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Jizchok Lejb Perez: Die Schwestern

Die Armut ist eine Landstreicherin.

Sie bleibt niemals so lange auf einem Platz sitzen, bis er warm wird; sie verbringt niemals den Tag dort, wo sie genächtigt hat.

Und alt ist sie wie die Welt!

Seit undenklichen Zeiten wandert sie über die Erde in durchlöcherten Stiefeln, die ihr jemand aus Mitleid geschenkt hat und die ihr so schlecht passen, daß sie an beiden Füßen apfelgroße Hühneraugen hat. Sie könnte die zuverlässigste Weltgeschichte und die genaueste Erdbeschreibung herausgeben; ihre Werke würden aber nicht so schön werden wie die Bücher der Menschen, die auf die Welt von der Höhe ihrer Schlösser, Paläste und Klöster herabsahen und die heute in Eisenbahnzügen und Automobilen herumreisen ... Außerdem versteht die Armut gar nicht zu schreiben! Eine Feder würde in ihre Hände mit den Gichtknoten statt Finger ebenso gut hineinpassen, wie die geschenkten Stiefel ihren Füßen passen. Auch hat sie keine Zeit dazu. Nicht einmal zum Erzählen hat sie Zeit. Den ganzen Tag ist sie entweder bei der Arbeit, oder sie sucht Arbeit oder durchwühlt einen Misthaufen nach Schätzen oder liegt hungrig und ermattet irgendwo unter einem Zaun und träumt von Messias' Zeiten, wo an den Bäumen Semmeln wachsen werden! Nachts schläft sie entweder wie eine Leiche oder wälzt sich vor Hunger oder vor Bauchweh auf ihrem Lager hin und her oder starrt blöde in den Himmel hinauf und fragt sich, warum es nicht donnert; oder sie setzt gar Kinder in die Welt; – dabei rechnet sie auf die Gnade des Schöpfers oder auf die der reichen und wohltätigen Leute oder gar auf die Barmherzigkeit der Gemeinde ... Die Rechnung wird wohl nicht ganz stimmen, denn eine Menge der von ihr in die Welt gesetzten Kinder verschwindet plötzlich ohne jede Spur! Und die, die zurückbleiben, sind über die ganze Welt verstreut und versprengt. Brüder und Schwestern kennen einander nicht und gehen ohne ein Lächeln wie Fremde aneinander vorbei. Höchstens wenn sie sich in zwei benachbarten Spitalbetten treffen: dann stöhnen sie miteinander oder sprechen zusammen den Widduj ...

Zwei ihrer Kinder kenne ich. Es sind zwei Schwestern; sie wohnen seit einigen Jahren in Warschau, treffen sich recht oft und gehen aneinander wie Wildfremde vorbei!

Die eine wohnt in der Mokotow-Vorstadt in einer Kellerstube, wo sie jede Nacht mit drei Familien von zusammen neun Seelen um ein wenig Luft zum Atmen kämpft. Die andere kämpft jede Nacht mit vier Familien von zehn Seelen in einer Dachstube, am andern Ende von Warschau, in der Schwarzen Gasse. Die erste ist blond, die zweite schwarz; das macht aber nichts: sie sind doch Schwestern, Töchter der Armut, und beide haben feine, fast durchsichtige Nasenflügel, eingefallene Wangen und tief eingesunkene Augen. Beide sind Weißnäherinnen. Die Blonde arbeitet für zwanzig Kopeken täglich, mit denen sie Wohnung, Kleidung und Kost bezahlen muß, von neun Uhr früh bis neun Uhr abends in einem Wäschegeschäft in der Schwarzen Gasse und kämpft mit sechzehn andern Mädchen um einen Platz am Fenster, wo es etwas mehr Luft zum Atmen gibt. Auch die Schwarze hat eine schwache Lunge; sie plagt sich mit achtzehn andern Mädchen in einer nicht sehr großen Nähstube in der Mokotow-Vorstadt für zwanzig Kopeken täglich, mit denen sie Wohnung, Kleidung und Kost zu bestreiten hat. In der Hochsaison wird auch noch die halbe Nacht gearbeitet. Von den Überschüssen schafften sich beide Schwestern Kattunkleider und Strohhüte an; für neue Schuhe reichte es nicht; beide Schwestern kamen auf dieselbe Idee, die Strümpfe, wo sie durch die Löcher in den Schuhen sichtbar sind, mit Tinte zu schwärzen ... Sie kennen sich nicht, aber sie helfen einander wie echte Schwestern. Die Blonde geht jeden Tag von der Mokotow-Vorstadt in die Schwarze Gasse, um den ganzen Tag für ihre schwarze Schwester zu arbeiten; und die Schwarze geht jeden Morgen von der Schwarzen Gasse in die Mokotow-Vorstadt und tut in derselben Zeit dieselbe Arbeit für ihre blonde Schwester.

