in ihrem Mißtrauen hiergegen einig. So löste denn eine allgemeine Ebbe jene Flut ab, die hauptsächlich das 15. Jahrhundert gebracht hatte; doch ließ die zurückgedämmte Renaissance im Bewußtsein der europäischen Völker drei Errungenschaften zurück: die Schule, die Kunst und die Wissenschaft.

Die Schule entwickelte sich seit dem 16. Jahrhundert, von anderen Bildungen abgesehen, in zwei Hauptgestaltungen: der katholischen Jesuitenschule und dem protestantischen Gymnasium. Jene war in ihren Anfängen so sehr die bessere, daß sie sogar dem protestantischen Gymnasium zum Muster dienen konnte; aber diese Bedeutung büßte sie im 18. Jahrhundert ein, der eigentliche Träger der pädagogischen Fortschrittsideen wurde in zunehmendem Maße dieses. Das war das althumanistische Gymnasium, wie wir es jetzt nennen, mit den beiden alten Sprachen im Mittelpunkte des Unterrichts, von denen jedoch nur die lateinische um ihrer selbst willen getrieben wurde, die griechische als ein Mittel zum Verständnis des Neuen Testaments. Daß die Rolle der antiken Autoren in beiden Fällen nur eine untergeordnete sein konnte, ergab sich daraus von selbst; daher der zunehmende Formalismus des althumanistischen Gymnasiums und seine unvermeidliche Ausartung, der Pedantismus. Und da die lateinische Sprache, deren Erlernung sein Hauptaugenmerk war, schon im 16. Jahrhundert ihre Stellung als allgemeine Kirchensprache, im 17. als die Sprache des internationalen Verkehrs, im 18. auch als die Sprache der Wissenschaft einbüßte, so trug das althumanistische Gymnasium den Keim seines Unterganges in sich selbst – schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts schien dieser Untergang beschlossene Sache zu sein.

Für die Kunst war das von Religionskriegen zerrissene Deutschland des 17. Jahrhunderts ein wenig günstiger Boden, zumal hier infolge der Feindseligkeit des Protestantismus den bildenden Künsten gegenüber auch die Kirche aufgehört hatte, für sie eine Freistätte zu sein. Die Keime der Kunst, die die zurückflutende Renaissance übriggelassen hatte, gingen vorerst in Frankreich auf, das im 17. Jahrhundert abermals die tonangebende Kulturmacht wurde; hier brachten sie jene eigentümliche, in ihrer begrenzten Vollkommenheit imponierende Kunstblüte hervor, die wir unter dem Namen des französischen Klassizismus begreifen. Und wie sie sich als solcher gefestigt hatte, wurde sie unvermeidlich gegen die Antike ausgespielt: der berüchtigte »Streit der Alten und der Neuen« um die Wende des 17. Jahrhunderts, der mit dem Siege der letzteren endigte, war, was man nicht vergessen darf, ein Streit des Klassizismus gegen die Antike, für die man das Verständnis verloren hatte.

Was endlich die Wissenschaft anbelangt, so ging ihr Aufschwung vom dritten Kulturland aus, von England, wo im 17. Jahrhundert das Regiment der Stuarts und die Revolution Cromwells die Gemüter der Gebildeten in zunehmender Spannung erhalten hatte. Für die Naturwissenschaften war hier durch Bacon der feste Boden der Erfahrung wiedergewonnen worden, auf dem sie in berechtigter Auflehnung gegen die Vorbildlichkeit der Antike, aber von ihrem Geiste geleitet, in ununterbrochener Stetigkeit bis auf die Neuzeit fortschritten. Charakteristisch für die Periode waren nicht sie, sondern die Geisteswissenschaften, zumal die philosophisch-politischen, die sich auf dem Gebiete der Theologie als natürliche Religion oder Deismus, auf dem der Ethik als autonome d. h. aus dem innersten Wesen des Menschen hergeleitete Moral, auf dem der Politik endlich als wissenschaftliche, von den bestehenden Institutionen unabhängige Staats- und Rechtslehre kundgaben. Auf allen drei Gebieten war das freie Denken als Hauptgrundsatz aufgestellt worden, was in der Theorie unzweifelhaft richtig und vorbildlich war, in praxi jedoch – eben weil seine Träger vom Gewordenen und den in ihm wirksamen Kräften, kurz gesagt, von der geschichtlichen Auffassung absahen – zu vorschnellen und unhaltbaren Lösungen führte. Diese Gleichgültigkeit gegen die geschichtlichen und daher auch gegen die nationalen Grundlagen des Gewordenen ist für diese wissenschaftliche Bewegung, die wir jetzt die Aufklärung im eigentlichen Sinne nennen, charakteristisch; sie hat ihr jenen internationalen, nicht supranationalen Anstrich gegeben, der sie befähigte, für die Gebildeten aller Nationen in gleicher Weise mundgerecht zu werden und ihnen allen gleich bündige und gleich vorschnelle Lösungen der Welt- und Lebensprobleme an die Hand zu geben.

