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4. Die Geisteswissenschaften

Es sind ewig denkwürdige Gedanken, in denen Sokrates kurz vor seinem Tode die Philosophie des Anaxagoras kritisiert, indem er dessen Erklärung des Weltalls, des Makrokosmus auf seine eigene Persönlichkeit vergleichend überträgt. Dieser Denker hatte als erster die Vernunft (νους) als weltbildendes Prinzip eingeführt, dabei aber dennoch die Ausgestaltung der Welt auf rein mechanischem Wege zu erklären versucht: »das ist dasselbe,« wendet sein Kritiker ein, »wie wenn jemand einerseits behaupten wollte, daß Sokrates sich in seiner Handlungsweise durchgängig von der Vernunft bestimmen läßt, andererseits aber bei der Angabe der Gründe meines Verhaltens also verführe: daß ich hier sitze, erklärt sich daraus, daß mein Leib aus Knochen und Sehnen besteht, die Knochen fest und lose, die Sehnen aber elastisch sind usw. – ohne auch nur mit einem Worte den wahren Grund zu erwähnen. Der wahre Grund ist aber, wie ich meine, der: da die Athener es für das Beste gehalten haben, mich zu verurteilen, so habe auch ich es für das Beste gehalten, hier zu sitzen und mich der von ihnen bestimmten Strafe zu unterwerfen. Denn, beim Hund! diese Knochen und Sehnen würden längst irgendwo im Megarischen oder bei den Böotern sein, vom Wahne des Besten geleitet, wenn ich es nicht für das Gerechtere und Sittlichere gehalten hätte, die Strafe zu tragen, die der Staat mir bestimmen würde, statt feige davonzulaufen.«

Das Beispiel ist um so zutreffender, da es ein und derselbe Vorgang ist – »Sokrates sitzt« –, dessen Deutung so oder anders erscheint, je nachdem wir nach seinem physiologischen oder aber nach seinem psychologischen Sinne fragten. Jener gehört ganz der Naturwissenschaft an, bis in die Erregung der motorischen Nerven, die den Zustand des Sitzens hervorgebracht hat. Hier ragt der Geist herein. Wir sehen das bewußte Subjekt den gedachten Zustand mit dem entgegengesetzten am Wertmesser des Sittlichen werten – »die geistige Welt ist aber die Welt der Werte«; wir sehen es auf das Sittlichere als den freigewählten Zweck zusteuern – »die geistige Welt ist die Welt der Zwecke«; wir sehen es endlich, wie es sich die diesem Zwecke dienenden Mittel durch seinen Willen abtrotzt – »die geistige Welt ist die Welt des Willens« (W. Wundt).

Es ist demnach das bewußte Subjekt, kurz das Bewußtsein, das die Quelle und den Träger einer neuen Welt von Vorgängen darstellt – jener Vorgänge, deren Studium nicht den Natur-, sondern den Geisteswissenschaften obliegt. Nicht als ob diese Vorgänge darum etwas Außernatürliches wären; das lehrt schon das Beispiel, von dem wir ausgingen. Der sitzende Sokrates war wie seine ganze Umgebung ein im Raume gegebener Naturvorgang. Ja, noch mehr: auch sein Gedanke, den er als den wahren Grund jenes Vorgangs angibt, war entschieden von einer gewissen Teilchenbewegung in seinem Gehirn begleitet – und zwar notwendig begleitet –, die wiederum ein physiologischer, also natürlicher Vorgang war. Aber es ist ein mißbräuchliches Spielen mit Worten, wenn man deshalb diese Bewegung und jenen Gedanken für ebendasselbe erklärt und also die Psyche (das Seelische) in der Physis (der materiellen Natur) aufgehen läßt. Vielmehr steht es damit so: der Vorgang, der sich im Raume als die Bewegung von Gehirnteilchen darstellt, ergibt für das Bewußtsein einen Gedanken. Das ist der Dualismus von Raum und Bewußtsein, von dem jede ernste Wissenschaft ausgeht. Sie sind untrennbar, aber auch unvereinbar wie die zwei einander abgewandten Flächen des Diskus; jeder Versuch, sie einander unterzuordnen oder das eine vom andern herzuleiten – als materialistischer oder spiritualistischer Monismus – erweist sich bei näherem Zusehen als ein müßiges und unfruchtbares Begriffsspiel, auf das unsere gegenwärtige Betrachtung keine Rücksicht zu nehmen braucht.

Raum und Bewußtsein – ersterer Begriff ist eindeutig, der zweite verlangt aber eine nähere Bestimmung. Wessen Bewußtsein? Das meinige? Da hätten wir den Goetheschen Baccalaureus: »Die Welt, sie war nicht, eh' ich sie erschuf!« Also das Menschliche überhaupt? Aber wenn wir einmal die Schranken unseres Ichs durchbrechen – wer zwingt uns bei den Grenzen der Menschlichkeit haltzumachen? Gibt es denn kein tierisches Bewußtsein? Allerdings, und dementsprechend auch eine Tierpsychologie; von einer Religion der Elefanten haben die Alten, von einer Ästhetik der Radiolarien die neueren gefabelt, und daß wir die komplizierteste aller Schöpfungen des menschlichen Geistes, den Staat, auch bei den Tieren wiederfinden, ist wunderbarer als alle Fabeln und dabei durchaus sicher. So muß denn auch ein beträchtlicher Teil der Zoologie für die Geisteswissenschaften in Anspruch genommen werden. Und wer sagt uns, daß damit alles getan ist? Folgt man der »Tagesansicht« Fechners, so steht nicht nur jedem Bewußtseinsvorgang ein Raumvorgang, sondern auch jedem Raumvorgang ein Bewußtseinsvorgang zur Seite; wir erhalten nicht nur eine Pflanzenseele mit entsprechender Psychologie – nein, überall, wo sich etwas bewegt, wird auch etwas empfunden, alles ist Beseelung und Geist und somit Gegenstand einer Geisteswissenschaft. – Nun, bewiesen ist das nicht, und zu glauben ist niemand verpflichtet; aber auch die Äußerungen der Tierseele lassen wir vorläufig nur als einen Anhang der Zoologie, zum Teil auch der Psychologie gelten. Wenn wir auf der Grenzscheide zwischen Natur- und Geisteswissenschaften das Bewußtsein aufstellen, ist das menschliche Bewußtsein gemeint.

Damit ist zugleich gesagt, daß die Lehre von diesem Bewußtsein, also die Psychologie, die Vorhalle aller Geisteswissenschaften ist. Man ist sogar versucht, ihr im Verhältnis zu diesen eine gesonderte Stellung anzuweisen, ähnlich wie sich den Naturwissenschaften die Wissenschaften von den allen Naturvorgängen gemeinsamen Abstraktionen der Zahl und des Raumes, also die mathematischen Wissenschaften vorgelagert haben. Wenn dies noch nicht geschehen ist, ja, wenn die Psychologie überhaupt in ihrer Rolle als die große Einleitung zu den Geisteswissenschaften noch nicht allgemein anerkannt ist, so liegt das hauptsächlich daran, daß die wissenschaftliche Psychologie der Gegenwart noch nicht so weit entwickelt ist, um die Fragen beantworten zu können, die die Geisteswissenschaften an sie stellen, während es mit dem Verhältnis der Mathematik zur Naturwissenschaft ganz anders steht. Will ein Astronom erfahren, wie hoch die Gravitation des Mondes anzusetzen sei, um die Schwankungen der Erdbahn zu erklären, will ein Physiker für die verschiedenen Farben des Spektrums die Wellenlänge berechnen, will ein Physiologe die Stärke des Blutdrucks in den Arterien auf eine feste Formel bringen: sofort ist die hochentwickelte Mathematik da, ihnen die gewünschten Operationen an die Hand zu geben. Damit vergleiche man nun die Lage der Geisteswissenschaften. Der Literaturforscher will wissen (hoffentlich will er das), warum Goethe eben den Faust, den wir haben, geschrieben hat; der Historiker, warum England eine Kolonialmacht geworden ist; der Jurist, warum für vorsätzlichen Mord Todesstrafe anzusetzen oder auch nicht anzusetzen ist. So viel sieht jeder, daß der innerste Grund all des Gesagten in der menschlichen Seele (vgl. oben S. 74 ff.) enthalten ist, der Einzelseele, die hier auf den Höhen der Schöpferkraft, dort in der Tiefe des Verbrechens tätig ist – der Volksseele, die ihre Energie bald durch Betätigung vermehrt, bald durch Resignation verkümmern läßt, die durch ihr Mitgefühl das Genie fördert und durch ihr Gerechtigkeitsgefühl den Übeltäter im Zaume hält. Es liegt daher nahe, bei der Psychologie nachzufragen, die sich ihrer Scheidung in Individual- und Völkerpsychologie wohl bewußt ist. Leider aber bleiben die Fragen ohne Antwort; die wissenschaftliche Psychologie hat bis jetzt vollauf zu tun mit der Untersuchung der elementaren psychischen Phänomene – so verwickelte Erscheinungen, wie die hier in Frage kommenden, vermag sie noch nicht zu erklären. Wie machen es nun die obengenannten Forscher? Verzichten sie ganz auf eine psychologische Erklärung? Vielfach tun sie das; soweit sie es aber nicht tun, wenden sie sich statt an die wissenschaftliche Psychologie an eine andere, die ihnen bestenfalls ihre Erfahrung, meistens aber ihr gesunder oder halbgesunder Menschenverstand eingegeben hat, an die Vulgärpsychologie. Auf die ist nun die Fachpsychologie sehr schlecht zu sprechen, und in der Tat ist sie ein Doktor Allwissend, der nie um eine Antwort verlegen ist und ebendeswegen zum Werte seiner Antworten kein Vertrauen erweckt; in einer Hinsicht ist sie aber doch nützlich. Sie steckt vorläufig das Gebiet ab, das mit der Zeit der wissenschaftlichen Psychologie zufallen muß, und gibt auf diese Weise der letzteren die Richtung und den Umfang ihrer künftigen Entwicklung an.

Wir haben die Psychologie die Vorhalle der Geisteswissenschaften genannt; die Bezeichnung ist noch in anderer Weise zutreffend. Die Naturwissenschaften ergeben für den Betrachter einen schönen, stufenweisen Aufbau: von der toten Materie zur belebten, von dieser zur beseelten, von dieser zum Seelenwesen an sich, zum Menschen; mit dessen Physiologie – der Lehre von den Lebensvorgängen des menschlichen Körpers – schließen sie nach oben ab. Ebendieser obere Abschluß der Naturwissenschaften ist aber die Grundlage der ersten Geisteswissenschaft, der Psychologie. Die oben berührten Raumvorgänge, die den Vorgängen des menschlichen Bewußtseins parallel sind, fallen allesamt dem Untersuchungsgebiet der Physiologie zu. So ist denn »Psychologie auf physiologischer Grundlage« mit Recht das Schlagwort der Neuzeit. Nur darf freilich dies Schlagwort nicht zu weit führen; daß Sokrates nicht nach Megara geflohen ist, daran war dennoch der kategorische Imperativ seines sittlichen Bewußtseins schuld, nichts weiter. Das heißt wissenschaftlich gesprochen: Die Kausalität der psychischen Vorgänge ist autonom. Es braucht darum kein Jünger der Geisteswissenschaften zu glauben, daß er das Studium seines erwählten Faches mit der Physiologie beginnen müsse – oder vielmehr, da man eben mit der Physiologie nicht beginnen kann, mit all den naturwissenschaftlichen Disziplinen, die für sie vorbereiten –: da müßte allerdings vor Erreichung des halben Weges ein armer Teufel sterben. Aber die Psychologie soll er allerdings mitnehmen, auch wenn er nicht den naiven Glauben teilt, als könne sie ihm schon jetzt die »verdammten Fragen« seines künftigen Spezialfachs beantworten. Es ist schon etwas um die psychologische Methode, um das Ahnen der wahren Richtung, ja schlimmstenfalls um das bescheidene und darum menschenfreundliche »ich weiß nicht«, das sich ihm dort ergeben wird.

Vormals galt als Vorschule des Studiums: collegium logicum! Ist das jetzt entthront? ist tatsächlich die Psychologie an Stelle der Logik getreten? – Nein. Die Logik nebst ihrer oberen Fortsetzung, der Erkenntnistheorie, ist für jeden Wissenschafter, mag er sich der Natur oder dem Geiste zuwenden, die unentbehrliche Voraussetzung: während ihn jene belehrt, wie er zu folgern habe, um in jeder beliebigen Wissenschaft stichhaltige Resultate zu erzielen, gibt ihm diese die Anschauungsformen an, in denen das allen Wissenschaften übergeordnete Universum in seiner Realität betrachtet werden soll oder kann. Wohl läßt sich die Logik (und erst recht die Erkenntnistheorie) auch als eine Zweigwissenschaft der Psychologie betrachten, da sie doch die Lehre vom Denken, also von einem unzweifelhaften Bewußtseinsvorgang ist. Es ist nicht nur erlaubt, sondern gegebenenfalls auch geboten, bei der Logik nicht vom gedachten Objekt, sondern vom denkenden Menschengeist auszugehen und diese psychologische Logik der Lehre vom fühlenden sowie vom wollenden Menschengeist zur Seite zu stellen. Aber als solche ist sie sozusagen indikativischer, nicht imperativischer Anlage; sie sagt nicht – »so sollst du folgern, wenn deine Folgerung stichhaltig sein soll«, sondern lediglich »so bist du nach der Beschaffenheit deines Verstandes zu folgern geneigt« – und also auch zu irren, da eben irren menschlich ist. Das aber ist eine Spezialwissenschaft – im Gegensatz zu jener, der allgemeingültigen und allgemeinwichtigen.

