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Scholem Alejchem: Quäle nie ein Tier

»Wenn du ein braver Junge bist, hilfst du uns Meerrettich reiben, bis wir mit dem Fisch für das heilige Fest fertig werden.«

So spricht zu mir Mutter am Tage vor Schwues, um die Mittagsstunde. Sie und die Köchin schuppten Fische für das »milchige« Festessen, frische, noch lebende Fische! Als man sie in die große mit Wasser gefüllte irdene Schüssel legte, zappelten sie noch.

Mehr als alle zappelt eine kleine Karausche, nebbich, mit dickem Bauch, rundem Mund und roten Augen. Die Karausche hat anscheinend große Lust, wieder in den Fluß zu kommen: sie wirft sich hin und her, versucht aus der Schüssel herauszuspringen, reißt ihr rundes Maul auf, schlägt mit dem Schwanze um sich und spritzt mir Wasser ins Gesicht. Als wollte sie sagen: »Junge, rette mich! Junge, rette mich!...«

Ich wische mir das Gesicht ab, mache mich an den Meerrettich für das Festessen und denke mir: »Arme Karausche! Ich kann dir nicht helfen... Gleich nimmt man dich in Arbeit: man wird dich schuppen, man wird dir den Bauch aufschlitzen, deine Eingeweide herausnehmen, dich in Stücke schneiden, in den Topf tun, salzen und pfeffern, aufs Feuer stellen, kochen und braten, braten, braten...«

»Schade um sie«, sage ich zu der Mutter. »Es ist Tierquälerei.«

»Was ist Tierquälerei?«

»Das mit dem Fischchen.«

»Wer hat dir das gesagt?«

»Der Rebbe.«

»Der Rebbe?«

Sie schaut die Köchin an, die ihr die Fische zu schuppen hilft, und beide beginnen zu lachen.

»Du bist dumm, und dein Rebbe noch dümmer. Ha, ha, ha! Reib nur den Meerrettich, reib!«

Daß ich dumm bin, weiß ich schon längst. Das sagt mir Mutter immer. Auch Vater ist dumm, auch die Brüder und Schwestern sind dumm. Aber daß der Rebbe noch dümmer ist als ich, das ist mir ganz neu.

Ich habe einen Freund Pinjel; sein Vater ist Schächter. Als ich einmal bei ihm zu Besuch war, sah ich, wie ein kleines Mädchen einen großen Hahn mit zusammengebundenen Beinen hinbrachte. Der Vater meines Freundes, der Schächter, schlief gerade, und das Mädchen wartete vor der Tür. Der Hahn, ein kräftiger Bursche, wollte sich, nebbich, aus den Händen des Mädchens befreien; er stieß sie mit den Beinen in den Bauch, pickte sie mit dem Schnabel in die Hand, schrie und machte furchtbaren Lärm. Das Mädel aber war auch nicht dumm; sie klemmte seinen Kopf unter ihren Arm ein, stieß ihn, sooft er sich wehrte, mit dem Ellenbogen und sagte:

»Sei ruhig!«

Und er folgte ihr und blieb ruhig.

Endlich stand der Schächter auf. Zuerst wusch er sich die Hände, dann holte er sein Messer und ließ sich den Hahn geben. Als man ihm die Beine losband, war er außer sich vor Freude: er bildete sich wohl ein, daß man ihn jetzt laufen läßt und daß er zu seinen Hennen und zu seinem Wassernapf zurückkehren kann. Aber der Schächter nahm ihn zwischen die Beine, bog ihm mit der einen Hand den Kopf zurück, rupfte mit der andern einige Federn an der Kehle aus, sprach den Segenswunsch und fuhr ihm – schwapps! – mit dem Messer über den Hals. Dann ließ er einige Tropfen Blut in einen Kasten mit Asche fließen und schleuderte den Hahn mit solcher Kraft von sich, daß ich glaubte, er müßte in Stücke zerfallen.

»Pinje, dein Vater ist ein Goj«, sagte ich zu meinem Freund.