Das zeigte sich, als diese Aufklärung im 18. Jahrhundert nach Frankreich hinübergespielt wurde, wo sie sofort mit dem heimischen Klassizismus ein natürliches Bündnis einging. Beides zusammen ergab eine einheitliche wissenschaftlich-künstlerische Weltanschauung, in der Antike, Christentum und Volkstum in gleicher Weise zurückgedrängt erschienen; ihre Daseinsbedingung war eine ebenso künstliche Gesellschaft, der von dem königlichen Hof abhängige Adel, der noch im 17. Jahrhundert von seinem volkstümlichen Boden losgerissen worden war und seitdem ein in seiner Art sehr anmutiges, aber im Grunde unsittliches Parasitenleben führte, im Bunde mit der veräußerlichten Kirche, deren weltgewandte Vertreter ihre Aufgabe darin sahen, all dem Flitterglanz auch etwas lächelndes Christentum beizumischen und die lebens- und liebesdurstigen Kavaliere und Damen über das Schicksal ihrer eventuellen Seelen zu beruhigen. Die unnatürliche Stellung dieser Gesellschaft, die ihre materiellen Lebenssäfte aus dem Volke schöpfte und ihm nichts dafür zurückgab, wurde von Jahrzehnt zu Jahrzehnt unhaltbarer; die Spannung wuchs, durch politische und volkswirtschaftliche Momente gesteigert, und führte zuletzt zur Entladung – zu der großen Französischen Revolution.

In friedlicherer Weise gelang in Deutschland die Ausgleichung der Gegensätze. Hier hatte das »dunkle Jahrhundert« der Religionskriege zunächst ein neues Mittelalter herbeigeführt: die Betonung des konfessionellen Standpunktes hatte auch in den protestantischen Ländern eine unduldsame Orthodoxie gezeitigt, die ihrerseits eine förmliche Scholastik im Gefolge hatte. Ihrem Druck gegen die Schule war hauptsächlich der Rückgang der Antike zu verdanken, der sich um so leichter vollzog, da sich die Lehrerschaft des Gymnasiums aus Kandidaten der Theologie ergänzte, für die das Lehramt nur eine Übergangsstufe für den bevorstehenden geistlichen Beruf war. Und wie im Mittelalter als Rückschlag gegen die Scholastik die verschiedenen mystischen Richtungen auftauchten, die der herrschenden Kirche nicht immer freundlich gegenübertraten, so war auch hier um die Wende des Jahrhunderts der herrschenden Orthodoxie der Landeskirchen gegenüber der Pietismus ins Leben getreten, der eine Verinnerlichung des Christentums anstrebte und insoweit in seinem Rechte war, aber unvermeidlich in Hochmut und Muckertum ausartete. Der Antike waren beide Richtungen gleich wenig hold; es war vielmehr eine Art jüdische Renaissance, die sich schon äußerlich wie im englischen Puritanismus durch ein Überwuchern biblischer Taufnamen kennzeichnete, und in der die Fortschrittskeime des deutschen Volkstums nur kümmerlich gedeihen konnten. Daß von dem Pedantismus des althumanistischen Gymnasiums kein Heil zu erwarten war, versteht sich nach dem oben Gesagten von selbst; die frische Luft kam von außen in Gestalt jener mit dem Klassizismus verbundenen Aufklärung, wie sie die französische Kultur des 18. Jahrhunderts gezeitigt hatte. Sie ließ allerdings an Freigeisterei nichts zu wünschen übrig, und an den zahlreichen deutschen Fürstenhöfen konnte auch unschwer eine Gesellschaft herangezüchtet werden, deren Ideal die von Frankreich geschaffene, in geschäftigem Müßiggang dahinlebende glatte Mittelmäßigkeit war, der honnête homme . Zum Glück ließ der gerade Sinn des Volkes diese Richtung mit ihren parasitischen Auswüchsen nicht allzulange währen; noch ehe das letzte, entscheidende Viertel des Jahrhunderts angebrochen war, hatte sich aus dem Herzen des deutschen gebildeten Bürgertums, in gleicher Opposition gegen Orthodoxie und Muckertum, gegen Klassizismus und Aufklärung, eine Kulturmacht entwickelt, die, auf inniger und organischer Verbindung der Antike mit dem Volkstum beruhend, die edelsten lebensfähigsten Kräfte der Nation unter ihrem Banner vereinigte und so auch ein besseres, suprakonfessionales Christentum schaffen half. Diese Macht hat denn auch Deutschland zum erstenmal nachhaltend die geistige Vorherrschaft über die Völker Europas gegeben: »Von 1780 bis 1830 hat Deutschland alle Ideen unseres Zeitalters geschaffen, und für ein halbes, vielleicht auch für ein ganzes Jahrhundert wird unsere große Aufgabe sein, sie zu verarbeiten« – so spricht es der Franzose Taine aus. Diese Bewegung ist der Neuhumanismus.

