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Jizchok Lejb Perez: Vier Briefe an Chane von ihrem Mann Schmuel-Mojsche

Erster Brief.

An meine geliebte Gattin Chane, leben soll sie!

Wenn dieser Brief in Deine Hände kommt, werde ich, Dein Mann Schmuel-Mojsche, schon in weiter Ferne sein. Ich bitte Dich um Verzeihung und Vergebung. Nicht aus freiem Willen habe ich Dich verlassen; ich konnte es einfach nicht länger aushalten! Ich habe mich überzeugt, daß wir beim Äußersten angelangt sind und daß das Unglück nicht mehr zu ertragen ist. Deine Mitgift haben wir verzehrt, und die väterliche Erbschaft hat sich Dein Bruder, der Räuber, angeeignet. Während er mit Dir die vielen Briefe wechselte, schrieb er das Haus auf den Namen seines Schwiegervaters um. Und ich konnte kein Geschäft beginnen, weil ich keinen Pfennig Geld hatte. Also blieb mir keine andere Wahl, als mich, Gott behüte, zu erhängen, wie es Mojsche der Schneider getan hat, oder nach Amerika zu entlaufen. Und ich wählte Amerika, damit ich wenigstens mein Seelenheil nicht verliere. In Amerika werde ich aber kein Batlen mehr sein und kein vornehmer Herr. So Gott will, werde ich dort im Schweiße meines Angesichts mit meinen zehn Fingern mein Stück Brot verdienen, bis der Herr, gepriesen sei Er, sich meiner erbarmt und meine zehn Finger segnet. Vielleicht wird Er auch Deinen Zwiebelhandel segnen und uns wieder zusammenbringen, so daß entweder ich zu Dir zurückkehre, oder Du zu mir hinüberkommst. Amen, Sein Wille geschehe!

Und ich bitte Dich sehr, meine liebe, gute Chane, gräme Dich nicht und weine nicht. Du weißt ja, daß ich Dich nur wegen der Nahrungssorgen, wegen des Stückes Brot verlasse. Du bist meine Frau Chane, und ich bin Dein Mann Schmuel-Mojsche, und wir hängen beide am Kind, möge es leben und gesund sein. Hätte ich wenigstens ein Stückchen Brot, so täte ich es sicher nicht. Vielleicht wird sich inzwischen der Herr, gepriesen sei Er, unser erbarmen; vielleicht wird Dein Bruder, der Räuber, wenn er erfährt, daß ich Dich, Gott behüte, als eine Agune zurückgelassen habe, Mitleid mit Dir haben, so daß sich sein steinernes Herz erweicht und er Dir einige Rubel schickt ...

Was soll ich reden und was soll ich sagen, meine goldene Chane?! Ich muß Dir sagen, daß der Gedanke, zu verreisen und Dich und das Kind zu verlassen, mir mehr als einmal gekommen ist. Ich habe schon längst eingesehen, daß mir kein anderer Ausweg übrigbleibt. Tag und Nacht dachte ich darüber nach, wie beim Beten so auch beim Lernen. Ich wartete nur darauf, daß unser Kind – möge ihm die Genesung kommen! – sich ein wenig erholt. Und als sich der Zustand des Kindes, leben soll es, etwas besserte, hatte ich nicht den Mut, Dir zu sagen, daß ich fliehen will, wohin meine Augen schauen ... Ich fürchtete, daß Du dagegen sein würdest und daß ich es gegen Deinen Willen nicht tun würde. Also trug ich alle diese Gedanken in mir, und mein Herz verblutete, ohne daß es jemand merkte. Als Du aber vorgestern mit einem Pfund Brot nach Hause kamst, es zwischen mir und dem Kind, leben soll es, teiltest und sagtest, daß Du schon beim Nachbarn gegessen hättest, ich aber in Deinem Gesicht, das plötzlich in allen Farben schillerte – denn Du kannst nicht lügen –, las, daß Du mich betrügst und nichts im Munde gehabt hast, begriff ich plötzlich, wie schwer ich mich an Dir versündige! Als ich das Brot aß, hatte ich das Gefühl, daß ich, Gott behüte, dein Fleisch esse. Und als ich später ein Glas Tee trank, war es mir, als ob ich, Gott behüte, Dein Blut tränke. Plötzlich gingen mir die Augen auf, und ich sah, was für ein Sünder in Israel ich bin. Und doch fürchtete ich, Dir etwas zu sagen, und bin ohne Dein Wissen entlaufen.

