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Jizchok Lejb Perez: Haknossas KalloWörtlich: »Verheiratung der Braut«; die Pflicht, einem armen Mädchen die Heirat zu ermöglichen» indem man ihr Mitgift und Aussteuer stiftet.

Reb Ojser Hoffenstand ist, unberufen, ein reicher Mann, vielleicht sogar Millionär. Auf dieser Welt hat er schon was zu sagen; und auf jener Welt – erst recht!

Er ist gerade beim Mittagessen.

Der Tisch ist reich gedeckt. Die Mahlzeit beginnt mit Hering, Sardellen und Sardinen ...

Silber – wie Holz! Silber funkelt auf dem Tisch und in der offenen Kredenz. An den Wänden hängen an die zehn silberne Platten, die in der Kredenz keinen Platz mehr fanden. Oben auf dem Schrank steht eine große silberne Chanukke-Lampe mit getriebenen Blumenröhren; rechts und links von ihr halten zwei riesengroße Sabbatleuchter Wache.

Reb Ojser selbst ist ein kleines, hageres Männchen und verschwindet ganz im großen, mit rotem Samt überzogenen Großvaterstuhl. Seine grünsamtene Mütze von einer eigentümlichen spitzen, hohen und steifen Form reicht kaum über die Stuhllehne; die Form ist seine eigene Erfindung! Mit dieser Mütze wird er in der chassidischen Überlieferung von Mund zu Mund ewig weiterleben.

Er wird im Paradiese bereits beim Studium der Mischna angelangt sein (beginnen wird er ja mit dem Buchstabieren), und seine Enkel werden (so hofft er) noch immer die Ojser-Mütze tragen.

Er ißt schweigend mit ernstem Gesicht, gerunzelter Stirne, ohne jemand der Tischgenossen anzublicken.

Der lange Tisch ist gut besetzt. Rechts sitzt eine Reihe Weiber: sein Weib, zwei Töchter, eine Schwiegertochter und drei Enkeltöchter. Links – die Männer: zwei Söhne, ein Schwiegersohn und drei kleine Enkel.

Sein Weib trägt ein gesticktes Haarband unter einer tiefen Haube mit breiten, feuerroten Bändern. Die Töchter tragen Scheitel, die Schwiegertochter ist bereits bei einer Perücke aus gekreppten Haaren angelangt.

Die Mädchen dürfen sich ihr Haar nicht verunstalten. Ihre Haare flattern frei über den schmalen Stirnen, bis die Zeit kommt, daß man sie ihnen abrasiert. Wer weiß ...

Noch vor einigen Jahren saß am oberen Tischende Reb Ojsers Mutter: eine Frau mit einem Stirntuch, einer Haube, langen Ohrringen und einem Brusttuch. Nun ist sie schon auf der wahren Welt.

Auch die Männer tragen sich verschieden. Reb Ojser selbst hat seinen chussidischen »Zylinderhut« auf; der Sohn – ein spitzes und die Schwiegersöhne flache und kantige Käppchen. Die Enkel tragen bereits Mützen, die Reb Ojser manchmal mit einem unzufriedenen Blicke streift: der Hutmacher hat die Form verunstaltet und die Mützen nicht hoch genug gemacht!

Vor acht Tagen saß am gleichen Tisch noch ein Melammed mit einem gesteppten Kaftan; nun hat er einen Rabbinerposten in einer kleinen Stadt bekommen. Also muß Reb Ojser erst zum Rebben fahren, um sich nach einem neuen Melammed umzusehen. Den ersten besten läßt er doch nicht zu sich ins Haus!

»Die neuen Zeiten ...« denkt er seufzend.

Er sieht, wie die Zeit jeden Augenblick einen neuen Stein von der Mauer herunterreißt, die er so kunstvoll als Schutzwehr gegen die große ketzerische Welt errichtet hat, zu der er nach seinem Vermögen eigentlich gehört. Die neue Zeit sickert wie Wasser in seine Arche hinein, in der er sich vor der »deutschen Sintflut« hat retten wollen, so daß keiner von seiner Familie sich auch nur einen Fuß benetze! Doch es geht nicht!