Er war auch nach der Renaissance etwas Neues. Diese war vorwiegend romanisch gewesen, die Antike war ihr in ihrer letzten, der ökumenisch-römischen Gestalt erschienen. Jetzt war die Welt allmählich für das Verständnis der echten, der griechischen Antike herangereift. In England war in folgerechter Entwicklung des Aufklärungsgedankens das Verlangen nach einer Naturpoesie wach geworden: dadurch wurde der Blick von selber auf Homer gelenkt. In Deutschland war die Universität Göttingen, infolge der Personalunion Hannovers mit England, die natürliche Vermittlerin der neuen Ideen: hier lehrte der Philologe Heyne, von dem der wissenschaftliche Neuhumanismus seinen Anfang nahm. Gleichzeitig trat Herder – zugleich der einflußreichste Förderer des Volkstums – in der Literatur für diese Vormachtstellung Homers ein; ein anderer Erzieher, Lessing, erneuerte den alten Kampf zwischen Klassizismus und Antike und führte ihn siegreich zugunsten der letzteren zu Ende; Winckelmann half, der herrschenden galanten Modekunst zum Trotz, der vergessenen antiken zu neuer, überragender Geltung; Kant führte, mitten zwischen den seichten Aufklärungsgedanken und dem bodenlosen Mystizismus der Pietisten hindurch, das Prinzip der wissenschaftlichen Philosophie zur Herrschaft, das er so tief faßte, wie es seit Plato nicht mehr geschehen war, so daß ein erneuter Platonismus die weitere Folge der Bewegung war. Aber der größte von allen, der alle Strahlen in sich vereinigte, war Goethe, so daß der Zeitraum zwischen seiner italienischen Reise und seinem Tode jenem von Taine gemeinten halben Jahrhundert ungefähr entspricht. Und bei Goethe ist wieder sein Lebensdrama, der Faust, Symbol des Neuhumanismus geworden; seine Wesenheit – die Verbindung von Volkstum, Antike und Christentum – ist in den drei hehren Frauengestalten sinnbildlich dargestellt, die den Helden läuternd von Stufe zu Stufe führen – Gretchen, Helena und Mater Gloriosa.

Die Antike hatte fortan ihren Sitz im verjüngten Gymnasium, dem neuhumanistischen, wie wir es im Unterschied von dem früheren, dem althumanistischen, nennen. Jenes war notgedrungen formalistisch geworden – notgedrungen, denn nur so konnte es in seinen antiken Bildungsmitteln vor den theologischen Lehrern Gnade finden, die ihrem heidnischen Inhalt keine Sympathie entgegenbrachten. Jetzt wurde es anders: da die Philologie gleichzeitig zur Selbständigkeit heranwuchs, konnte das Lehramt in den alten Sprachen gelernten Philologen anvertraut werden, die für den Ideengehalt der Antike ein ganz anderes Verständnis hatten als ihre geistlichen Vorgänger. Freilich war eine weitere Folge dieser Verweltlichung das Verschwinden des Neuen Testaments aus dem Autorenkanon – eine bedauerliche Folge, die schwerlich so unumgänglich war, als man es glaubte und vielfach noch glaubt. Daß die Fertigkeit im Latein Rückschritte machte und noch immer – vielleicht zu weitgehende – macht, hing mit der fortschreitenden Einengung seines praktischen Verwendungsgebietes zusammen und hat mit dem Einfluß der Antike als solcher nichts zu tun; zu keiner Zeit war der Bereich des Lateins so ausgedehnt wie im 14. Jahrhundert, und zu keiner Zeit war der Einfluß der Antike so gering. Das sollte man nicht vergessen.