Ich habe meinen Überrock und Talis bei Jechiel dem Pfandleiher versetzt (es soll aber, um Gottes willen, niemand etwas davon erfahren!) und habe mich mit dem Gelde auf die Reise gemacht. Wenn mir unterwegs das Geld ausgehen sollte, so werde ich doch überall Juden, Söhne von Barmherzigen finden, die mich, Gott behüte, nicht auf der Straße sterben lassen. So werde ich auf die Mildtätigkeit von Wesen aus Fleisch und Blut angewiesen sein. Und ich habe das Gelübde geleistet: wenn ich, so Gott will, später einmal etwas verdiene, werde ich alles mit Zinseszinsen Armen weggeben. Das walte Gott!

Du wirst doch selbst begreifen, meine goldene Chane, wie schwer und bitter es mir ist, von Dir fortzuziehen ... Als unser einziges, teures Kind geboren wurde, dachte ich gar nicht daran, daß ich es je auch nur für kurze Zeit ohne Vater zurücklassen müssen werde ...

In der letzten Nacht vor meiner Flucht stand ich fast eine ganze Stunde über Dein Bett gebeugt. Du schliefst. Beim Scheine des Mondes merkte ich erst, wie elend Du, nebbich, ausschaust und wie gelb das Kind ist ... Vor Schreck und Mitleid krampfte sich in mir das Herz zusammen. Ich war nahe daran, in Tränen auszubrechen. Fast ohne Besinnung verließ ich das Haus. Ich klopfte beim Bäcker an, kaufte ein Brot, kehrte damit leise in die Stube zurück und legte es für Dich hin. Und dann stand ich noch eine Weile da und hatte keine Kraft, die Füße vom Boden loszureißen ... Was soll ich Dir noch mehr sagen, Chane?! Der Mensch erlebt manchmal in einem Augenblick die Qualen von hundert Jahren!

Chanele, meine Krone, ich weiß, daß ich ein Verbrecher und Mörder bin, weil ich Dir nicht für jeden Fall einen Scheidebrief zurückgelassen habe. Aber Gott im Himmel sei mein Zeuge, daß ich es nicht übers Herz bringen konnte. Ich glaube, daß, wenn ich Dir den Scheidebrief zurückgelassen hätte, ich unterwegs vor Kummer sterben müßte. Wir sind doch treue, ehrbare Ehegatten. Der Herr, gepriesen sei Er, hat unsern Bund gesegnet. Ich hänge an Dir mit meinem ganzen Wesen. Wir haben eine Seele in zwei Körpern. Ich weiß gar nicht, wie ich es ohne Dich und ohne das Kind, leben soll es, auch nur einen Augenblick aushalten werde. Und wenn Dir jemand sagt, daß ich Dich, Gott behüte, als eine Agune zurückgelassen habe, so glaube nicht daran! Denn ich, Schmuel-Mojsche, bin Dein Mann, und was ich getan habe, habe ich tun müssen. Was tut nicht alles der Mensch in seiner Not ...

Chanele, meine Krone, könnte ich mein Herz aufreißen und Dir zeigen, was in ihm vorgeht, so wäre es eine Erleichterung für mich. Meine reine Seele, ich leide große Pein, Tränen fließen mir aus den Augen, und ich sehe gar nicht, was ich schreibe ... Das Herz tut mir weh, und im Kopfe dreht sich ein Mühlenrad. Ich zittere am ganzen Leibe, und der Fuhrmann, der rohe Kerl, steht vor mir, schlägt mit der Faust auf den Tisch und schreit: Wollen wir doch fahren!

Schöpfer der Welt, erbarme Dich meiner, meines Weibes Chane, gesund soll sie sein, und unseres Kindes, mögen wir an ihm einst Freude erleben!

Dein treuer Mann, der dies unterwegs in einem Wirtshause schreibt,
Schmuel-Mojsche.

Zweiter Brief.

Meine teure und geliebte Frau!

Was soll ich reden, was soll ich sagen? Ich sehe es ganz deutlich: es war der Wille Gottes, daß ich Dich verlasse. Gott selbst hat mir den Gedanken eingegeben, nach Amerika zu ziehen. Und alles, was der Herr, gepriesen sei Er, tut, ist zu unsrem Besten.

Meine liebe Chane! Wenn ich die Augen schließe, sehe ich mich zu Hause und denke an Dich am andern Ende der Welt. Wer hätte es erwartet, daß so ein Batlen wie ich, ein Mensch, der nicht zu reden versteht und kaum die Münzen voneinander unterscheidet, es plötzlich fertigbringt, eine Reise mit der Eisenbahn und dann mit dem Schiff übers Meer zu machen und heil nach Amerika zu kommen?! Das ist doch wahrlich ein Finger Gottes! ... Nur Er hat es mit Seinem Willen durchsetzen können, daß ich Dich und das Kind verlasse. Der Herr, gepriesen sei Er, möchte geben, daß wir es für die Thora, für die Chuppe und für gottgefällige Werke großziehen!