»Warum ist er ein Goj?«

»Er hat kein Mitleid mit Tieren.«

»Ich wußte gar nicht, daß du so klug bist!« sagte mir mein Freund und zeigte mir eine Feige.

 

Unsere Köchin Frume ist auf einem Auge blind, und man nennt sie »Frume die Einäugige«. Sie ist ganz herzlos. Einmal peitschte sie die Katze mit Brennesseln aus, weil es ihr schien, die Katze hätte eine Hühnerleber vom Brett gestohlen. Als sie aber nachher die Hühner und die Lebern nachzählte, stellte es sich heraus, daß sie sich geirrt hatte. Sie hatte geglaubt, daß man sieben Hühner geschlachtet hatte und daß sieben Lebern sein müßten; man hatte aber nur sechs Hühner geschlachtet. Und sechs Hühner haben ja bloß sechs Lebern. Ein Wunder Gottes! Ganz umsonst hatte sie die Katze verdächtigt.

Meint ihr vielleicht, daß Frume es sich zum Herzen nahm und die Katze um Verzeihung bat? Keine Spur! Sie vergaß es, und die Katze vergaß es auch. Eine Stunde später saß die Katze ganz ruhig auf der Ofenbank und wusch sich, als ob nichts vorgefallen wäre. Nicht umsonst sagt man ein »Katzenhirn«.

Ich vergaß es aber nicht. Nein, ich nicht! Und ich sagte zu der Köchin: »Ganz umsonst hast du die Katze geschlagen und die Sünde auf dich geladen. Gott wird dich für die Tierquälerei bestrafen.«

»Du gehst augenblicklich aus der Küche! Sonst kriegst du mit dem Wischtuch über das Gesicht!«

So sprach »Frume die Einäugige« und fügte hinzu:

»Schöpfer der Welt! Wo kommen nur so dumme Kinder her?«

 

Das war wegen eines Hundes, den man mit kochendem Wasser verbrüht hatte. Dieselbe »Frume die Einäugige« hatte es getan. Ach, wie tat es dem Hunde weh! Anfangs winselte er so laut, daß das ganze Städtchen zusammenlief. Die Leute standen um ihn und lachten und lachten! Alle andern Hunde antworteten ihm, ein jeder von seinem Misthaufen und ein jeder auf seine Manier, als ob man sie nach ihrer Meinung fragte ... Und später, als der verbrühte Hund genug gewinselt hatte, begann er zu heulen: er leckte sich das Fell und schluchzte still in sich hinein.

Das packte mich am Herzen. Ich ging auf ihn zu und wollte ihn streicheln:

»Armer Sirka!«

Als der Hund sah, daß ich die Hand aufhebe, stand er auf, wie wenn man ihn noch einmal verbrüht hätte, zog den Schwanz ein und lief davon.

»Halt, Sirka«, suche ich ihn mit sanfter Stimme zu überreden. »Was entläufst du, du Dummer? Werde ich dir denn etwas tun?«

Ein Hund bleibt aber immer ein Hund. Er weiß nichts vom Mitleid mit Tieren.

Als Vater sah, daß ich mit dem Hund etwas zu tun habe, heizte er mir ordentlich ein:

»Marsch in den Chejder, du Hundeschinder!«

Nun bin ich der Hundeschinder.

 

Und das war wegen zwei Vögelchen, zwei kleinen, gewöhnlichen Spatzen, die zwei Bauernjungen – der eine war größer, der andere kleiner – erschlagen hatten. Als die beiden kleinen Vögel auf die Erde herunterfielen, lebten sie noch: sie saßen mit gesträubten Federn da und zitterten an allen Gliedern.

»Rühr dich, du Mops!« sagte der größere Junge zum kleineren. Und sie nahmen die beiden kleinen Vögel in die Hand und begannen sie mit den Köpfchen gegen den Baum zu schlagen, so wie wir die Hejchanes am Betpult abschlagen, bis beide Vöglein tot waren.

»Was tut ihr?« Ich konnte mich nicht beherrschen und lief auf die Jungen zu.