Beide müssen den Sächsischen Garten passieren. Die Schwarze kommt durch die Krolewska und geht durch die Niecala, und die Blonde kommt durch die Niecala und geht durch die Krolewska.

In der Mitte des Gartens treffen sie sich und gehen wie Fremde aneinander vorbei.

 

In einer Julinacht erwachten beide vor großer Hitze, beide waren in Schweiß gebadet, beiden stockte der Atem. Beide sprangen im gleichen Augenblick aus ihren Betten: die Blonde in der Kellerstube in der Mokotow-Vorstadt, die Schwarze – unter dem eisernen Dach in der Schwarzen Gasse. Beide wuschen sich, schlüpften in die Kattunkleider, schwärzten noch einmal die Strümpfe, setzten sich die Strohhüte auf und steckten sie – die Blonde an ihr goldenes, die Schwarze an ihr pechschwarzes Haar – fest. Dann warfen beide einen Blick in ihre runden Taschenspiegel und spürten plötzlich Sehnsucht nach grünem Laub, nach Blumen, nach warmem Leben; auch nach etwas anderm sehnten sie sich; – die Blonde nach einem schwarzen Schnurrbart und schwarzen Augen, die Schwarze – nach einem blonden Schnurrbart und blauen Augen. Beide seufzten, beide warfen noch einen Blick in ihre Taschenspiegel und liefen, da es noch zu früh war, an die Arbeit zu gehen, nach dem Sächsischen Garten... Die Blonde kam in den Garten durch das Tor auf der Krolewska, die Schwarze durch das auf der Niecala. Und wie sie in den Garten traten, wurden beide traurig.

»Links«, denkt sich die Blonde, »bei dem Mineralwasser-Pavillon spielt Musik; man läßt mich aber nicht hinein! Es riecht so schön nach frischgebranntem Kaffee, aber umsonst kriegt man nichts!«

»Links«, denkt sich die Schwarze, »schimmert der Teich mit den weißen Schwänen. Es ist eine Freude zu sehen, wie sie ans Ufer kommen und wie man sie mit Weißbrot füttert. Ich habe aber selbst kein Frühstück! Und rechts gibt es Sodawasser und Fruchtsaft; wie gerne hätte ich ein Glas davon getrunken, aber umsonst kriegt man nichts...«

»Vielleicht wird man es einmal auch umsonst bekommen«, trösten sich die beiden Schwestern. Beide dringen tiefer in den Garten ein, der Straßenlärm bleibt zurück, und unter den schattigen weitverzweigten Bäumen ist es so still, so still...

Beide wollen sich niedersetzen, und beide wissen, daß in dem Augenblick, wo sie sich hinsetzen, sofort auch junge Männer auftauchen werden, um mit ihnen zu plaudern... Es plaudert sich so angenehm in der frischen Luft vor den Beeten mit den bunten Blumen... Die frische Luft berauscht... vom Blumenduft wird man ganz matt, und die süßen Worte wecken ein seltsam banges Gefühl im Herzen; – schließlich platzt alles wie eine Seifenblase, oder man bemerkt plötzlich etwas Fürchterliches und läuft davon... Beide fürchten aber, sich zu verplaudern und zu spät ins Geschäft zu kommen.

Beide schlagen den Weg nach rechts zu der Uhr ein; und da sie Schwestern sind, tun sie es im gleichen Augenblick. Sie wählen auch dieselbe Bank vor der Uhr und setzen sich an ihren beiden Enden nieder.

Ob sie einander ansprechen werden?

Sie fangen schon an, Blicke zu wechseln. Im gleichen Augenblick erscheinen aber zwei Jünglinge. Sie setzen sich in die Mitte der Bank und wenden sich halb um: der Blonde nach rechts zu der Schwarzen, der Schwarze nach links zu der Blonden ...

Beide Paare kommen ins Plaudern ...

Wenn aber der Uhrzeiger auf dreiviertel Neun zeigt, springen beide Schwestern auf und laufen davon:

Die Blonde aus der Mokotow-Vorstadt durch die Niecala in die Schwarze Gasse, und die Schwarze aus der Schwarzen Gasse durch die Krolewska in die Mokotow-Vorstadt ...

Sie haben einander fast gar nicht gesehen ...

Vielleicht werden sie sich später einmal, zum Beispiel in einem Spital, wiedersehen.


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