Chanele, meine Krone! Auf dem Lande habe ich unterwegs genug Wunder gesehen. Sie sind aber alle nichts gegen die Wunder, die ich auf dem Meere sah. Auf dem Meere vergaß ich alles, was ich auf dem Lande gesehen habe. Und in Amerika vergaß ich wieder alle Wunder des Meeres!

Auf dem Schiffe habe ich anfangs große Pein ausstehen müssen. Es war nicht zum Aushalten. Aber alles wendete sich zum Besten, und ich glaube, daß ich es nur Deinen frommen Verdiensten und denen unseres einzigen Kindes verdanken muß, daß ich es doch überstanden habe.

Chanele, Du erinnerst Dich wohl noch an Lejb den Chasen, der vor einigen Jahren in unsere Stadt gekommen war, um an den Furchtbaren Tagen vorzubeten? Ich weiß noch, was Du mir am Jojmkipper-Ausgang gesagt hast: seit Du lebst, hättest Du noch keinen solchen Chasen gehört. Ich habe mir sogar Deine Worte gemerkt: Lejb der Chasen brüllt wie ein Löwe und weint wie ein Kind ... Am nächsten Morgen gab es in der Stadt irgendwelche Streitigkeiten, kein Mensch dachte mehr an den Chasen, und er kam irgendwie um seinen Lohn. Also ging er, nebbich, von Haus zu Haus und sammelte milde Gaben. Weißt Du noch, er hatte ein kleines Töchterchen bei sich mit Namen Genendel. Sie konnte mit ihrer kindlichen Stimme alle Gesänge ihres Vaters nachsingen ... Als sie zu uns ins Haus kamen, hattest Du Mitleid mit ihr, nahmst sie auf den Schoß und küßtest sie auf die Stirne. Du schenktest ihr auch etwas, ich weiß nicht mehr, was es war, und weintest vor Mitleid mit dem mutterlosen Kinde ... Du wunderst Dich wohl, daß ich mich noch so gut an alles erinnere?

Wisse nun, Chanele, meine Krone, daß ich mich an alle Deine süßen Worte und Gebärden, die für mich stets voller Anmut waren, erinnere. Immer stehst Du mir vor Augen! Während der Seefahrt glaubte ich mehr als einmal, Dich neben mir zu sehen; unser Kind hielt Dich an der Schürze, und Deine Stimme und die Stimme des Kindes klangen mir so unbeschreiblich süß in den Ohren. Auf der Reise traf ich mit diesem selben Lejb dem Chasen zusammen. Ich will nicht mit den Lippen sündigen, aber ich muß sagen, daß Lejb der Chasen den rechten Weg verlassen hat! Er hat ihn gänzlich verlassen ...

Auf dem Schiffe sah er wenig darauf, ob die Speisen koscher oder nicht koscher waren. Auch trank er, wie ein Jude sonst nicht trinkt ... Während der ganzen Zeit sah ich ihn kein einziges Mal mit Talis und Tfillin. Auch sah ich ihn nie nach dem Essen beten ... Immer ging er mit bloßem Kopfe herum ... Es genügt wohl nicht, daß er sich selbst so benimmt, er läßt auch seine Tochter die gleichen Wege gehen ... Die Genendel von einst ist nun siebzehn Jahre alt und ein bildhübsches Mädchen. Er zwingt sie, vor den Passagieren zu tanzen und sie singt, Gott sei es geklagt, in vielen Sprachen. Die Leute hören zu, klatschen mit den Händen und schreien etwas, der Teufel weiß was. Und es geht dabei ganz ausgelassen und liederlich zu. Wirklich ekelhaft!

Im ersten Augenblick – warum soll ich es leugnen? – freute ich mich über das Wiedersehen. Ich dachte mir: es sind ja immerhin Bekannte, und ich werde nicht mehr so einsam und verlassen sein. Später hatte ich aber von ihnen viel Kummer. Ich konnte nicht ruhig zusehen, wie er seine Tochter verdarb, und es schnitt mir ins Herz, wenn ich hörte, wie dieser Mann, der einst am Vorbeterpult als Bevollmächtigter einer ganzen Gemeinde vor dem Schöpfer der Welt zu stehen pflegte, so liederliche Worte im Munde führte, daß sich einem dabei die Galle umdrehte. Und seine Stimme ist gänzlich von Schnaps verbrannt ...

Und diese Leute machten sich über mich her und wollten mich Anstand lehren! Sie verfolgten mich auf dem Schiffe mit ihren Spaßen, und ich hörte von ihnen nichts als: Batlen und Narr ... Er zupfte mich an den Pejes und sie an den Fäden meines Arbekanfes. Das ganze Schiff lachte über mich!