Eine Enkeltochter, die erst eben etwas lesen und schreiben gelernt hat, wurde neulich beim Lesen eines Romans ertappt. Eine Schwiegertochter hat sie beim Großvater angezeigt. Es versteht sich, daß in einem Roman nichts Gutes steht!

In einen Enkelsohn war plötzlich der Teufel gefahren: er wollte unbedingt in eine städtische Schule eintreten. Nichts half: weder Zureden noch Bitten, weder Ohnmachtsanfälle noch Schläge. Schließlich mußte man ihm eine goldene Uhr schenken, um ihn von seinem Wunsche abzubringen.

Reb Ojser zieht die Brauen noch stärker zusammen. Er sieht mit seinen alten Augen, die schon so viel geweint und so viel Psalmen gelesen, so viel Geld gezählt und so viel vom Leben gesehen haben, daß die Zeit kein Erbarmen kennt und all das Alte, Verschimmelte, Heilige nach und nach auslöscht.

 

Die Tür geht auf.

Es erscheint ein alter, gebückter Jude mit weißem, zerzaustem Bart, dessen Haare sich mit den ausgefransten Fäden des abgetragenen Kaftans vermengen. Ein bleiches Gesicht schaut unter der zerrissenen Mütze hervor.

Es ist der Dalles selbst.

»Friede sei mit dir, Mendel!« begrüßt ihn der Millionär.

»Auch mit dir sei Friede!« antwortete Mendel-Dalles.

Er kommt zum Tisch. Der Hausherr umwickelt sich die Rechte mit einer Serviette und reicht sie dem Gast.

Dasselbe tun die Schwiegersöhne und die Enkel. Nur einer von den Enkeln verzieht dabei den Mund.

Hätte man ihm zu der goldenen Uhr auch noch ein Anhängsel gekauft, so hätte er den Mund vielleicht nicht verzogen.

Mendel bemerkt es aber nicht. Er lächelt:

»Du hast etwas zu viel Weiber an deinem Tische sitzen, Ojser!«

»Es sind ja lauter eigene!« antwortet Ojser sehr ernst und seufzt.

In der Tiefe seiner Seele hat er eigentlich Zweifel, ob auch die Schwiegertochter zu den eigenen gehört.

»Weißt du was, Ojser?« sagt Mendel weiter. »Ich will einen Schluck Branntwein nehmen.«

»Gut!«

»Kinder, macht mir Platz!«

Und Mendel-Dalles zwängt sich zwischen zwei Enkelsöhnen an den Tisch heran und nimmt einen Schluck Branntwein.

»Und etwas dazu!« wendet er sich an die Hausfrau und blickt sie mit seinen feuchten Augen an.

Reb Ojser wirft einen zornigen Blick der ganzen Reihe Weiber zu: wissen sie denn nicht selbst, daß man zum Branntwein etwas beißen muß?!

Die Hausfrau versteht wohl den Blick, hat aber keine Lust, aufzustehen.

»Nehmt ein Stück Hühnerbrust!«

»Fällt mir nicht ein!« antwortet Mendel. »Dazu werde ich mir erst die Hände waschen, wie es sich gehört! Vorläufig will ich ein Stück Honigkuchen; ich habe Anrecht auf Honigkuchen!«

»Sag einmal, Sore«, wendet er sich an die Hausfrau, »hast du inzwischen nicht wieder eine Tochter verheiratet?«

Eines der Mädchen verzieht das Gesicht und bringt von der Kredenz ein Stück Honigkuchen.

Mendel-Dalles trinkt zum Wohl und ißt dazu Honigkuchen.

»Jetzt werde ich mich waschen.«

Er sieht sich um, entdeckt das Waschgeschirr und wäscht sich die Hände.

Eine Dienstmagd trägt eine dampfende Schüssel herein.

Reb Ojser wirft seinem Weib einen bösen Blick zu.