Nun ist freilich die Antike, die das Gymnasium der modernen Menschheit zu vermitteln hat, nicht die vorbildliche der Renaissance – in keiner Weise darf das Zeichen einer hinter uns liegenden Vollendung wieder erstehen. Daraus folgt aber noch lange nicht, daß für die Pflege der Antike nur geschichtliche Gesichtspunkte maßgebend sein sollen; die reine Historie, und noch dazu die kritische, hat keine begeisternde Kraft und legt jeden Schöpfertrieb lahm. Weder Shakespeare noch Goethe haben die Antike mit den Augen des bloßen Historikers angesehen; wohl aber war sie ihnen ein Same, der ihren Geist befruchtete und in neuen, bisher nicht gekannten Schöpfungen aufging. Das ist das Zeichen einer vor uns liegenden Vollendung, die Bedingung jeden Fortschritts. Wohl ist augenblicklich die historische Strömung mächtig; aber so sehr sie auch in der Illusion ihrer Neuheit befangen gegen den »Klassizismus« losziehen mag, unter dem sie, verständnislos genug, den Neuhumanismus meint – sie hat im voraus ihre Sache verloren gegen das Losungswort: nicht Vorbild, sondern Same. Und dies Losungswort wird der Antike auch gegen eine dritte, noch ödere Richtung zum Siege verhelfen – gegen den Modernismus; ich meine den einseitigen, flachen, den unsterblichen Goetheschen Baccalaureus, der der Eintagsfliege von heute gegen den Löwen von gestern Recht und Ansehen gewährt.

Das Volkstum hatte sich in Deutschland im 18. Jahrhundert, mitten durch das Elend der Kleinstaaterei hindurch, mühsam zur Anerkennung gebracht; es wirkte belebend in den Geistern der Besten, wiewohl seine nationalistische Steigerung – man denke an Klopstock und verwandte Erscheinungen – es vorerst zu keiner achtbaren Erscheinungsform bringen konnte. Es bedurfte einerseits eines Menschenalters klassischer Bildung, anderseits der Not der napoleonischen Kriege, um den Nationalgedanken zur Entfaltung zu bringen; nun wurde der Blick auf die eigene Vergangenheit zurückgelenkt, es entstand die Romantik, die den Neuhumanismus nicht aufhob – in Poesie wie in Wissenschaft vertraten die gleichen Männer beide Richtungen am glänzendsten –, sondern um neue, schöne Züge bereicherte. Und mochte sie auch stellenweise bei der heißblütigen Jugend jeglichen Alters Auswüchse zeitigen, die den Verirrungen der Klopstockianer in nichts nachstanden – es war doch ein tüchtiger, lebens- und schöpfungsfähiger Kern darin, und dieser Kern sicherte Deutschland seine gesunde nationale Entwicklung, die in der Schöpfung des Reiches ihren vorläufigen Abschluß fand. Gleichzeitig schloß sich ein anderes, zerrissenes Volk zu einem Nationalstaat zusammen – Italien; das l9. Jahrhundert ist so recht die Entwicklungszeit der Nationalstaaten gewesen. Die Romantik freilich konnte die Herrschaft nicht festhalten; ebendasselbe Volkstum, das sie aus alten Büchern ins Dasein gerufen hatte, wollte sich auch in seiner Gegenwart, wie es leibte und lebte, künstlerisch durchsetzen: es folgte naturgemäß die realistische Richtung. Und wenn uns diese gegenwärtig durch andere, mystisch-symbolische, bedroht erscheint, so soll dies Phänomen uns daran mahnen, daß des Menschen Seele nicht eitel Klarheit und Tatkraft ist, daß in ihr mächtige, unterbewußte Triebe schlummern, die ihre Befriedigung verlangen, wenn sie gesund bleiben und nicht den ganzen seelischen Organismus mit ihrer Krankheit vergiften sollen.