Und was mißfiel ihnen an mir? Daß ich mich vor Trejfe in acht nahm und es vorzog, zu fasten, als von den Speisen der Götzendiener zu genießen.

Du weißt doch, daß ich friedliebender Natur bin; darum suchte ich mich von allen abseits zu halten und saß meistens allein in einem Winkel und weinte im stillen ...

Die Leute suchten mich aber in meinem Versteck auf und machten mich zur Zielscheibe ihres Spottes. Ich glaubte, daß ich daran sterben müßte!

Aber jetzt in Amerika sehe ich, daß es eine Fügung Gottes war!

Daß Gott in seiner großen Gnade mir Lejb den Chasen nach Amerika vorausgeschickt hat, ebenso wie er einst Josef nach Ägypten vorausschickte, seiner Brüder wegen. Denn was hätte ich hier ohne ihn anfangen können? Ich, der ich die Sprache nicht verstehe, kein Handwerk kann und weder aus noch ein weiß!

Lejb der Chasen ist aber hier wie zu Hause. Er spricht fließend Englisch. Gleich am ersten Tag führte er mich in eine Zigarrenfabrik, und nun arbeite ich schon und verdiene Geld!

Vorläufig wohnen wir zusammen, denn ich habe keine Ahnung, wie man hier eine Wohnung mietet.

Auch änderten sie – es ist wirklich ein Beweis der göttlichen Gnade – ihr Benehmen mir gegenüber.

Genendel spottet nicht mehr über meinen Bart und Pejes und hält sich abseits, wie es einer jüdischen Tochter ziemt. Sie kocht uns das Essen, und das ist sehr wichtig, obwohl ich kein Fleisch esse, sondern nur von Eiern und Tee ohne Milch lebe. Sie besorgt uns auch unsere Wäsche. Das ganze ist ein neuer Beweis dafür, daß alles, was Gott tut, zu unserem Besten ist.

Und weißt Du, warum sich alles zum Besten gewendet hat? Nur Deiner frommen Verdienste wegen!

Es war noch auf dem Schiff. Als ich es nicht mehr aushalten konnte, faßte ich mir ein Herz, ging auf Genendel zu und sagte ihr, daß ich Dein Mann bin. Ich erinnerte sie an jenen Jojmkipper, wo sie zu uns ins Haus kam und Du sie auf den Schoß nahmst und so lieb zu ihr warst ...

Sofort wurde sie anders. Sie bekam Mitleid mit mir, und Tränen traten ihr in die Augen. Sie ging zu ihrem Vater, sprach mit ihm eine Weile, und gleich darauf schlossen wir Frieden.

Sie sprachen mit dem Kapitän, und er befahl den Leuten, mich besser zu behandeln. Und sie taten es auch.

Nun bekam ich Brot und Tee soviel ich wollte. Die Schiffsleute hörten auf, mich zu verfolgen, und ich konnte frei aufatmen.

Daraus kannst Du ersehen, wie beliebt Genendel bei den Leuten ist. Und das ist auch kein Wunder! Erstens halten die Leute ein hübsches Gesicht für das Wichtigste: einem hübschen Gesicht zuliebe würden sie alle ins Meer springen. Zweitens hat Genendel einen guten Charakter und findet Gnade in allen Augen.

Nun will ich Dir, mein goldenes Weibchen, eine frohe Botschaftverkünden:

Lejb der Chasen sagt, daß ich mindestens zehn Dollar in der Woche verdienen werde!

Ich habe die Absicht, die Hälfte davon, das heißt fünf Dollar, Dir zu schicken und fünf Dollar für mich zu behalten. Von diesem Gelde werde ich leben und werde auch etwas auf die Seite legen, um mir eine vollständige Talmudausgabe zu kaufen. Mischnajes habe ich mitgebracht. Ich habe mir vorgenommen, jede Woche mindestens zehn Seiten zu lernen. Einen Talis werde ich mir vorläufig nicht anschaffen. Ich bete im Talis Lejb des Chasen, denn Lejb der Chasen hat einen Talis mitgebracht.

Ich weiß zwar nicht, wozu er ihn mitgebracht hat, denn er selbst betet niemals.

Ich rede mir ein, daß es auch eine Fügung des Himmels ist: man hat ihm wohl befohlen, den Talis für mich mitzunehmen.

Und vielleicht hat er die Absicht, hier an den Hohen Feiertagen öffentlich vorzubeten? Was weiß ich! In Amerika ist alles möglich! Es ist eine verkehrte Welt. Einen Dollar werde ich aber jede Woche zurücklegen, um Dir mit der Zeit soviel zu schicken, daß ihr beide herüberkommen könnt. Denn nun sehe ich es: Gott selbst will, daß ich hier in Amerika bleibe. Und der Schöpfer der Welt weiß am besten, was für den Menschen gut ist. Weißt Du, was ich Dir noch sagen werde? Ich zürne Deinem Bruder, dem Räuber, nicht mehr. Ich sage mir, daß auch das eine Fügung des Himmels war. Denn sonst ist es gar nicht zu erklären, wie sich ein Mensch gegen seine leibliche Schwester so vergehen kann.