Da wären wir also, wie man zu meinen pflegt, mitten in der Philosophie drin; sollen wir sie ausschöpfen? Wo gehört z. B. die Metaphysik hin? Ihre Lage ist sehr unbestimmt. Einst die natürliche Fortsetzung der Physik, woher sie ihren Namen hat, wurde sie dann die irdische Bundesgenossin der Theologie, der sie ihre scholastischen Kämpfe ausfechten half, und mußte es zuletzt erleben, daß man ihr mit jener den Charakter einer Wissenschaft überhaupt streitig machte. Das ist nun freilich ein Wortstreit: wer den Begriff der Wissenschaft auf das Gebiet der Erfahrung beschränkt, der wird freilich der Lehre von dem, was jenseits der Erfahrung liegt, den Namen einer Wissenschaft nicht zuerkennen. Uns ist die Wissenschaft die Spiegelung der Wahrheit im menschlichen Geiste, einerlei ob auf dem Wege der Erfahrung oder einem anderen geworden; und so haben wir keine Veranlassung, diese altehrwürdige Disziplin aus dem System der Wissenschaften auszuschließen. Aber die Endwissenschaft ist sie uns allerdings – in demselben Sinne, in dem uns die Logik eine Anfangswissenschaft war. Wie die Logik dort anzusetzen ist, wo sich Natur- und Geisteswissenschaften noch nicht gespalten haben, so gehört die Metaphysik dahin, wo sie sich wieder vereinigt haben – ins Gebiet der transzendenten, der jenseits der menschlichen Erfahrung liegenden Einheit von Natur und Geist. Es ist ein langer Weg bis dahin – für die meisten ein zu langer. Mag darum der Jünger der Geisteswissenschaften sich demütig in sein Schicksal fügen, wenn ihm nur in unerreichbarer Ferne die Glorie strahlt, die die drei Worte umspielt: Gott – Freiheit – Unsterblichkeit.

So ist uns von den philosophischen Wissenschaften als Vorhalle der Geisteswissenschaften nur eine geblieben, die Psychologie. Oder vielmehr nicht einmal sie – denn mit der Seelenlehre der alten Metaphysiker hat die wissenschaftliche Psychologie der Neuzeit kaum mehr als den Namen gemein. Fest im Boden der Erfahrung wurzelnd, mit Beobachtung und Experiment arbeitend, ist sie eine selbständige, der Physiologie parallele Wissenschaft geworden, und nur die akademische Tradition hält sie noch immer auf dem Katheder der Philosophie fest. Wenn nun aber auch dieser kräftige Schößling seiner philosophischen Mutter abhanden zu kommen droht, so ist diese in der Neuzeit darum nicht ärmer geworden: sie hat nebst allen Naturwissenschaften auch alle Geisteswissenschaften zurückgewonnen, indem sie in jeder von ihnen als Prinzipienlehre thront. Doch davon wird noch die Rede sein.

Verlassen wir nun die Vorhalle der Psychologie, so ist die Aussicht, die sich uns auf das weite Gebiet der Geisteswissenschaften eröffnet, im ersten Augenblick sinnverwirrend: ein ununterscheidbares Durcheinander von historischen und systematischen, von theoretischen und praktischen, von speziellen und universalen Fächern. Suchen wir Ordnung zu schaffen, indem wir zunächst den praktischen Gesichtspunkt, der eben als solcher nicht dem Wesen der Sache entsprungen sein kann, beseitigen.

In der Tat ist die Bedeutung dieses Gesichtspunktes eine rein äußerliche. Die Menschheit brauchte Geistliche, Ärzte, Juristen; sie verlangte solche von der Universität, die eben keine universitas litterarum, keine Gemeinschaft der Wissenschaften, sondern lediglich eine universitas docentium et discentium, der Lehrenden und Lernenden, war. So kamen die drei höheren Fakultäten zustande, die ihren Absolventen den Doktorgrad verliehen. Weil aber die Geistlichen, Ärzte, Juristen ihrerseits in gleicher Weise einer gewissen allgemeinen Bildung bedurften, so wurde den drei oberen Fakultäten eine vierte vorgebaut, die der » artes«, die ihre Absolventen als Magister in eine der drei oberen geleitete. Mit der Zeit wurde aus der »artistischen« Fakultät die jetzige philosophische; sie wurde selbständig, errang das Recht, auch ihrerseits den Doktorgrad zu verleihen, und wuchs zu der jetzigen ungeheuren Ansammlung von Fächern heran, die durch kein Merkmal zusammengehalten werden als durch das rein negative – daß sie nämlich weder Theologie noch Jurisprudenz noch Medizin sind. Also ein großer Behälter für brotlose Künste – denn auch das, was in der Physik usw. Brotfach war, hat seitdem in allerhand technischen Hochschulen seine Stelle gefunden. Es ist indessen klar, daß die Brotfrage für eine Systematik der Wissenschaften kein Einteilungsprinzip abgeben darf; wir müssen daher bei unserer Betrachtung von der Fakultätenscheidung durchaus absehn. Die Medizin gehört, soweit sie Wissenschaft und nicht Praxis ist, in die Naturwissenschaften hinein, ebenso wie die entsprechende Abteilung der philosophischen Fakultät. Die Theologie ist zum Teil (als Glaubenslehre sowie als Praxis) keine Wissenschaft, zum Teil gehört sie (als Exegese wie als Kirchen- und Dogmengeschichte) unter die Geisteswissenschaften, zum Teil thront sie als Metaphysik über dem ganzen Bau. Die Jurisprudenz endlich gehört ihrem ganzen Umfange nach zu den Geisteswissenschaften.

Also fort mit dem verwirrenden praktischen Gesichtspunkt; aber eine kleine Betrachtung wollen wir ihm doch auf den Weg geben. Wir sprachen von Geistlichen, Ärzten, Juristen; nun »die in die Weltweisheit gehn«, wollen doch zuletzt auch etwas »werden«, und zwar meistenteils Lehrer. Und was wollen sie lehren? Ebendas, was sie auf der Universität gelernt haben. Haben sie es nun nur deswegen gelernt, um es weiter zu lehren? Und ist das der ganze Wert des Gelernten, daß es weiter gelehrt werden kann? Da hätten wir jenes Zierstück des modernen Kunstgewerbes vor uns, das sich zu nichts weiter eignet als zum Verschenken. Hier haben wir einen greifbaren Fall, wo der lediglich praktische Gesichtspunkt sich selbst ad absurdum führt. Wir dürfen aber noch weiter gehen: Die das zu Lernende nur deshalb lernen, um es weiter zu lehren, die sind eben nicht wert, es zu lehren. Warum? Weil sie den ideellen Wert des Gelernten nicht empfinden – weil sie nicht Wissenschafter, sondern Banausen sind.

Banausentum! Das ist jeder gelehrte Beruf, sobald er vom lediglich praktischen Gesichtspunkt aus geübt wird. Ein Banause ist auch der Theologe und der Jurist, sobald er in dieser praktischen Auffassung seines Berufes aufgeht. Man erkennt die Herren meist an gewissen Kennzeichen – darnach, was ihnen alles für ihren Beruf als »nicht nötig« erscheint. Hier meint ein Theologe ganz bequem ohne Griechisch auszukommen – ist doch »alles« bereits von andern in sein geliebtes Deutsch übersetzt; dort erklärt ein Jurist das Studium des römischen Rechtes für höchst überflüssig, sintemal das BGB. der Rechtsgelahrtheit letzter Schluß sei; anderswo ist ein Philologe über die ihm auferlegten philosophischen Fächer über die Maßen unwillig, da er doch nur die Fakultas für alte Sprachen und Deutsch brauche. Das alles sind Banausen; und die Universitäten haben allen Grund, ihren Bestrebungen nach Kräften entgegenzuarbeiten, wenn das akademische Studium nicht ganz von der aerugo et cura peculi, von der Sorge ums tägliche Brot, überzogen werden soll.

Treten wir nun aber endgültig aus der Vorhalle heraus, so erwartet uns die Betätigung ebendesjenigen menschlichen Geistes, dessen Wesen und Eigenschaften uns dort beschäftigt haben. Seine Betätigung aber ist – im Gegensatz zu jenem Wesen – nicht etwas Seiendes, sondern etwas Gewordenes und Werdendes. Wer den menschlichen Geist als solchen studiert, tut es unabhängig von zeitlicher Betrachtungsweise – die Psychologie ist darum eine systematische Wissenschaft. Wer dagegen ebendiesen Geist in seinen Werken betrachtet, muß es in der Zeitfolge tun, in der diese Werke entstanden sind: die eigentlichen Geisteswissenschaften sind darum alle im Grunde historisch.

Das Ergebnis ist auf den ersten Blick verblüffend; sollte sich unter allen eigentlichen Geisteswissenschaften keine einzige systematische finden? Da fallen einem sofort Ausnahmen ein: die lateinische Grammatik, das System des deutschen Zivilrechts, die Dogmatik der katholischen Kirche usw. – Nun, eine sehr wesentliche und die Regel bestätigende Ausnahme wird sich uns später ergeben; aber die angeführten sind allesamt Scheinausnahmen. Die lateinische Grammatik? Nun ja, wir treiben sie systematisch, weil sie uns ein praktisches Mittel ist, die Schriftsteller der goldenen Latinität zu verstehn; hier hat der berechtigte praktische Zweck die wissenschaftliche Betrachtungsweise in den Hintergrund geschoben. Diese bringt aber Ciceros Latein dasselbe Interesse entgegen wie dem Latein der Zwölf Tafeln oder dem Latein des heiligen Augustin, ihr ist die lateinische Grammatik längst in der lateinischen Sprach geschichte aufgegangen. – Das System des deutschen Zivilrechts? Nun ja, der Jurist, der Zivilprozesse zu führen oder zu entscheiden hat, wird sich selbstverständlich nach dem BGB. und nicht nach dem Codex Justinians richten; das ändert nichts an der Tatsache, daß für die Wissenschaft beide nebst den unzähligen Landrechten und Spiegeln gleichberechtigte Zweige sind am großen Baume der Rechts geschichte, dessen Wurzeln durch die Zwölf Tafeln hindurch in die ältesten griechischen Gesetzgebungen, ja noch viel tiefer in den Codex Hammurabi, das altbabylonische Gesetzbuch, reichen. – Die Dogmatik der katholischen Kirche? Für den Gläubigen ist sie metaphysisch und somit, wie oben dargelegt, dem Bereich der Geisteswissenschaften enthoben; für den Un- oder Andersgläubigen aber ein Kapitel der christlichen Dogmen geschichte. Und so fort; überall zwingt uns der wissenschaftliche Geist, die systematische Betrachtung der historischen unterzuordnen. Selbstverständlich ist es uns unbenommen, an jedem beliebigen Punkte der Entwicklung durch den zu untersuchenden Gegenstand einen Querschnitt zu führen und seine Gebilde unter dem Gesichtspunkt der Gleichzeitigkeit zu untersuchen; wenn wir als diesen Punkt die Gegenwart wählen, so ist es eine praktische Nötigung, die uns dazu treibt. Ebenso steht es uns frei, wenn der Akkord einer Symphonie erschallt, im Geiste innezuhalten und die Bestandteile dieses Akkords auf ihre Klanghöhe und Klangfarbe hin zu untersuchen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß die Musik eine Kunst des Nacheinanders ist.

Halten wir also daran fest – die Ausnahme wird sich schon zur rechten Zeit melden –, daß die Geisteswissenschaften ihrem Wesen nach historische Wissenschaften sind; die Erkenntnis ist, nebenbei gesagt, eine der wichtigsten Errungenschaften des 19. Jahrhunderts, das ebendrum als das »historische« das 18., das »philosophische Jahrhundert«, abgelöst hat. Wo wir aber Geschichte haben, findet sich auch die grundlegende Unterscheidung in Vergangenheit und Gegenwart. Grundlegend ist sie nicht dem Wesen nach – die heutige Gegenwart ist bestimmt, morgen zur Vergangenheit zu werden, das ist unabänderlich –, sondern nach den Betrachtungsmitteln: die Gegenwart von heute – und das Heute ist für die Geschichte ein Menschenleben – sehen wir mit eignen Augen an; die Vergangenheit lassen wir aus ihren Denkmälern wiedererstehen.