Das bringt uns auf die dritte Kraft – das bessere Christentum. Wir könnten auch sagen: die bessere Religion; das Wesen des Christentums besteht eben darin, daß es von allen Religionsformen, die der Menschheit beschieden worden sind, die tiefste und ergreifendste ist. Als die Religion an sich hat es auch die vier Entwicklungsstufen der Religion durchgemacht – von Götzen zu Göttern, von Göttern zu Gott, von Gott zur Gottheit – und macht sie noch immer in den verschiedenen gleichzeitigen Schichtungen der Gesellschaft durch. Außerhalb dieser Entwicklungsreihe steht der Atheismus – schon deshalb, weil er auf allen vier Stufen zu finden ist; soweit er nicht scheinbar ist – es hat sich schon oft das Ahnen einer höheren Stufe als Negation der vorhergehenden und insoweit als äußerlicher Atheismus kundgegeben –, ist er auf eine Art Atrophie des religiösen Gefühls und somit auf eine Krankheit zurückzuführen. Ein besseres Christentum nennen wir aber das neuhumanistische insofern, als es zuerst verstanden hat – ohne dem Atheismus zu verfallen, wie es vielfach die Aufklärung getan hatte –, sich von den Schranken eines engen Konfessionalismus freizumachen. Lessing im Nathan, Goethe im Faust, Schiller in der Jungfrau und Maria Stuart haben darin die Leuchte vorangetragen, und die unvergänglichen Worte Fausts zu Gretchen über den Glauben geben die tiefste Gestaltung der neuhumanistischen Religion, von der die Folgezeit kein Jota geraubt hat. Indem wir aber diese Religion als die bessere dem engen Konfessionalismus gegenüberstellen, wollen wir keineswegs einem öden Interkonfessionalismus das Wort reden, so wenig als die Verwerfung des engen Nationalismus zu einem farblosen Internationalismus führen darf. Es ist vielmehr natürlich, daß auf diesem wesentlich gefühlsmäßigen Gebiet ein jeder im Boden seiner Konfession und Nation wurzelt, schon deswegen, weil die das Gefühl bedingenden Kindheits- und Jugenderinnerungen auf diesem Boden entsprossen sind. Es ist eben ein ungeheurer Unterschied zwischen Suprakonfessionalismus und Interkonfessionalismus, zwischen Supranationalismus und Internationalismus; sie verhalten sich zueinander – das Gleichnis ist prosaisch, aber treffend – wie in der Arithmetik das gemeinschaftliche Vielfache zum gemeinsamen Teiler. Jenes ist an Gehalt reicher als jede Einzelgröße, dieses ärmer; zu jenem wird gestiegen, zu diesem gesunken; jenes eröffnet uns das Verständnis für das Herz und den Herzschlag jeder Konfession und Nation, dieses hält nur das allen Gemeinsame fest und also unter Umständen die art- und farblose Eins.

Das ist nun unser Erbe, in dessen Vollbesitz wir der neuen Zeit und ihren Aufgaben entgegengehen. Soll nun auch von diesen selber die Rede sein? Nicht in dem Sinne, als könnten hier ihre Lösungen auch nur von fern angedeutet werden; dessen soll sich die Geschichte nie unterfangen, wenn sie ihr Ansehen nicht einbüßen will. Aber eins teilt sie uns allerdings mit: das Gefühl für die falschen Lösungen und vor allem die Erkenntnis, daß jede neue fruchtbare Idee ihre Schwarmgeister voraussendet, die durch ihre überspannten Forderungen wohl Stimmungen schaffen und auch hie und da vorübergehend Erfolge erringen, aber die dauernden Lösungen in allewege verfehlen. Auch die großen Fragen, die die Gegenwart bewegen, haben ihre Schwarmgeister, die sich sehr laut gebärden, denen der historisch Gebildete aber ebendarum ein berechtigtes Mißtrauen entgegenbringen wird. Im übrigen sind diese Fragen freilich sehr ernst, und nichts kann verkehrter sein als der Quietismus, der jeden für sich und unseren Herrgott für alle sorgen läßt. Und ihr Ziel ist sehr hoch: handelt es sich doch darum, das Ideal der antiken Philosophie, den Staat, in dem Dike das Regiment führt, nun endlich in die Erscheinung treten zu lassen. Darin stimmen sie überein – die Nationalitäten- und Rassenfrage, die soziale Frage, die Frauenfrage, und wie sie alle heißen mögen. Überall aber besteht die Gefahr darin, daß wir die von uns geschaffene und vielleicht nur eingebildete Gerechtigkeit an Stelle derjenigen setzen, die in der Natur selbst ihre Grundlage findet, die scheinbar absolute an Stelle der naturgemäß relativen; daß wir für Roß und Spatz die gleichen Haferrationen verlangen, statt dafür zu sorgen, daß beide in gleicher Weise satt werden.