Der Himmel hat alles so eingerichtet, damit ich nach Amerika gehe und Dich dann nachkommen lasse. Und wenn Gott mir hilft und ich noch etwas mehr Geld verdiene, werde ich auch Deinen Bruder unterstützen. Denn ich sage mir: er ist ein armer Mann! Wer bei uns als reich gilt, ist hier in Amerika ein Bettler.

Ich schließe meinen Brief. Diesmal habe ich mich nur kurz gefaßt. Ich habe Dir nämlich noch soviel zu erzählen. Ich fürchte aber, daß Lejb der Chasen jeden Augenblick zu mir ins Zimmer kommen kann. Und ich will nicht, daß sie sehen, daß ich Dir schreibe. Ich bitte Dich sehr, zeige meine Briefe keinem Menschen. Was brauchen Fremde zu wissen, was mit uns los ist?

Ich umarme und küsse das Kind, leben soll es! Küsse es für meine Rechnung zehntausendmal. Hörst Du?!

Dein Mann
Schmuel-Mojsche.

Dritter Brief.

Liebste Frau!

Ich kann mich noch erinnern, wie bei uns, als Jejchenen der Schuster nach Amerika ging, von Amerika und den amerikanischen Zuständen gesprochen wurde.

Man fragte sich, ob die Leute in Amerika nicht auf den Köpfen herumgingen. Das stimmt ja auch: hier ist wirklich eine verkehrte Welt! Keine Spur von Ordnung, nichts als Geschrei und Radau wie bei uns im Minjen der Fleischer.

Stelle Dir vor, daß Paltiel der Wattemacher und Jossel der Gerber eines Tages erklären, daß unser Row kein Lamden ist und daß er nicht die nötigen Kenntnisse besitzt, um Trauungen und Ehescheidungen zu vollziehen; oder daß ihnen der Gemeindevorstand nicht mehr paßt. Nun, würden sich die Leute nicht krank lachen?

Aber hier in Amerika haben die Arbeiter, zum Beispiel die Zigarrenarbeiter, wie ich, das Recht, in allen Dingen dreinzureden. Sie beteiligen sich bei den Wahlen, und rate einmal, wen sie wählen dürfen? Den Präsidenten! Und was glaubst Du, ist der Präsident?

Der Präsident ist nicht mehr und nicht weniger als das Oberhaupt des ganzen Landes. Und ich habe gehört, daß Amerika zehnmal so groß als Europa ist. Kannst Du es Dir vorstellen? Nun male Dir aus, wie ich erschrak, als gestern abend plötzlich die Türe aufging und zu mir in die Stube zwei Arbeiter kamen, mit denen ich in der Fabrik an der gleichen Maschine arbeite. Auch sie sind Juden. Sie kommen also zu mir, nennen mir zwei Namen, die ich inzwischen wieder vergessen habe, und sagen mir, daß auch ich Arbeiter bin und danach trachten muß, daß ein Mann zum Präsidenten gewählt wird, der für unsern Stand gut ist.

Und sie erzählen mir, daß der eine Kandidat es mit den Reichen hält und alle, die von ihrer Hände Arbeit leben, mit den Füßen tritt; und daß der andere Kandidat, nämlich der, den sie wählen wollen, ein wahrer Edelstein ist, der nur die Arbeiter liebt und die dicken Bäuche mit schrecklichem Haß verfolgt. Und sie redeten noch viel anderes dummes Zeug zusammen, das ich gar nicht verstehen konnte.

In der Tiefe des Herzens lachte ich sie aus, aber um des lieben Friedens willen – es paßt ja nicht, einen Menschen zu beschämen – tat ich ihnen den Gefallen und sagte ja.

Um so mehr als ich sie so schnell als möglich los sein wollte, um Dir diesen Brief schreiben zu können. Sag einmal selbst, ist es hier nicht eine verrückte Welt?

Nach ihren Worten zu schließen, werde ich, wenn der, den sie wollen, zum Präsidenten gewählt wird, zehn Dollar in der Woche verdienen; wird aber, Gott behüte, der andere gewählt, so werde ich neun und vielleicht auch nur acht Dollar haben.