Damit ist der Gegenstand angegeben, der sich bei jeder historischen Betrachtungsweise zwischen uns und das unmittelbare Objekt unseres Interesses schiebt; es verlohnt sich wohl, etwas dabei zu verweilen. Wenn irgendwo im südlichen Spanien eine besonders schöne Sonnenfinsternis stattfinden soll, senden die Kulturstaaten gelehrte Astronomen dahin, sie mit all den Hilfsmitteln der modernen Wissenschaft und Technik zu beobachten; hier haben wir unmittelbare Betrachtung – kein Denkmal schiebt sich zwischen die Objekte der Astronomie und ihren Jünger. In die Vergangenheit können wir keine Beobachter entsenden, wir wissen vom Peloponnesischen Krieg dank seinem Denkmal, dem Geschichtswerk des Thukydides – von den gleichzeitigen Kriegen der australischen Völker wissen wir nichts. Es geht somit jeder Geschichte, sobald sie sich, nach rückwärts gewandt, aus dem Gesichtsfelde der Gegenwart verliert, eine Denkmälerkunde parallel; diese Denkmälerkunde nennen wir Philologie. Wir haben vor kurzem die Geisteswissenschaften historische Wissenschaften genannt; wir können jetzt die Definition ergänzen und sie – ich wiederhole, soweit sie das Gesichtsfeld der Gegenwart verlassen – historisch-philologische Wissenschaften nennen.

Über den Unterschied zwischen Philologie und Geschichte ist viel gehandelt worden. Die einen haben sich bemüht, die beiden Wissenschaften gegeneinander stofflich abzugrenzen und etwa die Philologie auf die Sprache und Literatur zu beschränken – unglücklich genug: als ob die Sprachgeschichte und Literaturgeschichte keine Geschichte wäre! Die andern haben sich, des Suchens müde, kurzerhand entschlossen, die eine von der andern, und selbstverständlich die Philologie von der Geschichte verschlingen zu lassen. Keine von den zwei Lösungen kann befriedigen. Wohl sind Geschichte und Philologie geschieden, aber nicht in dem Stoffe ihrer Forschung. Dieser ist vielmehr einheitlich und als solcher Objekt der historisch-philologischen Wissenschaft von der Betätigung des menschlichen Geistes. Davon heißt Philologie die den Denkmälern, Geschichte die der Gesetzmäßigkeit des Geschehens zugewandte Seite. Ein Beispiel soll das erläutern. Die Geschichte Roms haben, wenn auch nicht in den gleichen Grenzen, Schwegler und Mommsen geschrieben. Schwegler verfährt dabei ungefähr so: er stellt für alle historischen Begebenheiten die Zeugnisse der Quellen – also die Denkmäler – zusammen, vergleicht diese miteinander, wägt sie gegeneinander ab, wo sie sich widersprechen, und stellt auf diesem Wege die relativ zuverlässigste Überlieferung her. Das nennen wir philologische Methode. Nichts von alledem findet man bei Mommsen; wenn wir es sonst nicht wüßten, aus welchen Quellen wir unser Wissen von den Gracchen schöpfen – von ihm würden wir es nicht erfahren. Wohl erzählt er uns aber ihre Geschichte, läßt sich ein Ereignis aus dem andern entwickeln; wir sehn, wie sich aus dem Notstand des ländlichen Proletariats der Gedanke der Landaufteilung bei seinen hochherzigen Trägern von selber ergibt, wie der Widerstand der besitzenden Klasse bei der mangelhaften Organisation der Demokratie ihn notwendig zu Falle bringt. Das ist historische Methode. Selbstverständlich müssen beide Hand in Hand gehen; es gilt hierfür, was wir oben (S. 160) von der Analyse und Synthese bemerkt haben, wie denn die philologische Methode vorwiegend analytisch, die historische vorwiegend synthetisch ist. Jeder Philologe muß zu einem Teil zugleich Historiker, jeder Historiker zugleich Philologe sein; Geschichte ohne Philologie ist bodenlos, Philologie ohne Geschichte zwecklos.

Aus dem Gesagten erklärt sich hinreichend die anscheinend befremdliche Tatsache, daß der Jünger der Geisteswissenschaften, sobald er von der Oberfläche der Gegenwart in die Tiefe der Vergangenheit taucht, durchgängig nicht mit einer Wissenschaft wie der Jünger der Naturwissenschaften, sondern mit einem Zwillingspaar, dem historisch-philologischen, zu tun hat: es ist dies darum der Fall, weil die Vergangenheit nicht wie die gegenwärtige Natur unmittelbar beobachtet werden kann, sondern aus ihren Denkmälern wiedererweckt werden muß. Darum ist auch die Systematik der Geisteswissenschaften nicht einfach wie die der Naturwissenschaften, sondern eine doppelte, eine philologische und eine historische: diese gliedert sie nach den Arten der Betätigung des menschlichen Geistes, die sie untersucht, jene nach den Arten der Denkmäler, die von ihr zeugen. Je näher wir der Gegenwart sind, um so mehr fallen beide Systeme miteinander zusammen, d. h. jede Geschichtswissenschaft hat eine mehr oder minder gesonderte Gattung von Denkmälern, auf denen sie sich aufbaut. Wer die politische Geschichte des 18. Jahrhunderts schreibt, wird Gesandtschaftsberichte, Tageblätter, politische Pamphlete, Memoiren von Staatsmännern u. a. studieren; für die Literaturgeschichte desselben Jahrhunderts bieten die erhaltenen Werke überreiches Material, und wenn der Forscher daneben die gedruckten und handschriftlichen Briefsammlungen der Schriftsteller ausbeutet, so hat er dem philologischen Teil seiner Aufgabe erschöpfend genügt; der Kunsthistoriker desselben Zeitraums wird den gleichfalls erhaltenen Kunstwerken in den Museen und Privatsammlungen, daneben Handzeichnungen, Skizzenbüchern, Künstlermemoiren und Künstlerbriefen seine Aufmerksamkeit zuwenden, und so fort. Nicht daß Übergriffe ausgeschlossen wären, aber sie sind bei der Reichhaltigkeit des besonderen Denkmälervorrats belanglos; es wird niemand einfallen, Lessings Minna von Barnhelm als eine Quelle für die Geschichte des Siebenjährigen Krieges zu betrachten – die paar dort erwähnten Ereignisse kommen gegen die eingehende Darstellung der eigentlich kriegsgeschichtlichen Quellen gar nicht auf.

Vergleichen wir nun, um ein Beispiel der entgegengesetzten Lage zu haben, das klassische Altertum. Zwar absolut genommen ist sein Denkmälervorrat ungeheuer; aber im Vergleich z. B. mit dem soeben betrachteten 18. Jahrhundert ist doch das vorchristliche 5. Jahrhundert sehr spärlich bedacht. Hier ist darum von einem Zusammenfallen der philologischen und historischen Systematik nicht die Rede; eine und dieselbe Geschichtswissenschaft wird auf den allerverschiedenartigsten Denkmälern aufgebaut, ein und dasselbe Denkmal muß für die allerverschiedenartigsten geschichtlichen Disziplinen herhalten. Wohl bildet für den Peloponnesischen Krieg das Geschichtswerk des Thukydides die Hauptquelle; aber kein Historiker wird sich mit ihm begnügen. Die politische Komödie des Aristophanes enthält eine Menge Nachrichten, die bei Thukydides fehlen, und wenn in den Tragödien des Euripides sich hier eine Betrachtung über die Vorzüge der Schießwaffe, dort ein Segensspruch an die nach Sizilien absegelnde Flotte findet, so wird der gewissenhafte Quellenforscher auch dies dankbar vermerken – gar nicht zu reden von den sog. Inschriften, die uns bald eine Verlustliste aus den ersten Jahren des Krieges, bald den Text eines Vertrags usw. liefern. Und andererseits ist der soeben angeführte Aristophanes nicht nur für die politische Geschichte eine Quelle ersten Ranges: daß er als Komödiendichter vor allem der Literaturgeschichte angehört, ist selbstverständlich, außerdem aber machen ihn zahlreiche mythologische und gottesdienstliche Notizen zu einem wichtigen Denkmal der Religionsgeschichte, versprengte Nachrichten über Künstler und Kunstwerke zu einer kunstgeschichtlichen »Schriftquelle«, gar nicht zu reden von dem Nutzen, den die Sprachgeschichte aus dieser einzigen Fundgrube der klassischen attischen Umgangssprache zieht. Und so durchgehends.

Und weil sich auf diesem Gebiete bequemer als anderswo die grundsätzliche Verschiedenheit der philologischen und der historischen Systematik dartun läßt, sei der Versuch eben für dies Gebiet unternommen – wobei indessen im Auge zu behalten ist, daß dies nur ein Beispiel sein soll, und daß das hier zu Sagende für das ganze Gebiet der historisch-philologischen Wissenschaften gilt, nur daß – aus dem oben angeführten äußerlichen Grund – mit der Annäherung an die Gegenwart auch die Verschiedenheit geringer wird. Daß also die philologische Systematik sich nach den Denkmälern richtet, ist nach dem Gesagten klar; wie gliedern sich nun die Denkmäler des klassischen Altertums? Wir unterscheiden vier Klassen. Die erste bilden die »klassischen Länder« selbst, wie sie gegenwärtig sind, mit den mannigfachen Aufschlüssen, die sie hauptsächlich für die politische und Wirtschaftsgeschichte des klassischen Altertums gewähren. Das sind somit die geographischen Denkmäler. Wohl gehört die Geographie als solche überhaupt nicht in die Geisteswissenschaften hinein; einen Teil der historischen Denkmälerkunde bildet sie aber doch, und die Praxis bestätigt nur, was die Theorie lehrt. Und nicht nur die Geographie, sondern auch die ihr nächst benachbarten Gebiete der Geologie, der Tier- und Pflanzengeographie, der Meteorologie. Nur ist freilich der Philologe nicht Selbstherrscher auf diesem Gebiete: er teilt sich in das Regiment mit dem Geographen vom Fach – wenn es ihm nicht gelingt, beides in sich zu vereinigen, wofür Heinrich Kiepert ein glänzendes Beispiel war. – Die zweite Klasse der Denkmäler bilden diejenigen, die als mündliche Tradition von Geschlecht zu Geschlecht weiter gegeben sich in Mittelalter und Neuzeit bis auf die Gegenwart fortgeerbt haben; also die ethnologischen Denkmäler, das sog. Folklore (engl. = Volkskunde): zunächst die Sprache selbst in ihrem neugriechischen und ihren romanischen Abkömmlingen, dann die lebendigen Erzeugnisse der Sprache wie Sprichwörter, Märchen, dann religiöse und abergläubische Anschauungen, Sitten und Gebräuche usw. – Die dritte Klasse umfaßt die konkreten Denkmäler, die, von Menschenhand herrührend, die Stürme der Jahrhunderte überdauert haben; wir nennen sie die archäologischen. Gar viele Gruppen unterscheiden wir hier: die Denkmäler des Ingenieurfachs (Wegebauten, Tunnels, Befestigungen), Denkmäler der Architektur, Skulptur, Malerei, Geräte, Münzen, Inschriften. Mit den Münzen hat es die Numismatik, mit den Inschriften die Epigraphik zu tun, die sich somit als Untergebiete der Archäologie erweisen. – Der vierten Klasse endlich teilen wir die wichtigsten Denkmäler zu, die Autorentexte, die uns gleichfalls aus dem Altertum, aber durch die Vermittlung der mittelalterlichen Abschreiber erhalten sind; das sind die eigentlich philologischen, besser die bibliologischen Denkmäler, die Handschriften.

Mit diesen vier Klassen ist der Denkmälervorrat der Antike erschöpft. Die etwa zwanzig Jahrhunderte, die uns von ihr trennen, haben sie kaum je ganz verschont; das nächste, was nottut, ist die Ausbesserung der Schäden, die Verwandlung des Denkmals in eine reine Quelle der klassischen Altertumswissenschaft. Das besorgt die Kritik; sie ist dieselbe für alle vier Denkmälerklassen. Ob wir aus dem jetzigen Zustand des westlichen kleinasiatischen Küstensaumes durch Hinwegräumung des angeschwemmten Neulandes die antike Uferlinie wiederherstellen und Milet seinen Hafen zurückgeben – ob wir aus einer neugriechischen Heiligenlegende durch Entfernung des christlichen Beiwerks die antike Göttersage wieder erstehen lassen – ob wir zu einem Statuentorso oder zu einer lückenhaften Inschrift die fehlenden Teile ergänzen – ob wir endlich einen handschriftlichen Text von den Verderbnissen befreien, die ihn infolge der Unwissenheit oder Willkür der Abschreiber entstellt haben – überall treiben wir Kritik: geographische, ethnologische, archäologische und bibliologische (d. h. philologische im engeren Sinne) Kritik. Wohl hat sich der Ausdruck vorzugsweise an die letzte Klasse geheftet, aber er ist in allen vieren gleichberechtigt, da ja die Tätigkeit in allen vieren die gleiche ist: es gilt die schädigenden und entstellenden Einflüsse der zweitausendjährigen Zwischenzeit auszuscheiden, und »Scheidekunst«, das ist im wörtlichen Sinne »Kritik«. Wie aus dem Gesagten hervorgeht, muß die Kritik eine philologische, nicht historische Wissenschaft genannt werden: sie hat es lediglich mit den Denkmälern zu tun, die sie aus dem heutigen Stand in den ursprünglichen zurückverwandeln soll. Es ist aber eine dynamische Wissenschaft, keine materielle; an sich hat sie keinen festen Inhalt, sie erhält ihn von Fall zu Fall nach der Beschaffenheit der Denkmäler, auf die sie angewandt wird.