»Trag die Schüssel vorläufig zurück!« sagt die Frau zur Dienstmagd. »Es ist ja ein Gast gekommen.«

Die Dienstmagd sieht den Gast etwas spöttisch an und geht fort.

 

Nach dem Essen und Benschen verjagt Mendel mit dem beißenden Rauch seiner Pfeife alle Weiber aus dem Zimmer. Er lächelt zufrieden, sieht sich um und findet endlich das, was er sucht: ein Sofa. Der Kopf ist ihm etwas schwer; auch hat er schon lange keinen so schweren Magen gehabt. Er erhebt sich mühsam vom Stuhl, geht wankend zum Sofa und streckt sich darauf aus.

Reb Ojser fragt:

»Willst du etwas schlafen?«

»Ja, und später will ich mit dir reden.« Er gähnt und sagt: »Ich bleibe bei dir, so Gott will, einige Tage.«

»Gut. Jetzt schlafe«, sagt Reb Ojser, das Zimmer verlassend. Die übrigen Familienmitglieder folgen ihm.

 

Reb Ojser kommt nach einigen Stunden wieder ins Eßzimmer. Mendel liegt bereits mit offenen Augen da.

»Nun, wie geht's, Mendel?« fragt er ihn und setzt sich ihm zu Häupten auf einen Stuhl.

»So – so!« antwortet Mendel. »Kann ich nicht ein Glas Tee haben?«

Reb Ojser klingelt und bestellt bei seiner Frau, die sich in der Türe zeigt, den Samowar.

»Was bist du eigentlich hergekommen?« fragt Reb Ojser.

»Du willst wissen, was ich hergekommen bin?« wiederholt Mendel die Frage. »Ich verheirate ein Kind!«

»Deinen Schmerl?«

»Nein, ich habe noch eine ältere Tochter.«

»So?«

»Gewiß ...«

»Und nun?«

»Nun brauche ich natürlich ... die Mitgift ...«

»Von mir kannst du gleich fünfundzwanzig Rubel haben!«

Mendel setzt sich auf.

»Sollst dich schämen!«

»Wieviel willst du denn?«

»Wieviel ich will? Ich will fünfhundert Rubel.«

»Fünfhundert Rubel?« wundert sich der Millionär.

»So habe ich es versprochen.«

»Nun? Und wenn du es schon versprochen hast?«

»Narr! Das hatte ich mir ja auch gedacht, als ich es versprach. Nun geschieht aber ein Unglück. Hör nur, was einem passieren kann. Meine Tochter wurde ... etwas unwohl ... Es war überhaupt nicht der Rede wert ... Kennst du aber den Motje-Schejgez? Als wir beide neulich bei einer Streitigkeit Schiedsrichter waren, gerieten wir selbst in Streit ... Also setzt er sich hin und schreibt einen Brief an den Meschutten ...«

»Was sagst du?« fragt Reb Ojser und verzieht das Gesicht.

»Das, was du hörst!«

»So ein Sünder in Israel!«

»Ich fahre ja auch deswegen zum Rebben ... Er wird schon seine Strafe haben ... Doch was geschehen, ist geschehen ... Und weißt du, was er, ausgelöscht sei sein Name, geschrieben hat? Daß sie die Fallsucht hat, hat er geschrieben! Mir kannst du ja glauben: sie hat bisher nur einen Anfall gehabt; höchstens zwei, mehr nicht, mein Ehrenwort!«

Mendel macht eine Pause und zieht an seiner kalten Pfeife.

»Hier hast du eine Zigarre!« sagt der Hausherr.

Mendel nimmt die Zigarre, steckt sie an und fährt fort:

»Und jetzt, verstehst du, sagte der Mechutten, daß ich das ganze Geld einzahlen soll.«

»Diese Frechheit!« schimpft der Millionär.

»Gewiß! Der Hund will natürlich die Verlobung auflösen, ohne mir Abstandsgeld zu geben!«

»Gar nicht so dumm!« scherzt Reb Ojser.