Lejb der Chasen aber sagt, daß er die Politik versteht! Daß die Sache einen Sinn hat! Und er sagt, daß auch ich, wenn ich hier längere Zeit bin, eine Ahnung von Politik haben werde. Nun, von mir aus! Ich sage zu seinen Worten ja und amen und denke mir: Wo Wein hineinfließt, fließt Unsinn heraus. Er schwört, daß er in der Zeit der Wahlen von der Politik lebt und daß ihm davon auch mancher Dollar für später bleibt. Ich kann aber unmöglich verstehen, wie man dabei etwas verdienen kann.

Aber Scherz beiseite: es ist nicht unsere Sache! Wird der eine oder der andere zum Präsidenten gewählt, wir werden davon nicht glücklich werden.

Denn mich überfällt oft Schwermut, und Tränen fallen mir aus den Augen auf die Tabakblätter, die ich schneide. Und nachts schlafe ich schlecht.

Oft habe ich Ohrensausen und ganze Tage lang Kopfweh ... Und gegen alle diese Übel weiß ich kein besseres Mittel, als ein Stück Papier zu nehmen und einen Brief an meine goldene Chane zu schreiben.

Mein teures Weibchen! Ich kann vor Dir nichts verheimlichen. Ich muß Dir alles erzählen. Ich lerne noch immer Mischnajes; denn den ganzen Talmud habe ich mir noch immer nicht angeschafft, und weißt Du warum? Weil ich das Geld für andere Dinge brauchte.

Wisse, meine goldene Chane, daß die Menschen überall gleich sind. Man schreit hier zwar immer: »Freiheit!«, aber diese Freiheit ist keine Zwiebel wert! Auch hier wird der Jude gehaßt. Hier wird das Ebenbild Gottes im Juden vielleicht noch mehr verspottet als anderswo. Es gibt hier zwar keine Hunde, die einen anbellen und einem die Rockschöße abreißen, aber freche Kerle gibt es genug. Sobald sie einen langen Kaftan erblicken, fangen sie an zu schreien: »Jew! Jew!« In ihrer Sprache bedeutet es dasselbe, was bei uns »Shid« heißt. Und sie werfen einem Steine und Schmutz nach. An Schmutz ist auch hier gottlob kein Mangel. Was sollte ich tun? Ich tat das, was hier alle Juden tun. Ich kämmte mir die Pejes hinter die Ohren und kaufte mir auf Abzahlung – daitsche Kleider. Nun weißt Du, wo das Geld hingekommen ist. Und wenn Du einmal, so Gott will, herkommst, wirst auch Du Dir andere Kleider anschaffen müssen. Denn der Brauch bricht ein Gesetz. Und hier ist es eben Brauch, sich so zu kleiden!

Du schreibst mir, daß Genendel Dir nicht gefällt. Ich verstehe nicht, was Du gegen sie hast. Ich bin doch nicht verpflichtet, andere Leute zu bekehren. Außerdem bin ich überzeugt, daß sie alles nur wegen eines Stückes Brot tut. Im Grunde genommen ist sie eine reine Seele, wie alle jüdischen Töchter. Den ganzen Tag, wenn ich mit Lejb dem Chasen in der Fabrik bin, kocht und wäscht sie und räumt die Stuben auf. Erst am Abend geht sie mit ihrem Vater irgendwohin, um vor den Leuten zu tanzen und zu singen. Ich bleibe zu Hause, lerne Thora und schreibe an Dich. Gegen Mitternacht kommen sie heim. Wir trinken zusammen Tee und gehen dann schlafen.

Du glaubst, schreibst Du, daß Genendel den Löffel gestohlen hat, der Dir damals nach ihrem Besuch fehlte. Ich weiß gar nicht, was ich Dir daraufsagen soll!

Genendel ist vielleicht in Glaubenssachen nicht sehr fromm, aber fremdes Gut wird sie doch, Gott behüte, nicht anrühren! Daß sie nur nichts von Deiner Beschuldigung erfährt! Sie behandelt mich wirklich wie ein eigen Kind. Jeden Augenblick fragt sie mich, ob ich ein reines Hemd brauche oder noch ein Glas Tee möchte. Sie ist wirklich ein gutes Kind. Sie gibt alles, was sie verdient, dem Vater. Du hättest sehen sollen, mit welcher Ehrfurcht sie ihn behandelt, obwohl er es gar nicht verdient. Obwohl er oft betrunken nach Hause kommt und furchtbaren Unsinn zusammenredet.

Lejb der Chasen hat mir auch ausdrücklich erklärt, daß er für sie eine Mitgift zusammenspart und ihr, sobald er den ersten Tausender beisammen hat, einen Mann suchen wird, der sie nach dem Gesetze Mosis und Israels unter die Chuppe führt. Dann wird sie nicht mehr vor fremden Leuten singen. Ich weiß nicht, ob es sein Ernst ist, aber gebe Gott, daß es wirklich so kommt und daß sie ihren häßlichen Beruf aufgibt.