Auf der Leiter der Kritik steigen wir aus dem ersten Stockwerk der Altertumswissenschaft in das zweite; dort finden wir diese vier Denkmälerklassen wieder, aber die Denkmäler selbst sind anders geworden: Das Fehlende ist ergänzt, das Überflüssige entfernt, das Entstellte verbessert worden, in ihrer ursprünglichen Reinheit strahlen sie uns entgegen, so wie sie die Alten selbst gesehen oder gehört haben. Was soll nun mit ihnen geschehen? Ein Doppeltes – und dies Doppelte hängt mit ihrem zwiefachen Wert zusammen.

Einerseits nämlich kann das Denkmal – eine Statue des Praxiteles, eine Tragödie des Sophokles – eben als solches für uns unmittelbaren Wert haben; wir wünschen es unserem Verständnis näher zu bringen, wir wünschen es uns, Menschen des 20. Jahrhunderts, allseitig zu erklären. Die Wissenschaft aber, die diese Erklärung leistet, ist die Interpretation – die analytische Interpretation, insofern sie eben auf allseitige Erklärung des jeweiligen Denkmals ausgeht. Gleich der Kritik ist auch sie eine philologische, keine historische, eine dynamische, keine materielle Wissenschaft – aus denselben Gründen.

Das ist, wie gesagt, das eine. Zum zweiten aber kann das Denkmal, ganz abgesehen von seinem unmittelbaren Wert, für uns auch einen Quellenwert haben, indem wir es zur Herstellung irgendeiner historischen Wissenschaft ausnutzen – die Statue des Praxiteles für die Kunstgeschichte, die Tragödie des Sophokles für die Literaturgeschichte, aber auch für die Sprachgeschichte, Versgeschichte, Religionsgeschichte usw. Auch zu dem Zweck muß das Denkmal erklärt werden; doch wird die Erklärung diesmal eine ganz andre sein. Der Unterschied ist ein zwiefacher: statt der allseitigen Erklärung werden wir eine einseitige erstreben, lediglich im Hinblick auf die herzustellende Wissenschaft; anderseits aber werden wir uns nie mit dem fraglichen Denkmal allein begnügen, sondern allemal die aus ihm geschöpften Aufschlüsse mit solchen verknüpfen, die wir andren Denkmälern verdanken. Das ist die synthetische Interpretation. Wer sich den Unterschied veranschaulichen will, nehme etwa die Miloniana Ciceros einerseits in Halms kommentierter Ausgabe, andrerseits in Mommsens »Römischem Staatsrecht«. Bei Halm wird er gar mannigfache Erklärungen finden: bald wird eine schwierige Konstruktion entwirrt, bald über eine erwähnte Persönlichkeit das nötige biographische Material mitgeteilt, bald ein oratorischer Kunstgriff technisch gewürdigt, bald eine staatsrechtliche Anspielung erläutert – ganz wie es die analytische Interpretation verlangt. Bei Mommsen werden gleichfalls ein paar Dutzend Stellen aus der Miloniana erklärt, die man mit Hilfe des vorzüglichen Index leicht auffinden kann; aber die Erklärung berücksichtigt nur diejenigen, die staatsrechtlich interessant sind, und geht nicht weiter, als das staatsrechtliche Interesse reicht; dafür aber springt sie in einem fort auf Stellen verwandten Inhalts, die teils andren Reden, teils andren Autoren, teils Inschriften, Münzen und andren Denkmälern entnommen sind – alles in allem ein Muster synthetischer Interpretation. Auch diese ist, wie leicht einzusehen, eine dynamische Wissenschaft, aber rein philologisch wird man sie nicht nennen dürfen: wohl geht sie von den Denkmälern aus, aber nur um uns von ihnen zu der historischen Wissenschaft zu führen, die sie auf ihnen aufbaut.

Auf der Leiter der synthetischen Interpretation steigen wir aus dem zweiten Stockwerk der Altertumswissenschaft in das dritte; finden wir dort noch einmal die vier philologischen Denkmälerklassen? Nein: die Einteilung, die uns hier erwartet, ist eine grundverschiedene, statt des philologischen gibt das historische System diesem dritten Stockwerk seinen Charakter. Und weil dies historische System auf dem ganzen Gebiet der Geisteswissenschaften das gleiche ist, können wir fortan von der Altertumswissenschaft, die wir des Beispiels wegen für die philologische Systematik herangezogen haben, absehen: was wir von jetzt ab zu sagen haben, gilt für den ganzen weiten Wissensbau, zu dem uns die Vorhalle der Psychologie den Zutritt eröffnet hat.

Ein Wort jedoch – oder auch zwei – ehe wir von der Philologie Abschied nehmen. Ihre Daseinsberechtigung im Rahmen der Geisteswissenschaften erklärt sich, wie gesagt, daraus, daß diese historischen Charakters sind, daß die Historie es hauptsächlich mit der Vergangenheit zu tun hat, und daß die Vergangenheit nur durch das Medium ihrer Denkmäler erkannt werden kann. Wäre ein unmittelbares Anschauen der Vergangenheit möglich, so wäre keine Philologie vonnöten; täte es uns leid um sie? Um die Kritik gewiß nicht. Zwar ist sie das eigentliche Gebiet des philologischen Scharfsinns; trotzdem würde jeder ernste Philologe vorziehen, die Denkmäler des Altertums heil und somit keiner Kritik bedürftig als verdorben zu besitzen. Dasselbe gilt von der synthetischen Interpretation; um wieviel besser wären wir dran, wenn wir mit Lynkeusaugen durch den Schleier der Vergangenheit dringen und den tätigen Menschengeist unmittelbar beobachten könnten, statt daß wir jetzt sein Wirken mühsam und irrend aus Zeugnissen wiederherstellen müssen! – Anders jedoch steht es um die analytische Interpretation. Sie ist kein Notbehelf; ihre Aufgabe, das Denkmal als Kunstwerk dem Verständnis näher zu bringen, ist eine selbständige, schöne Aufgabe, die bei allen Vervollkommnungen der historischen Forschung zu Recht bestehen würde. Auf die »Antigone« als religionsgeschichtliche Quelle würden wir gern verzichten, wenn wir dieser Religionsgeschichte selber auf wunderbare Weise habhaft werden könnten; auf die »Antigone« als Kunstwerk keinesfalls. Darum hat der Philologe volles Recht, diese Seite seiner Tätigkeit hoch und in Ehren zu halten; und noch aus einem anderen Grunde.

Wo nur Menschen zusammenkommen, um eine auch noch so kleine Gesellschaft zu bilden, ist es das Wort, der Logos, dem die Mittlerrolle zufällt – nicht umsonst haben daher die Alten den Logos als Städtegründer personifiziert und verehrt. Diese Rolle ist ihm bis auf die Gegenwart erhalten geblieben und wird es auch in der Zukunft werden – im großen wie im kleinen, in den Verhandlungen der Reichstage wie in den Unterhaltungen der Hausgenossen. Das Wort ist aber nur insoweit eine Kraft, als ihm ein Sinn beiwohnt – und Sinn aus dem Wort zu entwickeln ist, dem Gesagten gemäß, Sache der analytischen Interpretation. Ehrliches Auslegen ist ihr Gebot, irrtümliches oder böswilliges Unterlegen ihr Verbot – ist nun ihre Bedeutung fürs Leben groß genug? »Ach Gott, so hab' ich's ja nicht gemeint!« – wie oft bekommen wir im Alltagsleben diese Klage zu hören! Warum? Hatte der Klagende hier seine Meinung in Worten ausgedrückt, die ihr nicht zukamen – oder hatten die Hörer aus seinen Worten einen Sinn entwickelt, der in ihnen nicht lag? In beiden Fällen wäre ein Verstoß gegen die analytische Interpretation die Ursache jener Klage. »Das ist es, was im Gesagten liegt, nicht mehr noch minder« – wer das in jedem Falle weiß, der hat von vornherein dem Irrtum und der Entstellung den Riegel vorgeschoben. Insoweit ist jeder Mensch Philologe, oder sollte es doch sein; insofern ist auch der Philologe der berufene Erzieher der Menschen zur wichtigsten Kunst – der Kunst des Lebens.

Das zweite Wort hätte etwa der praktischen Verwirklichung der soeben charakterisierten Fachstudien zu gelten. Es wird ja mancher Jünger der Geisteswissenschaften die Erfahrung gemacht haben, daß er zwar als Historiker Halbgebildeten gegenüber Gnade findet, als Philologe dagegen mit etwas verdutzten Augen angesehen wird. Und doch spielt im Universitätsbetrieb die dem Laien so unverständliche Philologie eine gar große Rolle. Der Grund ist aus dem vorhergehenden ersichtlich: auf der Universität soll doch der junge Mann wissenschaftlich arbeiten lernen. Wissenschaftlich aber heißt hier soviel wie quellenmäßig; und die Quellen sind eben in den Denkmälern, d. h. in der Philologie enthalten. Um aber die Denkmäler zu verstehn, muß man ihre Sprache verstehn; das ist der Grund des vielverbreiteten Irrtums, der die Philologie mit dem Sprachstudium identifiziert. Wahr daran ist nur die allerdings überragende Bedeutung des Sprachstudiums für die Philologie, die auch darin zum Ausdruck kommt, daß die an den Universitäten getriebenen »Philologien« sich vorwiegend nach den Sprachen ordnen. Zwar was man » orientalische Philologie« nennt, ist ein sehr reichhaltiges Ganzes, das nur der Bequemlichkeit wegen so zusammengefaßt wird; tatsächlich gibt es wohl niemand, der das ganze also genannte Gebiet beherrscht. Wir unterscheiden darin erstens das altehrwürdige Paar, Ägyptologie und Assyrologie; sodann die altsemitische Philologie, die uns nach Phönizien (mit Karthago) und Altisrael führt – nur daß die letztgemeinte, die hebräische Philologie, wegen ihrer Wichtigkeit für die Theologie sowie infolge der Bedeutung des jüdischen Volkes für die Gegenwart die weitaus bevorzugte ist; ferner die indo-iranische Philologie, die von den beiden Hauptsprachen, Sanskrit und Zend, und ihren Annexen ausgeht; endlich das Studium des fernen Ostens, Chinas und Japans. Der orientalischen Philologie steht die klassische zur Seite, die man besser ungeschieden läßt: es liegt schon etwas Banausentum darin, wenn man ausschließlich Hellenist oder Latinist sein will. Doch von ihr ist ausreichend die Rede gewesen; indem wir zur Neuzeit übergehen, finden wir das Hauptgebiet von den drei, für die moderne Kultur bedeutsamsten Stämmen ausgefüllt, dem germanischen, romanischen und slawischen. Darum zerfällt auch die » Neuphilologie« in drei Hauptteile – Germanistik, Romanistik und Slawistik. Selbstverständlich gliedert sich jede dieser Hauptdisziplinen in ihre natürlichen Unterabteilungen, die aufzuzählen ebenso müßig wäre wie die Aufführung der außerhalb dieser drei stehenden Zweige der modernen Philologie.

Doch nun weiter zu dem historischen System der Geisteswissenschaften. Die Psychologie ist nicht nur die Vorhalle der Geisteswissenschaften: sie gibt auch für ihre Systematik, wie das natürlich ist, die unterscheidenden Merkmale an. Nun zerfällt die Psychologie in die Wissenschaft von der individuellen und die von der kollektiven Psyche – in die Individualpsychologie und die Völkerpsychologie, wie wir sie zu nennen pflegen; derselbe Unterschied gilt auch für die Systematik der Geisteswissenschaften.

Ein Vorbehalt ist hier freilich nötig, um verhängnisvollen Mißverständnissen vorzubeugen: eine reinliche Scheidung ist hier nicht möglich, es handelt sich immer nur um ein Mehr oder Minder. Einerseits ist die Individualseele in ihrer Betätigung nie ganz selbständig; die Gemeinschaft wirkt für sie immer bestimmend mit, und zwar in doppelter Hinsicht: einmal, insofern die Individualseele in ihren Eigenschaften von ihr ausgestaltet wird, dann aber auch, insofern sie sich in ihrem Wirken bewußt oder unbewußt nach ihr richtet. Andrerseits gibt es selbstverständlich keine Verkörperung der Kollektiv- oder Volksseele: was wir so nennen, ist nur ein bequemer Ausdruck dafür, was man mit wissenschaftlicher Genauigkeit »soziologische Auslese« genannt hat. Ein Beispiel soll das erläutern. Es habe jemand ein Lied gedichtet. Wenn er es als solches niederschreibt und womöglich druckt, ist es sein Eigentum, das Erzeugnis seiner Individualseele, das als solches so lange besteht, als das Papier lebt, auf dem es zu lesen ist. – Nein, er hat es nicht niedergeschrieben; er hat es nur vor den Leuten gesungen, die haben es sich gemerkt und weitergegeben. Nun geht folgendes vor sich. Alles »Aparte«, alles für die Individualseele des Dichters Charakteristische und darum für die große Masse Unbrauchbare wird abgestreift und durch Geläufiges ersetzt; eine zu knappe Kürze wird gefällig aufgelöst, andrerseits auch eine überflüssige Strophe entfernt; so ist allmählich, durch stufenweise »soziologische Auslese« aus dem Individuallied ein Volkslied geworden, an dem wir mit vollem Recht die Eigenschaften der »Volksseele« studieren. Wie jedermann sieht, sind auch hierbei Individualseelen tätig gewesen, aber es waren ihrer sehr viele, sie haben sich in ihrem Wirken die Wage gehalten und kommen darum als solche nicht in Betracht.