»Was ist denn?« erwiderten sie ganz ruhig. »Das sind ja nur Spatzen, ganz gewöhnliche Spatzen.«

»Und wenn es nur Spatzen sind? Ist denn der Spatz kein lebendes Wesen, mit dem man Mitleid haben muß?«

Beide Jungen sahen einander merkwürdig an. Und dann fielen sie, wie wenn sie es vorher verabredet hätten, über mich her.

Als ich nach Hause kam, verriet mein Kaftan die ganze Geschichte. Vater gab mir einige Ohrfeigen und schimpfte:

»Abgerissener Narr!«

Mein Gott, den »abgerissenen Narren« verzeihe ich ihm. Aber womit habe ich die Ohrfeigen verdient?! ...

 

Womit habe ich die Ohrfeigen verdient? Sagt denn nicht auch der Rebbe, daß alle Geschöpfe vor dem Schöpfer gleich sind? Sogar einer Fliege an der Wand, sagt er, darf man nichts tun, weil sie ein lebendes Wesen ist, und selbst die Spinne, die schon zu den bösen Geistern gehört, darf man nicht töten. Und der Rebbe sagt: »Wenn die Spinne den Tod verdiente, würde Gott sie selbst töten.«

Kann man aber fragen: »Gut, wenn dem so ist, warum schlachtet man dann alle Tage Ochsen, Kälber, Schafe und Geflügel?«

Und nicht nur Tiere und Vögel bringt der Mensch um; tötet er nicht manchmal auch seine Mitmenschen? Hat man nicht beim Pogrom ganz kleine Kinder vom Bodenfenster auf die Straße hinuntergeworfen?

Hat man nicht auch unseres Nachbars kleines Mädchen getötet? Perele hieß sie ... Und wie man sie getötet hat! ...

Ach, wie lieb hatte ich das Kind! Und wie es an mir hing! »Onkel Bebebe« nannte mich die Kleine – so sprach sie meinen Namen Welwele aus. Und sie zupfte mich mit ihren kleinen, feinen, süßen Fingerchen an der Nase ... Und wegen Perele nannten mich auch alle andern Leute »Onkel Bebebe«.

»Da kommt Onkel Bebebe, er wird dich auf die Arme nehmen!«

Perele war ein krankes Kind. Das heißt, sonst fehlte ihr nichts, aber sie konnte nicht laufen. Weder laufen noch stehen; nur sitzen konnte sie. Darum pflegte man sie auf den Armen ins Freie zu tragen und in die Sonne zu setzen. Sie liebte die Sonne. Ich trug sie oft herum, und sie umschlang meinen Kopf mit ihren süßen, kleinen Händchen, schmiegte sich an mich mit ihrem ganzen Körperchen und legte mir ihr kleines Köpfchen auf die Schulter: »Onkel Bebebe lieb!«

Unsere Nachbarin Krejne sagt, daß sie den »Onkel Bebebe« auch heute noch nicht vergessen kann und daß sie immer an die kleine Perele denken muß, sooft sie mich sieht ...

Mutter macht ihr Vorwürfe, daß sie immer noch weint. Man darf nicht weinen, sagt Mutter, es ist eine Sünde, sagt sie. Man muß vergessen. »Vergessen« ...

So spricht Mutter zu ihr. Und mich jagt sie aus dem Zimmer: wenn ich nicht immer vor ihr herumstehe, wird auch die Nachbarin nicht immer an das Unglück denken, das sie vergessen soll ...

Hahaha! Kann man es denn vergessen? Wenn ich an das kleine Mädchen denke, kommen auch mir Tränen in die Augen, ganz von selbst kommen sie ...

»Seht nur, da weint er schon wieder, der kluge Junge!« sagt »Frume die Einäugige« zur Mutter. Und Mutter wirft auf mich einen schnellen Blick und beginnt zu lachen:

»Beißt dir der Meerrettich die Augen? An alles muß Mutter denken! Was das für scharfer Meerrettich ist! Ich vergaß dir zu sagen, daß du die Augen zuhalten sollst. Hier hast du meine Schürze ... Wisch dir die Augen ab, du dummer Junge, und schneuze dir auch gleich die Nase ... Die Nase, die Nase!«


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