Genendel war sogar dabei, als er es mir erzählte, und sie errötete, wie es einer wahren jüdischen Tochter geziemt. Sie ist wohl mit seiner Absicht einverstanden. Darum bitte ich Dich, meine liebe Chane, halte Dich von falschen Anschuldigungen und Verleumdungen ferne. Es ist gar keine Art und ungerecht, so zu urteilen. So etwas paßt für eine Kleinstädterin. Aber Du, meine goldene Chane, wirst doch bald nach Amerika kommen. Hier sind die Weiber ganz anders: gesetzter, ernster und ebenso beschäftigt wie die Männer.

Außerdem ist Dein Schmuel-Mojsche kein Schneider und kein Schuster, daß er Dir wegen einer anderen untreu werden soll. Du darfst Dir so etwas gar nicht denken, denn es ist eine Beleidigung für mich! Wisse, daß Deine Worte mich wie Messer verwunden. Und wenn Lejb der Chasen und seine Tochter etwas davon erfahren, werden sie mich sofort verlassen. Dann bleibe ich einsam wie in einer Wüste und werde wieder heimkehren müssen: denn ich kann noch immer die hiesige Sprache nicht und weiß hier weder aus noch ein.

Und jetzt bitte ich Dich, meine liebe Chane, um folgendes: lege die Feder in das Händchen unseres Kindes, nimm es in Deine Hand und fahre damit über den Briefbogen, damit ich wenigstens die Gestalt eines Buchstabens von seiner Hand sehe. Schöpfer der Welt, wie oft gehe ich in einen Winkel und weine! Und warum weine ich? Weil ich nicht die Gnade habe, mein Kind in der Thora zu unterrichten. Das macht mir schon allein viel Kummer. Da kommen aber doch Deine Briefe und streuen Salz auf meine Wunden. Lejb der Chasen und Genendel (hier heißt sie übrigens Sophie) haben mich heute gebeten, mit ihnen mitzugehen, um zu sehen, wie sie tanzt, und zu hören, wie sie singt. Ich wollte aber nicht mit. Da hat Lejb der Chasen gesagt: »Närrischer Chussid!« Und auch sie rümpfte die Nase. Ich mache mir aber nichts draus! Ich werde von meinem Wege nicht um eines Haares Breite abweichen.

Seid gesund, Du und unser Kind. Das wünscht Dir Dein Mann

Schmuel-Mojsche.

Das mit den Kleidern soll zwischen uns bleiben. Kein Mensch im Städtchen darf davon etwas erfahren. Sonst müßte ich mich zu Tode schämen.

Dein obenerwähnter Mann Schimiel-Mojsche.

Vierter Brief.

An meine tugendsame Frau Chane, leben soll sie!

In meinen letzten zehn Briefen habe ich kein einziges Mal Genendels Namen erwähnt, und selbst den ihres Vaters, Lejb des Chasen, nicht. Mit großer Mühe habe ich mir ein neues Zimmer bei einem hiesigen Schächter gemietet und bin mit ihnen seit vielen Wochen nicht mehr zusammengekommen. Du aber schreist in einem fort: Genendel und wieder Genendel, Sophie und wieder Sophie! Was willst Du von ihr? So wahr ich ihr und uns beiden Gesundheit wünsche, so wahr ich Dich und das Kind in einer glücklichen Stunde wiedersehen will, habe ich folgendes mit eigenen Augen gesehen: Sophie kam einmal zu ihrem Vater in die Fabrik, und der Fabrikdirektor selbst ging auf sie zu und begann mit ihr zu reden und zu scherzen; obwohl ich kein Wort davon verstand, war es mir doch klar, daß er zu ihr nicht von göttlichen Dingen und frommen Werken sprach; und er wollte ihr die Backe streicheln. Und, was glaubst Du, geschah? Sie gab ihm einen solchen Schlag auf die Hand, daß ich ganz starr war! Du hättest sehen sollen, wie stolz sie sich von ihm wegwandte und hinausging. Ich hatte große Freude daran ...

Daraus kannst Du ersehen, daß Genendel trotz allem ein reines Kind ist und daß Du sie verleumdest. Du schreibst, daß sie mich wie einen Fisch in ihre Netze fangen will, und noch ähnliche Dummheiten mehr. Ich bin bereit, jeden Eid, selbst einen am Jojmkipper vor der Thora zu leisten, daß es eine Lüge ist. Nur Dir zuliebe halte ich mich von ihr fern und vermeide jede Begegnung mit ihr. Und wenn ich mit ihr zusammenkomme, antworte ich ihr auf hundert Worte mit einem Kopfnicken. Und ich muß Dir wieder sagen, daß Du sie ganz grundlos verdächtigst. Du sündigst vor Gott! Ich hätte es Dir, wie immer, vergeben, wenn es nicht zu einer so bösen Geschichte geführt hätte, vor der Gott jeden bewahren möchte. Ich hätte vorgezogen, in die Erde zu versinken, als diese Schande zu erleben.