Die Psychologie geht nun in ihrer Betrachtung der Psyche von dem Individuum aus und erst von ihm zur Gemeinschaft über; bei der Betrachtung der Betätigung aber ist von der Völkerpsychologie auszugehen, da ihre Objekte den gemeinsamen Hintergrund bilden, von dem sich die Schöpfungen der Individualseelen als solche abheben. Solcher Objekte kennt nun die Völkerpsychologie drei; es sind die Sprache, die Religion, die Sitte.

Die Sprache ist das eigenste Gebiet der Völkerpsychologie, zugleich Bedingung und Schöpfung des Triebes, der den Menschen zum Menschen gesellt. Es braucht nicht durchaus die Wortsprache zu sein; ihr mag oft die Gebärdensprache vorangegangen sein, die am Laut vorerst ihren erläuternden Begleiter hatte, bis dieser sich zum Wort, zur Rede entwickelte und nun umgekehrt die Gebärde nur als erläuternden und steigernden Begleiter duldete oder auch ganz beseitigte. Jetzt kommt die Gebärdensprache für uns kaum in Betracht; die Wortsprache dagegen ist – nachdem sich Religionen und Sitten durcheinandergeschoben haben – das Hauptkennzeichen der nationalen Eigenart geworden, so daß wir nach den Sprachen auch die Völker einteilen. So ist denn die Sprachlehre die erste Geisteswissenschaft – oder vielmehr die Sprachgeschichte,; denn für die Wissenschaft ist, wie oben dargelegt, das Deutsch von heute nichts als ein um 1900 geführter Querschnitt durch die Entwicklung der deutschen Sprache von ihren ältesten erreichbaren Anfängen an. Die Sprachgeschichte ist die Tiefendimension der Sprachlehre, der sie ihre Körperhaftigkeit verdankt; ihre Längendimension in der jeweiligen Zeitfläche ist die Dialektkunde. Denn daß Deutsch nicht nur hochdeutsch ist, braucht heute nicht mehr gesagt zu werden – eher bedarf das Umgekehrte einer Einschärfung: der Gebildete ist auch ein Mensch, sozusagen, und so ist sein Hochdeutsch auch Deutsch, geradeso gut wie das Friesische oder Alemannische. Jede Sprache ist so lange eine lebende und »natürliche«, als sie eine Anzahl Träger hat, groß genug, um die obengenannte soziologische Auslese zu ermöglichen; deren Abwesenheit ist es, die eine Sprache zu einer toten oder künstlichen macht. Selbstverständlich haben auch die Dialekte ihre Geschichte – wir haben das Altniederdeutsche und Mittelniederdeutsche, nur daß wir sie aus den hinterlassenen Denkmälern, also philologisch studieren. Wir können aber auch durch Vergleichung der einzelnen Dialekte Rückschlüsse auf die gemeinsame Ursprache, das Urdeutsch, ziehen, so daß die Betrachtung dieser Längendimension mit Notwendigkeit zur Tiefendimension führt. – Die Breitendimension endlich bilden die Bestandteile jeder Sprachlehre: Phonetik oder Lehre von den Lauten, ihren Zusammensetzungen und Aufeinanderwirkungen (insofern diese durch die Sprachwerkzeuge des Menschen bestimmt werden, hängt die Phonetik durch die sog. Anthropophonie mit der Physiologie und somit mit den Naturwissenschaften zusammen); die Morphologie oder Lehre von den Wortformen, wie sie in Flexion, Wortbildung und Wortzusammensetzung zutage tritt (diese zwei Disziplinen, die Phonetik und Morphologie, pflegt man wohl auch unter dem Namen Etymologie zusammenzufassen); die Syntax oder Lehre vom Satz und den Satzverbindungen; endlich die Semasiologie oder Semantik, die Lehre von der Wortbedeutung und ihrem Wandel.

So stellt sich die Sprachwissenschaft innerhalb eines einzelnen Sprachgebietes dar; der weitere Schritt ist, daß man sie innerhalb eines ganzen Komplexes von Sprachen vergleichend betreibt. Natürlich ist diese » sprachvergleichende Methode« nur dort fruchtbar, wo Sprachverwandtschaft vorliegt, und daher um so fruchtbarer, je größer diese Verwandtschaft ist; daß hier bei uns die indogermanischen Sprachen zunächst in Betracht kommen, leuchtet ein. Der alte, törichte Streit zwischen den »Komparativen« und »Historikern« hat zum Glück ausgetobt; heute wissen beide Parteien recht gut, daß sie voneinander lernen können und lernen sollen. Was wir oben bei der vergleichenden Dialektforschung wahrgenommen haben, daß die Längendimension mit Notwendigkeit zur Tiefendimension führt, das gilt auch hier: die Sprachvergleichung verhilft uns für jede Sprache zu älteren und ältesten Formen, die jenseits aller schriftlichen Zeugnisse liegen, ja zur Rekonstruktion eines allerdings hypothetischen »Indogermanisch«, der gemeinsamen Grundlage aller Einzelsprachen dieses Gebietes. Das gilt natürlich auch für die andren Sprachkomplexe, den semitischen, hungaro-finnischen, uralo-altaischen usw. Der weitere und letzte Schritt – die Vergleichung aller dieser Komplexe miteinander – führt uns wegen allzu geringer Verwandtschaft zu keiner »Ursprache«, wohl aber läßt er uns lehrreiche Einblicke gewinnen in die Wirksamkeit des Sprachgeistes, wie er mit Vorliebe gewissen Begriffen und Beziehungen zu sprachlichem Ausdruck verhilft, so daß für die Sprachpsychologie auch diese Art Vergleichung einen großen Wert hat.

Doch wird die Sprache nicht als Grammatik oder Lexikon von Generation zu Generation weitergegeben, sondern als lebendiges Sprachgut, und dies umfaßt außer dem flüssigen Formen- und Wortschatz auch feste Erzeugnisse – das ist die sog. Volksliteratur, die somit ein Anhängsel der Sprache darstellt. Hierher gehören zunächst einfach geprägte Wortverbindungen, die Redensarten und Sprichwörter, dann immer zusammengesetztere, die nach der einen Seite das prosaische Volksmärchen und die Fabel, nach der anderen Seite das Volkslied ergeben, wobei auch größere Ganze – Märchenzyklen und Volksepen – nicht ausgeschlossen sind. Das sind bereits Grenzgebiete: im Märchen, das oft in seinen Gestalten und Ereignissen uralte religiöse Vorstellungen herübergerettet hat, berührt sich das Gebiet der Sprache mit dem der Religion, im Volkslied leitet die anhaftende Singweise ins Gebiet der Volkskunst und somit der Sitte hinüber. Alle diese Spielarten der Volksliteratur werden von den »Folkloristen« eifrig durchforscht – es ist auch höchste Zeit, da sie im Schwinden begriffen sind oder auch mit unechtem, angelerntem Material durchsetzt werden. Noch haben wir mit dem Sammeln alle Hände voll zu tun, aber auch die vergleichende und historische Forschung ruht nicht. So ist die Entstehung des Volksepos eine altberühmte Kontroverse, zu der hauptsächlich die homerische Frage den Antrieb gegeben hat, ebenso hat die oft verblüffende Ähnlichkeit der Märchen verschiedener Völker und Zeiten die Frage nach dem Ursprung des europäischen Volksmärchens in Fluß gebracht, die wohl noch nicht sobald zur Ruhe kommen wird.

Das zweite Gebiet der Völkerpsychologie und der an sie anknüpfenden Geisteswissenschaften ist die Religion – selbstverständlich nicht insoweit sie Heilswahrheit ist (als solche gehört sie dem Glauben, nicht dem Wissen und der Wissenschaft an) und auch nicht insoweit sie in den Schriften gelehrter Theologen, sei es Thomas von Aquinos oder Luthers, niedergelegt ist (als solche gehört sie nicht der Völkerpsychologie an). Nein; das, was wir unter Religion verstehen, setzt gleich der Sprache oder Sitte die soziologische Auslese voraus: was nur an religiösen Vorstellungen und Übungen – wahr oder falsch, gut oder schlecht, gleichviel – durch die Esse des Volksbewußtseins hindurchgegangen ist, gehört in unser Gebiet. Die Tiefen- und Längendimension ist hier dieselbe wie im Sprachgebiet, womit die Berechtigung der religions historischen und religions vergleichenden Forschung von selber gegeben ist; was die Breitendimension anbelangt, so unterscheiden wir in der Religionslehre einen dreifachen Bestandteil: einen mythischen (oder, wenn man das Christentum einschließen will, einen erzählenden), einen dogmatischen und einen rituellen. Die Gesamtheit der Mythen eines Volkes ist seine Mythologie; diese ist somit ein Hauptbestandteil der Religionslehre, darf aber nicht einmal fürs klassische Altertum, von dem ihre Erforschung ihren Ausgang nahm, mit ihr identifiziert werden, wie es früher so oft geschehen ist. Ja, hier geht die Mythologie nicht einmal ganz in der Religionslehre auf: von den drei Arten Mythen, die es gibt, den theologischen – wie der von Zeus' Gigantenkampf oder dem Raub der Kore, – den ätiologischen (erklärenden) – wie der Geschichte von Pyramus und Thisbe als der Begründung der Verschiedenfarbigkeit der Maulbeere – – und den poetischen – wie der Heldentat der Antigone, – gehört streng genommen nur die erste hinein, und nur der praktische Gesichtspunkt veranlaßt uns meist, alle drei nebst der Heldensage, der vom Mythus durchsetzten Historie, zusammenfassend zu behandeln. – Der dogmatische Bestandteil umfaßt die Vorstellungen erstens von Gott oder den Göttern nebst Dämonen, sodann von der Seele und ihrem Schicksal vor der Geburt und nach dem Tode, endlich auch vom Weltbild, insofern dieses religiös gefaßt ist. Und da auch die Ethik vielfach von der religiösen Sanktion bestimmt ist, so gehört auch sie zum Teil hierher, wenn sie auch der Hauptmasse nach dem folgenden Hauptgebiete zuzuteilen ist: die Sittlichkeit ist veredelte Sitte. – Und wie sich auf diesem Gebiete Berührungspunkte mit der Sitte ergeben, so noch mehr auf dem folgenden dritten, dem des Ritus. Dieser umfaßt natürlich nicht nur den kirchlichen Gottesdienst, oder was ihm in den heidnischen Religionen entspricht: alle Bräuche und Übungen, die von religiösen Vorstellungen und Gefühlen bestimmt werden, mögen sie sonst mit Feldarbeit und Häuserbau, mit Krankenpflege und Totenbestattung usw. zusammenhängen, sind dabei inbegriffen. Die Grenze ist hier gar nicht zu ziehen: gar oft ist eine Sitte nichts als säkularisierter Ritus, der Ritus nur sakralisierte Sitte.

Die wissenschaftliche Erforschung der Religionsgeschichte ist ziemlich jungen Datums. Ehemals pflegte man nur das Judentum als die Religion der Verheißung mit dem Christentum als der Religion der Erfüllung als eigentliche Religionen zusammenzufassen; die übrigen ließ man – abgesehen etwa vom Islam, der als monotheistisch eine Ehrenstellung beanspruchte – nur als Religionen niederer Ordnung gelten. Zumal die Religionen des klassischen Altertums ließ man, mit Unterdrückung ihrer Seele, des dogmatischen Teils, in Mythologie und Kultusaltertümer auseinanderfallen, die beide getrennten Wissensgebieten angehörten. Heute liegen die tausend Fäden, die die antike Religion mit dem Christentum verbinden, mehr oder minder zutage, und die Zeit ist wohl nicht mehr fern, wo sie zu ihm in eine ähnliche Stellung treten wird wie vordem das Judentum. Schon seit Demeter und Dionysos hat die »heidnische« Menschheit ihr Seelenheil gesucht; eben diese Sehnsucht hat sie in der Folgezeit zu Kybele und Attis, zu Serapis und Isis geführt, bis sie endlich in Christus ihre Ruhe fand. So mündet der antike Religionsgedanke ins Christentum aus – etwa darum ist die antike Religion nicht weniger als das Judentum eine Vorstufe der unserigen – gar nicht zu reden vom poetischen und künstlerischen Wert der durch sie geschaffenen Gestalten und Mythen. Jedenfalls stehen diese drei Religionen jetzt im Mittelpunkt des Interesses, ähnlich wie auf dem Gebiete der Sprachwissenschaft das indogermanische Sprachgebiet. In zweiter Reihe kommen die Religionen in Betracht, die sich um jene drei gruppieren, die der Germanen, Inder, Perser nebst den beiden interessanten Neuländern der Religionsgeschichte, Ägypten und Assyrobabylonien; in dritter und letzter die der anderen, zumal der Naturvölker, deren ursprüngliche, »primitive« Religionsformen uns für die Reste des Primitivismus bei den Kulturvölkern den Blick schärfen. Ein Studium für sich bilden die beiden anderen »Weltreligionen« der Neuzeit, der Islam und der Buddhismus: für die vergleichende Religionsgeschichte ist ihre Ausbeute verhältnismäßig gering; dagegen haben sie als die Religionen weit ausgebreiteter und für den Weltverkehr wichtiger Völkermassen ein hervorragendes selbständiges Interesse.