Doch das gehört in eine andere Betrachtungsreihe hinein; wir haben es hier mit den Errungenschaften der Vorzeit zu tun. Von den drei Worten des Glaubens gingen wir aus, dem Guten, dem Wahren, dem Schönen, als dem Inbegriff unserer geistigen Kultur. Sie sind unbeweisbar wie alles Letzte: will einer ohne sie leben – wir können ihn nicht überzeugen, aber er gehört nicht zu uns, und wir nicht zu ihm. Ihnen haben wir die drei Worte des Wissens untergestellt; sie heißen: Antike, Christentum, Volkstum. Sie stellen die Kräfte dar, die jene heilige Drei im Bannkreis der europäischen Kultur verwirklichen. Sie sind beweisbar wie alles Vorletzte, und die Geschichte hat sie bewiesen. Endlich haben wir diesen Worten des Wissens nach rechts und nach links in zwei einander gegenübergestellten Reihen die zweimal drei Worte des Wahns zu warnendem Geleite gegeben; sie heißen hüben – Klassizismus, Konfessionalismus, Nationalismus, drüben – Modernismus, Atheismus, Kosmopolitismus. Die Warnung selbst aber könnte also lauten:

Halte fest an der Antike und der auf ihr beruhenden humanen Bildung, diesem zweitausendjährigen Rückgrat der europäischen Kultur, dem sie ihre Festigkeit und Kraft verdankt. Sie ist an sich ein überragender Wert und zudem die Bedingung für das Verständnis anderer uns unmittelbar naher und teurer Werte – aller, die Shakespeare und Renaissance, Goethe und Neuhumanismus gezeitigt haben. Und noch anderes hängt mit ihr zusammen – mit feinen Fäden, die nur das Auge des Forschers sieht: der Wert des Beweises und die klare Wissenschaft, der Wert der Natur und die klare Kunst. Aber freilich: ein Same für eigenes Schaffen soll dir die Antike sein, keine bindende Norm. – Und halte fest am Christentum und der in Liebe sich offenbarenden Gottheit: wisse, daß Gespenster dort walten, wo die Götter vertrieben sind. Hast du den Glauben nicht mehr als die unbedingte Gewißheit dessen, das du nicht siehst, so winkt dir noch die Hoffnung – die Hoffnung auf die Erfüllung dessen, was keine Wissenschaft beweisen, aber auch keine widerlegen kann. Und sollte auch sie dir verblassen, so bleibt dir die Liebe nach – die Liebe zu dem, was dir und den Deinen je heilig gewesen ist, und die Liebe endet nie. Aber freilich, eins sollen dich Wissenschaft und Leben lehren: »Der Strom der menschlichen Geschichte entsprang nicht erst in Bethlehem«, und alleinseligmachend ist von all seinen Läufen keiner. – Und halte endlich fest an deinem Volkstum, an der alten Linde, die an deinem Elternhaus über den Träumen deiner Kindheit gerauscht hat. Wisse, daß diese Gemeinschaft von Blut, Sprache und Brauch die mächtigste Fördererin der im Menschen schlummernden Kräfte ist, die sie am ehesten und wirksamsten zur Reife und fruchtbaren Betätigung bringt. Aber freilich auch das sollst du wissen, daß dies Wissen nicht nur für dich und dein Volkstum gilt: nur der ist ein Freund seines Volkes, der dessen Wege vom Recht und von der Menschlichkeit geleitet wissen will.

Das ist das Zeichen für unsere Kultur; in diesem Zeichen wird sie siegen.


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