In der vergangenen Woche fühlte ich mich einmal bei der Arbeit unwohl. Mir schwindelte im Kopfe, und ich wurde ohnmächtig. Als ich wieder zu mir kam, lag ich schon in meinem Zimmer im Bett. Vor dem Bett stand der Arzt und sagte, daß es eine Fieberkrankheit sei. Ich lag an die zehn Tage. Während der ganzen Zeit wich Lejb der Chasen nicht von meinem Bett und pflegte mich wie ein eigen Kind. Später erfuhr ich, daß auch Sophie mich oft besucht hat, als ich im Fieber lag ... Und an einem dieser Tage kam eine Postkarte von Dir, in der Du Deiner Erbitterung über die unschuldige Sophie Luft machtest ... Sie haben Deine Karte ganz bestimmt gelesen, denn ich lag ja im Fieber ...

Und während Du Deine Beschimpfungen und Verleumdungen schriebst, opferten sie sich für mich auf ... Sie ließen Ärzte kommen, gaben mir die Arzneien ein und versetzten einiges von ihrem Hausrat, um mich retten zu können. Er brachte mir sogar eine Flasche Wein. Den Wein, der doch sicher Götzenopferwein war, habe ich natürlich nicht angerührt, aber seine Absicht war gut ... Außerdem maßen sie mir dreimal am Tage mit einer Glasröhre das Fieber, wie es die hiesigen Ärzte verlangen ... Und von wem weiß ich das alles? Vom Schächter und seinem Weib: sie haben mir alles erzählt. Wenn ich nicht Lejb den Chasen und Sophie bei mir gehabt hätte, wärest Du jetzt, Gott behüte, eine Witwe. Du aber schreibst solchen Unsinn. Pfui, es ist eine wahre Schande! Ich weiß gar nicht, ob Du nach Amerika kommen kannst, ob Du in Amerika leben können wirst.

Ich hoffe, meine liebe Chanele, daß Du Dir diesen Unsinn aus dem Kopfe schlagen wirst und mir in Zukunft das Dasein nicht mehr mit solchen Briefen vergällen wirst. In schlaflosen Nächten sehe ich Dich oft, wie Du vor dem Tische sitzt und mir einen Brief schreibst. Du schreibst und streichst das Geschriebene wieder aus, und schreibst und streichst wieder. Ich sehe den Brief, kann aber aus der Ferne die Buchstaben nicht erkennen, und es tut mir weh, daß ich den Brief nicht lesen kann. Und Du legst die Feder dem Kind in die Hand und fährst mit ihr über das Papier.

Du siehst doch, meine liebe Frau, daß ich Dir jede Woche fünf Dollar schicke; ich selbst komme mit sehr wenig aus und habe im ganzen nur drei Hemden. Ich kann doch nicht Sophie bitten, mir noch mehr Hemden zu besorgen. Die Schächterin liegt aber im Wochenbett, und morgen wird, so Gott will, der Briß stattfinden ...

Es ist aber gar nicht das, was ich Dir sagen will. Das Wichtigste ist: sei vernünftig wie für Dich selbst so auch für Deinen Mann

Schmuel-Mojsche.

Nachschrift quer über den ganzen Briefbogen:

Soeben kommt wieder ein Brief von Dir. Nun muß ich es Dir, Chanele, sagen, daß Du, Gott sei es geklagt, wirklich verrückt bist! Ich bin einfach sprachlos. Du schreibst, daß auch Du Dir zwei Zöpfe wachsen lassen kannst und mit vornehmen Christen zu sprechen verstehst; daß auch Du singen und tanzen kannst und daß Du Dich zum Rebben begeben und ihn bitten wirst, mir und ihr einen plötzlichen Tod zu schicken ...

Was schreibst Du? Was sind das für Worte?

Schöpfer der Welt, was ist aus Dir geworden?

Ich zerbreche mir den Kopf und weiß nicht, was ich mir denken soll. Ich rate Dir: höre mit Deinen Verleumdungen, Beschimpfungen und Flüchen auf! Ein solches Benehmen steht Dir nicht an. Ich schwöre Dir, daß ich Dir nicht mehr antworten werde, wenn Du mir nicht sofort einen Brief schreibst, wie er einer züchtigen jüdischen Frau geziemt. Ich werde einen Bevollmächtigten hinüberschicken und das Kind allein abholen lassen ... Hörst Du? Oder ich werde mich ins Meer stürzen ... Es ist ja wirklich zum Verrücktwerden!

Dein obenerwähnter Mann.


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