Und nun das dritte Hauptgebiet: die Sitte und alles was ihr entspringt. Hier ist der Stoff besonders reich und die Systematisierung besonders schwierig: umfaßt doch unser Gebiet alle Bedingungen, Formen und Erzeugnisse des menschlichen Zusammenlebens, vom anspruchslosesten Hausgerät bis zur höchsten Schöpfung, dem Staat. So gibt es denn nur für die Naturvölker eine allgemeine, alle hierher gehörenden Erscheinungen umfassende Wissenschaft, die Ethnologie. Für die Kulturvölker sind Unterteilungen vorzunehmen. Scheiden wir hier zunächst das niedrigste Gebiet aus, das der materiellen Kultur; es ist zugleich in Zeit und Raum das verbreitetste, denn es heftet sich an materielle Erzeugnisse, die uns aus uralten Zeiten erhalten sind und bei den geistig fremdartigsten Völkern laut genug zu uns reden. Also alles, was das Haus anbelangt – jedes Haus, von Menschen sowohl wie von Göttern, von Lebendigen sowohl wie von Toten. Dann weiter: das Gerät, die Waffen, die Kleidung, der Schmuck. Und weil sich bei all diesen Erzeugnissen außer dem Gesichtspunkt des Nutzens mehr oder minder der der Schönheit, wie auch immer verstanden, geltend macht, so hängt der Geschichte der materiellen Kultur auch immer eine primitive Kunstgeschichte an.

Ein weiteres Gebiet ist das der Produktion und Konsumtion, das der ökonomischen Kultur. Hier fragen wir nach der produktiven Arbeit und ihren Formen: Jagd, Viehzucht, Landbau, Gewerbe, Handel; wir fragen nach dem Kreislauf der Produkte und dem durch ihn bedingten Charakter des jeweiligen ökonomischen Zustands als Hauswirtschaft, als Stadtwirtschaft, als Weltwirtschaft; wir fragen endlich nach der Verteilung des Besitzes und Erwerbes und dem dadurch bewirkten Unterschied von Besitzenden und Besitzlosen, von solchen, die sich fremden Erwerb angeeignet haben, und solchen, die auf den eignen verzichten müssen. Ein ungeheures Gebiet, das enger als irgendein andres mit den Tagesfragen der Gegenwart verknüpft ist; kein Wunder, daß bei den meisten das praktische Interesse das historische überwiegt und bei ihnen die Wirtschafts geschichte hinter der Wirtschafts lehre zurücktritt, welche sie zeitlos fassen und um allgemeingültige Weisungen angehen – was an der Wirtschaftslehre tatsächlich zeitlos ist, wird sich uns noch unten ergeben.

Auf die ökonomische Kultur lassen wir die eigentliche Ethnologie folgen, als die Lehre von den Sitten und Bräuchen, die durch das Zusammenleben der Menschen bedingt werden: Eheschließung, Familienleben, Nachbarschaft, Verwandtschaft, Verbandgliederung, Arbeit und Spiel, Kriegführung und Seefahrt, Krankheit, Totenbestattung. Hierin ist manches enthalten, woran man auf den ersten Blick nicht denkt – Musik und Tanz, zum Beispiel, und damit ein weiterer Zweig primitiver Kunstgeschichte; populäre Medizin und damit überhaupt die primitive Wissenschaftsgeschichte; aber auch die höhere Regelung der Sitte, die Sittlichkeit. So mündet die Ethnologie in die Geschichte der geistigen Kultur aus, von der die Rechtsgeschichte nur ein Bestandteil ist: in der Tat ist das Recht nichts anderes als die niedergeschriebene, »kodifizierte« Sitte auf dem Gebiete, auf dem die Kodifizierung aus Rücksicht auf die allgemeine Wohlfahrt besonders notwendig war. Zwar das Staatsrecht scheiden wir vorläufig noch aus; hier handelt es sich um Zivilrecht und Kriminalrecht, – jenes um Mein und Dein, dies um Schuld und Sühne besorgt. Aus diesen zwei Grunddisziplinen, die anfangs auch miteinander verquickt waren, ist die gesamte Rechtswissenschaft hervorgegangen, die in Mittelalter und Neuzeit der bevölkertsten Fakultät Namen gegeben hat. Dafür war, wie oben gezeigt worden ist, der praktische Gesichtspunkt entscheidend; die Stellung aber, die der rein wissenschaftliche Gesichtspunkt der Rechtswissenschaft anweist, ist keine andere als die hier ihr eingeräumte: als Rechtsgeschichte ist sie ein Bestandteil der Geschichte der geistigen Kultur, und davon ist die heutige Rechtslehre nichts als ein heute vollzogener Querschnitt, dem vor hundert Jahren ein anders aussehender entsprach und nach hundert Jahren ein anders aussehender entsprechen wird – von einem Vorbehalt wird weiter unten die Rede sein.

Endlich die höchste Schöpfung des kollektiven Menschengeistes, der Staat, und mit ihm die Staats- und Staatengeschichte oder das, was man insgemein die Geschichte zu nennen pflegt, oder, genauer, die politische Geschichte etwa im Gegensatz zur Kulturgeschichte (daß der Gegensatz ein schiefer ist, sieht nach dem Gesagten jeder leicht ein). In dieser politischen Geschichte unterscheidet man seit langem zwei Teile: die äußere und die innere. Die Unterscheidung ist berechtigt, mag auch die Scheidelinie strittig sein. Dort handelt es sich um die äußeren Merkmale des Staates, seine Ausdehnung, die Verschiebung oder Auflassung seiner Grenzen gegen die Nachbarstaaten; hier um die Organisationsformen der Bürgerschaft, um die Verteilung der Staatsgewalt, um das Verhältnis des regierenden zum regierten Element. Führt man durch beide einen Querschnitt, so erhält man dort die politische Geographie, die mit der eigentlichen Geographie als einer Naturwissenschaft nur den Namen gemein hat; hier einerseits das Staatsrecht oder die Verfassungslehre, andrerseits die Bevölkerungslehre (auch Demographie oder Statistik genannt), die streng genommen als Grenzwissenschaft zwischen Staats- und Wirtschaftslehre zu gelten hat. Es ist, wie gesagt, das älteste Gebiet der Geschichte, um das es sich handelt; das kommt daher, weil die hierhergehörenden Erscheinungen besonders auffällig sind und unwillkürlich von jeher die Aufmerksamkeit der Historiker auf sich gezogen haben. Auf den andren Gebieten vollziehen sich die Wandlungen meist allmählich und unbemerkt; hier allein haben wir Umwälzungen und Beruhigungsakte, von denen jene einem vorausgegangenen Beharrungszustand ein Ende machen, diese einen neuen einleiten. In der äußeren Geschichte heißen die Umwälzungen Kriege, die Beruhigungsakte Verträge – wobei sich indessen von selber versteht, daß ein Vertrag auch einem drohenden Krieg vorbeugen kann. In der inneren Geschichte entspricht dem Krieg die Revolution, dem Vertrag die Gesetzgebung – wobei auch hier diese jener vorbeugen kann und soll. Und weil Kriege sowohl wie Revolutionen die wirtschaftlichen Kräfte der Völker zerstören und einen Niedergang jeder Kultur im Gefolge haben, so geht das fortschrittliche Streben dahin, auf beiden Gebieten gewaltsame Umwälzungen durch rechtzeitige Verträge und Gesetzgebungen hintanzuhalten, die vor dem Ausbruch einen unerträglich gewordenen Zustand durch einen neuen ablösen und sozusagen die politische Therapie durch eine politische Hygiene ersetzen sollen. Immerhin: bislang ist der Krieg ein wichtiger Faktor im Völkerleben und somit auch die Kriegsgeschichte und Kriegslehre eine wichtige Zweigwissenschaft. Sie dehnt sich über das ganze Hauptgebiet der Sitte aus: durch das Waffen- und Befestigungswesen hängt sie mit der materiellen Kultur, durch das Versorgungswesen mit der wirtschaftlichen Kultur, durch die Kriegssitte und das Kriegsrecht mit der Ethnologie zusammen. So hat denn auch hier der praktische Gesichtspunkt dahin geführt, daß diese Teilwissenschaft, ähnlich der Jurisprudenz, zu einer ganzen Fakultät ausgestaltet worden ist; denn das ist im Grunde die Kriegsakademie, wenn auch derselbe praktische Gesichtspunkt ihre Angliederung an die Universität verhindert hat.

So wären wir mit dem dritten Hauptgebiete und mit den Gebilden der Völkerpsychologie überhaupt zu Ende. Bevor wir zu dem Bereiche der Individualpsychologie übergehen, verlohnt es sich, die Frage aufzuwerfen, ob und in welchem Maße – auch abgesehen von dem S. 230 gemachten Vorbehalt – die individuelle Psyche sich innerhalb jener Gebilde betätigt. Gehen wir von der Sprache aus, so ist ihre Rolle allerdings eine verschwindende. Das Wort »morgenschön« hat für uns Goethe geschaffen; wer es jetzt braucht, erlaubt sich ein Zitat oder ein Plagiat. Das Wort »lustwandeln« hat ein etwas späterer Quidam geprägt: um den kümmern wir uns nicht, aber wer in der Fachliteratur Bescheid weiß, kann auch seinen Namen erfahren. Das sind Ausnahmen; im übrigen ist die deutsche Sprache unpersönlich und national. Anders steht es schon mit der Religion. Selbst in der Antike sind Pythagoras und Plato eigentlich Religionsgründer, und hinter den Namen Orpheus, Melampus, Eumolpos werden wohl auch historische Persönlichkeiten stecken; und nun denke man an Stifter wie Zarathustra, Buddha, Mohammed, Luther (von Christus gar nicht zu reden), an die unzähligen Verbreiter und Bekenner! Vollends aber das Gebiet der Sitte hat in seiner höchsten Blüte, dem Staate und seiner Geschichte, eine wahre Arena für die Persönlichkeit geschaffen: Könige, Kriegshelden, Diplomaten, Staatsmänner und Gesetzgeber spielen hier dermaßen eine hervorragende Rolle, daß ein Plutarch es wagen durfte, die politische Geschichte in die Biographie aufzulösen. Nun, die tiefer blickende Neuzeit hat auch hier zwischen der Gemeinschaft und dem Individuum das richtige Verhältnis wiederhergestellt; trotzdem wird der Wunsch einiger Extremer, die Persönlichkeit ganz aus der politischen Geschichte zu streichen und so eine »Staatengeschichte ohne Eigennamen« zu verfassen, immer eine Utopie bleiben. So steht denn die politische Geschichte mitten inne zwischen den Gebilden der Völkerpsychologie und denen der Individualpsychologie, ihrem Hauptgegenstande nach dahin, ihren treibenden und anhaltenden Kräften nach vielfach hierher gehörend. Der Streit zwischen Persönlichkeit und Gemeinschaft in der politischen Geschichte ist darum ziemlich müßig; hier hat schon vor Jahrtausenden Themistokles das Richtige gesehen, der einem seriphischen Kollektivisten auf seine Nörgeleien geantwortet haben soll: Weder hätte ich als Seriphier das alles geleistet noch du als Athener.

Damit ist das eigentliche Gebiet der Individualpsychologie mittelbar angegeben. Fragen wir, in welchen Sphären die Persönlichkeit in geringstmöglicher Abhängigkeit von der Gemeinschaft sich betätigen könne, so ist zu antworten: in Wissenschaft und Kunst. Themistokles war ein genialer Staatsmann, ein gewaltiger Kriegsheld; immerhin, ohne das Volk, das seine Geschicke in seine Hände legte, hätte er nichts leisten können. Nun, Pindar war aus Theben, Aristoteles aus Stagira; in ihren Werken ist nichts Thebanisches oder Stagiritisches. Da ist alles ganz Pindar, ganz Aristoteles.