»Ich höre auf ihn wie auf die Katz'! Doch ich muß ihm sein unsauberes Maul verstopfen. Also brauche ich die ganzen fünfhundert Rubel.«

»Und warum muß ich alles hergeben?«

»Außerdem«, fährt Mendel fort, »brauche ich etwas für die Hochzeit, wie es schon einmal der Brauch ist ... Hochzeitskleider habe ich schon.«

»Und alles muß ich geben?« fragt Reb Ojser, etwas unzufrieden. »Warum gehst du nicht auch zu Berl, zu Chajim?«

Mendel-Dalles gerät in Zorn:

»Ich bitte dich, was willst du von mir? Habe ich denn die Kraft, in euren steinernen Gassen herumzulaufen und eure steinernen Treppen zu steigen? Ich soll in meinen alten Tagen vor fremden Türen warten?« Er steht auf und spricht wutschäumend weiter:

»Menschen wohnen in Gassen, die lang sind wie der Goles ... Es gibt mehr Treppen als Häuser ... Ich habe Asthma und soll herumlaufen? Lauf du herum! Oder gib mir das Geld, ohne herumzulaufen. Wo du es hernimmst, ist mir gleich ... Als ich Geld hatte, gab ich davon!«

Reb Ojser schweigt, und Mendel setzt sich wieder aufs Sofa.

»Und wo bleibt der Tee?« fragt er ungeduldig.

Reb Ojser klingelt wieder, und aus dem nächsten Zimmer antwortet seine Frau, daß der Tee bald fertig wird.

Mendel gähnt wieder.

»Willst du denn wirklich, daß ich das ganze Geld hergebe?« sagt Reb Ojser. »Du mußt doch jüdisches Erbarmen mit mir haben!«

»Gott behüte!« erwidert Mendel. »Nimm das Geld, wo du willst! Ich kann aber nicht sammeln gehen. Ich kann einfach nicht!«

»Was kann ich dafür?«

»Hör einmal, Ojser! Ich brauche fünfhundert Rubel für die Mitgift und fünfzig Rubel für die Hochzeit; einige Hochzeitskleider habe ich schon, wie gesagt. Und was den Rest angeht, so werde ich ihm schon was pfeifen, dem alten Terach! ... Im ganzen also fünfhundertfünfzig Rubel ... Davon darf aber kein Dreier fehlen!«

Reb Ojser nickt mit dem Kopf. Er ist beinahe einverstanden. Aber ...

Mendel läßt ihn nicht zu Worte kommen.

»Und von dieser Summe habe ich das!«

Er holt aus dem Busen einen zerfetzten leinenen Beutel und wirft ihn Reb Ojser auf den Schoß.

»Zähle einmal nach!« sagt er zu ihm.

Reb Ojser nimmt den Beutel, holt einen Pack zerknüllter Banknoten heraus und zählt. Es sind hundertvierundsechzig Rubel.

»Ich habe mein Häuschen verkauft«, erklärt ihm Mendel, »daher habe ich das Geld!«

Ojser legt das Geld wieder in den Beutel und will ihn Mendel zurückgeben.

»Nein«, sagt Mendel, »ich habe geschwollene Füße ... Herumgehen will ich nicht ... Behalte das Geld bei dir ... Ich habe also bei dir fünfhundertfünfzig Rubel! Ich lasse dir Zeit. Ich bleibe ja einige Tage hier, also hast du genug Zeit! Ich will bei dir etwas ausruhen und mich satt essen. Wenn ich verreise, wirst du mir eine Quittung geben, daß ich bei dir fünfhundert Rubel hinterlegt habe. Fünfzig Rubel für die Hochzeit und fünf Rubel für die Reise nach Ger wirst du mir bar geben. Du kannst das Geld nehmen, bei wem du willst. Das geht mich nichts an.«

»Gut«, brummt Reb Ojser.

»In Ger werde ich bleiben«, fährt Mendel fort ... »Und wenn ich später einmal Lust habe, komme ich zu dir für einige Wochen.«

Reb Ojser brummt wieder.

»Schlafen werde ich«, sagt Mendel, »wenn ich komme, hier auf diesem Sofa ... Ein ausgezeichnetes Sofa!«


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