Also an erster Stelle die Wissenschaft – und zwar in ihrem ganzen Umfang, auch die mathematischen und Naturwissenschaften nicht ausgenommen. Das ist kein Übergriff. Wohl sind die Objekte dieser zwei Komplexe vom Menschengeiste unabhängig, daher wir sie denn auch nicht als Geisteswissenschaften gelten lassen: unser Wissen aber von diesen Objekten ist allerdings die Betätigung unsres Geistes, und so gehört die Wissenschafts geschichte unstreitig in die Reihe der Geisteswissenschaften hinein. Der beste Beweis dafür ist, daß sie nicht anders als mit philologischen Mitteln zu behandeln ist: auch wer die Geschichte der Mathematik schreibt, muß ihre Vergangenheit aus Zeugnissen wiedererstehen lassen, also philologisch verfahren. Das macht die Wissenschaftsgeschichte zu einem so schwierigen Gebiete: der Fachmann pflegt dafür zu wenig philologische, der Philologe zu wenig Fachkenntnisse mitzubringen. Meistenteils ist man von vornherein das eine von beiden und eignet sich das Fehlende besonders an: und zwar ist der gewöhnliche Lauf der, daß man von Haus aus Philologe ist und nachträglich die nötigen Fachkenntnisse hinzuerwirbt.

Wer Wissenschaftsgeschichte schreibt, hat streng genommen mit den Griechen zu beginnen. Wohl ist die Sternkunde von Babylon, die Geometrie von Ägypten ausgegangen: das soll den beiden selbstverständlich unvergessen bleiben. Doch waren es praktische Fertigkeiten, die gelehrt wurden, dort der Sterndeutung, hier der Landvermessung wegen; auch war diese Wissenschaft noch ganz unpersönlich. Hand in Hand mit der Wissenschaft ging auch das notwendige Mittel ihrer schriftlichen Mitteilung, das Alphabet, das wir gleichfalls von Ägypten über Phönizien nach Griechenland gelangen sehen. In Griechenland erleben die Wissenschaften ihre erste Blüte und werden zuerst mit philosophischem Geist erfüllt. Von hier aus werden sie einerseits über Rom nach dem barbarischen Westen weitergegeben, andrerseits über Syrien und Persien zu den Arabern, die sie gleichfalls im späteren Mittelalter nach demselben Westen bringen, wo sie in der Renaissance ihre zweite Blüte erleben; seitdem sind sie bis in die Neuzeit das Palladium der europäischen Kultur. Abseits steht, was andre Völker geleistet haben – dem nachdenklichen Indien verdanken wir kaum mehr als das Ziffernsystem, das, zu uns von den Arabern gebracht, den Ausbau der Mathematik ermöglicht hat; den wohltätigen Einfluß der indischen Grammatik und den zweifelhafteren der indischen Philosophie haben wir erst im 19. Jahrhundert gespürt. Völlig abgelegen und nur um ihrer selbst willen interessant ist die wissenschaftliche Ausbeute Chinas und Japans vor ihrer Europäisierung – von den übrigen ist vollends nichts zu sagen. Das ist die Tiefen- und zugleich die Längendimension; von der dritten schweigen wir hier, da sie mit dem System der Wissenschaften überhaupt zusammenfällt. Dafür mag aber die Mahnung hier wiederholt werden, die oben (S. 235) schon ausgesprochen wurde: was immer der Wissenschafter sei – ihm soll die Geschichte seiner Wissenschaft kein unbekanntes Gebiet sein; auch das ist ein Mittel, den wissenschaftlichen Kopf von einem Banausen zu unterscheiden. Mag diesem alles unnötig erscheinen, was für den Markt des Lebens keinen unmittelbaren Tauschwert hat; dem wissenschaftlichen Kopf kann es nicht gleichgültig sein, wie das Haus, das er bewohnen soll, gebaut worden ist. Vollends sollte beim Universitätsstudium dafür gesorgt werden; in der mathematischen Sektion darf die Geschichte der Mathematik, in der medizinischen Fakultät Geschichte der Medizin nicht fehlen. Ein Examensfach braucht sie deshalb nicht zu werden; es ist kein Unglück, wenn die alma mater nicht weiß, wieviel Banausen sie unter ihren Söhnen hat.

Das zweite Hauptgebiet ist die Kunst; teilen wir es sofort in die beiden Gebiete der musischen und der bildenden Künste ein.

Die musischen Künste – die des Wortes, die des Tons und die der Gebärde – bildeten vor Zeiten eine Einheit, alle drei von ihrem gemeinsamen Begleiter, dem Rhythmus, getragen. Als solche sehen wir sie in den beiden ursprünglichsten Erscheinungsformen auftreten, die unserem Wissen zugänglich sind, dem Arbeitslied einer-, dem Kultlied anderseits. Doch liegt das alles jenseits aller Geschichte und erst recht jenseits aller persönlichen Geschichte; wir weisen es der Ethnologie und ihren Hilfsdisziplinen zu. Wo die Geschichte beginnt, erscheint zwar die Kunst des Wortes noch immer mit Musik, zum Teil auch mit Tanz verbunden, aber doch schon von selbständigem Interesse. Auch sehen wir sie bereits in ihre beiden Hauptarten, Poesie und Prosa, gespalten – eine psychologisch wohl begründete Spaltung, da die Poesie ihrem Wesen nach dem Gefühl, die Prosa der Vorstellung zum Ausdruck verhilft. Freilich ist die Verschmelzung hier ebenso notwendig wie im Seelenleben selbst; und zwar überfluten zuerst die Vorstellungen das Gebiet des Gefühls und schaffen so die Poesie der wandelnden Vorstellungen, das Epos. Hier beginnt für uns ihre Geschichte – und zwar in Griechenland. Nicht als ob es vor Homer keine Poesie gegeben hätte – an den indischen Veden hat sich das 19. Jahrhundert begeistert, zu unserer Zeit hat uns Babylon und Ägypten hochinteressante Denkmäler seiner Poesie geschenkt, und an die Bibel braucht bloß erinnert zu werden. Aber von einer Beeinflussung kann hier keine Rede sein – ganz im Gegensatz zur Wissenschaft und auch zu den bildenden, ja selbst zu den übrigen musischen Künsten. Es ist auch begreiflich: eine Fertigkeit, ein Bild erweckt auch ohne Worte Nachahmung, eine gefällige Weise prägt sich ohne weiteres ein – ein Gedicht muß übersetzt werden, um zu wirken, und Übersetzer gab es nicht. So kann denn behauptet werden: die griechische Literatur ist ganz original, nicht eine ihrer Kunstformen hat sie von ihren älteren Schwestern entlehnt oder auch nur von ihnen beeinflussen lassen. Von selbst hat sich alles entwickelt – nach dem Epos die Lyrik, nach der Lyrik das Drama, original und persönlich. Dann stockt die Poesie: es tritt eine rückläufige Bewegung ein, nun überflutet das Gefühl das Gebiet der Vorstellung, die Prosa, es entsteht die gefühlsmächtige Prosa, die der Redekunst, die inhaltlich Roman und Novelle aus sich entwickelt, formell einen poetischen Gleichklang erstrebt und es allmählich bis zum Reim bringt. Doch bevor das geschah, siedelten beide nach Rom über. Dazu bedurfte es der Übersetzer, und solche fanden sich auch: der Übersetzer Andronicus ist der Schöpfer der römischen Poesie, durch ihn knüpft sie an die griechische an. Und durch Rom hängt Hellas mit dem mittelalterlichen und so auch mit dem modernen Europa zusammen: von Homer an ist der Faden nicht mehr abgerissen. Was abseits von dieser Entwicklung steht, ist ein Gebiet für sich und hat ein spezielles, kein allgemein europäisches Interesse.

Viel mangelhafter sind wir über die älteste Geschichte der beiden übrigen musischen Künste unterrichtet. Für die Musik bietet das Altertum nur Stückwerk; die zusammenhängende Entwicklung beginnt erst mit dem Mittelalter. Trotzdem genügt auch jenes Stückwerk, um die früher verbreitete Ansicht von dem speziell christlichen Charakter der Musik zu widerlegen und die ununterbrochene Entwicklung vom Altertum durch das Mittelalter zur Neuzeit zu beweisen. Aber die Wandlungen waren hier noch viel schroffer als auf irgendeinem andren Gebiet; nicht nur die antike, auch die mittelalterliche Musik klingt uns fremdartig, und so darf es nicht wundernehmen, wenn für den Nichtfachmann die Entwicklung der Musik erst mit Palestrina und Bach beginnt. – Noch weniger läßt sich von der Geschichte des Tanzes sagen, wie das auch begreiflich ist – gab es doch (bis zur Erfindung des Kinematographen) kein Mittel, um das Nacheinander der Tanzbewegungen zu verewigen. Was uns das Altertum hinterlassen hat, sind Texte ohne Illustrationen und Momentaufnahmen in Farbe und Marmor, ohne Vorher und Nachher; daher es denn kein Wunder ist, daß der gewissenhafte, philologisch gebildete Fachmann verzweifelnd die Hände sinken läßt und das ganze Gebiet dem phantasievollen Dilettanten überläßt. Trotzdem haben auch diese kärglichen Überreste genügt, um die Sehnsucht nach der antiken Orchestik zu erwecken und sie in ihren Hauptprinzipien wieder lebendig werden zu lassen. Ein zweiter Mangel der Musik- und Tanzgeschichte ist, daß sie – die erste meistenteils, die zweite ganz – vom Universitätsbetrieb ausgeschlossen sind, was ihre ungesunde Vereinzelung zur Folge gehabt hat.

Das trifft zum Glück nicht zu auf die Geschichte der bildenden Künste, die, vorzugsweise »Kunstgeschichte« genannt, seit langer Zeit auf den Universitäten heimatsberechtigt ist. Von ihnen ist die Geschichte der Architektur noch die allerunpersönlichste – das merkt man daran, wie wenig man sich für die Namen der Baumeister interessiert, auch wo man sie zufällig kennt –, dafür aber auch die universalste: hier ist die Entwicklung der europäischen Kunst dreimal vom »Orient« – und man weiß ja, was alles dieser Sammelbegriff umspannt – aufs nachhaltigste beeinflußt worden, in der vorhistorischen Zeit Griechenlands, in der römischen Kaiserzeit und während der Araberherrschaft. Was außerhalb dieses orientalisch-europäischen Komplexes liegt – die kindliche Schnörkelarchitektur der Chinesen oder Mexikaner – ist wirklich kaum der Rede wert. Viel freier und darum persönlicher sind die beiden andren bildenden Künste, die Plastik und Malerei, von denen jene im Altertum, diese in der Neuzeit das Übergewicht hat. Auch ist ihre Entwicklung geschlossener und nähert sich viel mehr dem Schema »Hellas – Rom – Neueuropa«. Nicht daß Einwirkungen aus dem Orient gefehlt hätten, aber sie sind weder wesentlich noch nachhaltig gewesen: die schöne Natürlichkeit hat doch Hellas allein gefunden und nur durch Hellas das moderne Europa.

Wir sind mit der Betrachtung der Geisteswissenschaften zu Ende. Es wäre kein Wunder, wenn dem Betrachter, der das Schauspiel zum erstenmal mit Bewußtsein an sich vorüberziehen läßt, darüber der Mut verginge. Nicht ob seiner allumfassenden Größe: daran sind wir moderne Menschen längst gewöhnt, daß wir nur in einem kleinen Teile dieses Ganzen zu Hause, überall sonst nur zu Gaste sind. Nein: es ist der historische Charakter all des hier Betrachteten, dieses ewige heraklitische Werden, das uns den Halt verlieren läßt. Gibt es denn nichts Festes in diesem beständigen Wandel? Keinen Zustand, der dies Nacheinander von Vorgängen ablöste?

Hier ist eben der Ort, jene Ausnahme zur Sprache zu bringen, von der oben mehrfach die Rede war.

Zwar die Illusion des Zuständlichen haben wir zerstört – sie soll uns nicht länger täuschen. Was wir Sprachlehre, Rechtslehre und wie auch immer zu nennen pflegen, um damit von der Zeit abzusehen und die Aufmerksamkeit aufs Nebeneinander zu lenken, ist nichts als ein heute geführter Querschnitt durch den Baum der Entwicklung, der für unsere Nachkommen ebensosehr nur den Wert des Historischen haben wird, wie ihn für uns ähnliche Querschnitte in der Vergangenheit besitzen. Freilich, wir leben in der Gegenwart, und so haben alle diese Lehren der Gegenwart für uns ein überragendes Interesse; aber dieser lediglich praktische Gesichtspunkt kann für die theoretische Betrachtung nicht maßgebend sein.

Und dennoch gibt es auf allen den behandelten Gebieten eine zeitlose Zuständlichkeit – ja sogar eine doppelte. Wir nennen die eine die Prinzipienlehre, die andere die Normenlehre. Beide erhalten wir, wenn wir an die Ergebnisse der historischen Betrachtung den Maßstab der philosophischen legen. Diese philosophische Betrachtung ermöglicht uns zunächst, aus der Wiederkehr der Phänomene die dieser Wiederkehr zugrunde liegenden Gesetze zu erschließen. Sie bedient sich daher einer doppelten Methode: einerseits der vergleichenden, andererseits der statistischen. Aufgabe der vergleichenden ist es, in zeitlich oder räumlich getrennten Phänomenen die gleichen wesentlichen Merkmale zu erkennen und sie somit auf das gleiche Betrachtungsfeld zu bringen. Die politische Geschichte zeigt uns, wie im Rom des ersten vorchristlichen Jahrhunderts aus dem Streit der republikanischen Parteien die Alleinherrschaft Cäsars hervorging; sie zeigt uns auch, wie aus den Wirren der großen Französischen Revolution der Stern Napoleons erstrahlte. So weit geht ihr Amt; aber der denkende Historiker wird sich mit der Feststellung des Tatsächlichen nicht begnügen – er wird aus dem ähnlichen Schicksal der beiden Cäsaren das Prinzip des Cäsarismus ableiten und versuchen, rein theoretisch, in einer für alle Zeiten geltenden und daher zeitlosen Weise seine Entstehungsbedingungen zu erforschen. Das ist die vergleichende Methode; die andere ist die statistische, die den Prozentsatz der »Ausnahmen« feststellt und sie selber dadurch ausschaltet oder vielmehr einem weiteren zu findenden Gesetze zur Erklärung überläßt. Daß die athenische Pest eine Vermehrung der Verbrechen zur Folge hatte, hat schon Thukydides festgestellt; wohl mehr nach dem allgemeinen Eindruck als nach festen statistischen Daten. Heute verfährt man anders: die von den beaufsichtigenden Behörden geführten Register ermöglichen uns, die Schwankungen der beiden Reihen – der Sterblichkeit und der Entsittlichung – in ein festes gegenseitiges Verhältnis zu bringen und so das von Thukydides beobachtete Phänomen zu einem Prinzip zu erheben.

Auf diese Weise wird im großen Bereich des Geschehens zunächst das gesetzmäßige Geschehen festgestellt, das, eben weil gesetzmäßig, wiederkehrend und somit zeitlos ist; sodann werden eben die das Geschehen beherrschenden Gesetze herausgehoben. Über die Berechtigung des Wortes »Gesetz« in den Geisteswissenschaften ist viel gestritten worden; wir folgen W. Wundt (Logik II 22, 132 ff.), der die Frage positiv beantwortet und an ein solches Gesetz drei Forderungen stellt: 1. daß es einen regelmäßigen Zusammenhang logisch selbständiger Tatsachen bezeichne ( cum hoc); 2. daß es auf ein kausales Verhältnis hinweise ( propter hoc); 3. daß es sich für die Unterordnung neuer Tatsachen als fruchtbar bewähre. Solcher Gesetze kennen nun die Sprachlehre (das Grimmsche Lautverschiebungsgesetz, die unzähligen Lautwandel-, Bedeutungswandel- usw. Gesetze), die Wirtschaftslehre (das »eherne Lohngesetz« von Angebot und Nachfrage; das Listsche Gesetz über Import und Export usw.) in Menge; daß eine solche Prinzipienlehre der Sprachwissenschaft oder Nationalökonomie von der Sprach- oder Wirtschaftslehre als der Lehre von den heutigen sprachlichen oder wirtschaftlichen Zuständen streng zu scheiden ist, liegt auf der Hand. Auf andren Gebieten ist die Prinzipienlehre zum Teil naturwissenschaftlicher Art: so in der Musikwissenschaft die Intervallenlehre als Teil der Akustik, in der Architektur das Verhältnis von Last und Stütze; aber eben nur zum Teil, und wo sie aufhört, da beginnt eben das Stilistische und somit das geisteswissenschaftlich Interessante – die ästhetische Prinzipienlehre. In der politischen Geschichte deckt sich die Prinzipienlehre mit der Soziologie oder Gesellschaftslehre, so ziemlich der umstrittensten Disziplin im Bereich der Geisteswissenschaften überhaupt.

Das ist die Prinzipienlehre; ihr Objekt ist die Gesetzmäßigkeit des wiederkehrenden Geschehens, nichts weiter – und auch daran hat sie bei der verwirrenden Mannigfaltigkeit der Phänomene übergenug zu tun. Dennoch müssen wir fragen: gesetzt, die Geisteswissenschaften hätten nicht nur für jedes Gebiet die Prinzipienlehre festgestellt, sondern auch alle gefundenen Prinzipienlehren einer einzigen unterstellt – der Theorie der Entwicklung des menschlichen Geistes –, hätten sie damit alle ihre Aufgaben gelöst?

Wir müssen sagen: nein. Wir haben es ja gesehen: die Geisteswelt ist die Welt der Werte, der Zwecke, des Willens. Als solche offenbart sie sich in jedem einzelnen ihrer Phänomene; und nun kommt die Prinzipienlehre und führt alles Geschehen im Bereiche des Geistes auf Naturgesetze zurück, in denen Wert, Zweck und Wille gleicherweise untergehen und nichts als die Kausalität zurückbleibt. Ich denke, hier müßte jenes Ohnmachtsgefühl, das uns von dem Fluß der Phänomene ans Ufer der Prinzipien getrieben hat, nur noch stärker werden; hier muß einen umgekehrt das Verlangen überkommen, in jenen Fluß unterzutauchen, um in ihm die seinem Geiste wahlverwandten Werte, Zwecke, Willensbetätigungen wiederzufinden.

Doch nein, das hat er nicht nötig: die Prinzipienlehre ist erst die eine Erscheinungsform der Philosophie der Geisteswissenschaften; die andere ist die Normenlehre. Des Unterschieds wird man gewahr, wenn man an jene spaßhafte Stadt denkt, die Hamerling in seinem »Homunculus« dargestellt hat. Die Bürger hatten statistisch festgestellt, daß bei ihnen »gesetzmäßig« zehn Diebstähle in der Woche vorkommen; auf dieses Gesetz gestützt ließen sie wöchentlich zehn Diebe als »gesetzmäßig« laufen – »doch den elften tat man hängen«. Wir verfahren anders. Darüber mag sich der Statistiker beruhigen, wenn der Prozentsatz der Diebstähle das gesetzmäßige Quantum nicht überschreitet: die richtende Gewalt hat sich nach einem anderen Gesetz zu richten – dem Gesetz, das da lautet: »du sollst nicht stehlen!« Das gehört aber nicht mehr in die Prinzipienlehre, sondern in die Normenlehre hinein.

Ist aber – so könnte man fragen – die Normenlehre ein Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis? Ich denke, der raubt der Wissenschaft ihre Krone, der ihr die Erkenntnis der Normen entzieht! Sehen wir also zu. »Du sollst nicht stehlen« – das klingt noch ganz unwissenschaftlich; wir fragen: »warum?« und erwarten zur Antwort ein »auf daß –«. Was durch dies »auf daß« eingeleitet wird, nennen wir die Sanktion der ethischen Norm. Sollte sie nicht wissenschaftlich zu erfassen sein? »– auf daß es dir wohlergehe und du lange lebest auf Erden« – das steht zwar nicht da, aber denken wir es uns hinzu – das ist die biologisch-eudämonistische Sanktion, die diesseitig-belohnende. Hier sind wohl das Wohlergehen und das lange Leben als göttlicher Lohn gedacht; insofern gehört die Sanktion dem Gebiete des Glaubens und also nicht der Wissenschaft an. »Auf daß du jenseits des Todes vor dem ewigen Richter bestehst« – das ist die eschatologisch-eudämonistische Sanktion, die jenseitig-belohnende; sie gehört ganz dem Glauben an. »Auf daß dich die Polizei in Ruhe läßt«, »auf daß du nicht die Achtung deiner Mitmenschen verlierst« – das ist die staatliche und gesellschaftliche Sanktion; sie mag vielfach zutreffen, aber jeder anständige Mensch sagt sich, daß er nicht an die Polizei und an die Mitmenschen denkt, wenn er als Gast einen gebrauchten Silberlöffel nicht in die Tasche gleiten läßt. »Auf daß du seelisch gesund bleibst und das Bewußtsein der begangenen Schuftigkeit deinen Betätigungsdrang nicht hemmt« – das dürfte am Ende gelten; wir haben die biologische Sanktion, die (an sich) diesseitige; sollte sie wirklich wissenschaftlich unerweisbar sein?

Sieht man genauer zu, so hat sich die Normenlehre bereits auf vielen Gebieten der Geisteswissenschaften durchgesetzt. Wir haben wohl gespottet über die Definition der Grammatik als der »Kunst richtig zu sprechen und zu schreiben« – was heißt das »richtig«? »Nun, den Regeln nach.« Welchen Regeln? »Denen der Grammatik natürlich.« Da haben wir die Katze, die nach ihrem eigenen Schwanze springt. Die Wissenschaft geht den Phänomenen nach und gewinnt aus ihnen ihre Prinzipien. Magna dîs immortalibus habenda est gratia – das ist schönes Latein; »großen den unsterblichen Göttern schulden wir Dank« – das ist schlechtes Deutsch. Warum? Weil die Endungen in » magnã gratiã« eindeutig sind – da merkt jedermann, daß die Wörter zueinander gehören. Im Deutschen ist »großen« Genitiv oder Akkusativ, »Dank« Nominativ, Dativ oder Akkusativ – wir müssen die Wörter zusammenrücken, damit der Akkusativ und also die Abhängigkeit von »schulden« deutlich wird. So hat die Formenverarmung die Festlegung der Wortstellung im Gefolge – das ist so ein Gesetz, das in die sprachliche Prinzipienlehre hineingehört. Ist damit alles gesagt? Hab' ich nicht das Recht zu werten, zu sagen, daß die Freiheit der Wortstellung, diese Möglichkeit, das magna gratia nachdrucksvoll auf Anfang und Ende des Satzes zu verteilen, eine Schönheit, ein Ausdrucksmittel der Sprache ist? Zu verlangen, daß dem Deutsch von heute wenigstens die vorhandenen Formen, das e des Dativs usw., erhalten bleiben? Durch Schule, Vereine und Presse dafür zu wirken? Da haben wir alles beisammen: Wert, Zweck, Willen; so entwickelt sich aus der sprachlichen Prinzipienlehre eine sprachliche Normenlehre. – Noch deutlicher zeigt sich die Sache in der Nationalökonomie. Nicht so sehr um die Prinzipienlehre ist der Streit entbrannt; darüber, daß durch die Vermehrung des Angebots die Löhne herabgedrückt werden, sind Manchestermann und Sozialist einig. Aber während der eine damit einverstanden ist, sagt der andere: »das soll nicht sein«; der Sozialismus ist eine wirtschaftliche Normenlehre, nicht mehr, noch minder: Wert, Zweck und Willen sind wieder beisammen. Und was ist die Sanktion dieser Norm? Das Wohl der Gesamtheit, oder doch der Mehrzahl – also ihrerseits wieder eine ethische Norm.

Überfliegen wir kurz die durchgegangenen historischen Gebiete auf die Normenlehre hin, in die sie ausmünden. Zwar mit der sprachlichen Normenlehre können wir hier in den hohen Regionen keinen Staat machen – ihre Bedeutung ist zu untergeordnet. Wie steht es mit der religiösen? Es gab eine Zeit, wo eine Religion durch ihre Wunder ihre Trefflichkeit betätigte: so ist Baal durch Jahwe, so sind die heidnischen Götter durch die Bekenner Christi geschlagen worden – das liegt alles weit hinter uns. Näher liegt uns die von Nathan dem Weisen empfohlene Norm, also die ethische: die Religion als die Erzieherin zur Sittlichkeit, die beste diejenige, die die besten Menschen schafft. Das ließe sich hören, allein – »Moralismus ist keine Religion«, sagen uns gewichtige Kenner und Bekenner der letzteren. Sie verlangen für die Religion eine rein religiöse Normenlehre; die entzieht sich dem wissenschaftlichen Wissen. Dann kam die Sitte und ihre Krone, der Staat. Hier stehen wir auf festem Boden: was wir soeben von der Wirtschaftslehre gesehen haben, gilt von dem ganzen Hauptgebiet: seine Normenlehre ist die Ethik, die Verwirklichung des Guten auf Erden. So hat schon Plato die Staatsidee aufgefaßt; eben dahin kehren wir auch heute zurück, soweit wir uns unsres Tuns und Wollens bewußt sind.

Von den Hauptgebieten der Völkerpsychologie gingen wir zu denen der Individualpsychologie über. Ihrer fanden wir zwei: Wissenschaft und Kunst. Die Normenlehre der Wissenschaft sagt uns: so sollst du folgern, damit deine Folgerungen stichhaltig sind; sie heißt die Logik, ihre Sanktion ist die des Wahren. Die Normenlehre der Kunst heißt Ästhetik, sie sagt uns: so sollst du schaffen, damit deine Schöpfungen schön sind – ihre Sanktion ist somit die des Schönen.

Das ist die höchste Stufe. Von der Psychologie sind wir ausgegangen auf unserer Wanderung durch die Gebiete der Geisteswissenschaften; zur Normenlehre hat sie uns geführt mit ihrer dreifachen Sanktion: der des Guten, des Wahren, des Schönen. Nicht als ob das Wesen dieser drei bereits feststünde: noch wird darüber mancher Streit entbrennen. Aber wissen soll der Jünger der Geisteswissenschaften, was des Streites Sinn und Ziel ist: das heilige Trigon, in dem für uns das Gottesauge des Ideals ruht.


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