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Jizchok Lejb Perez: Das Paar oder Ssore bas-Tewim

Und die Geschichte, die ich euch erzählen will, ist eine gar wunderliche und merkwürdige Geschichte und außerdem eine wahre Begebenheit. Sie ist noch in keinem Buche gedruckt und in keiner Gemeindechronik aufgezeichnet. Ich habe sie aus dem Munde eines großen Mannes empfangen ...

Die Geschichte hat sich in alten Zeiten zugetragen, wo es noch nicht so viele Städte und Dörfer gab in der Welt des »Waldein« und des »Waldaus«. Es war im Lande Mähren. Dort gab es damals noch wenig jüdische Gemeinden; die Juden wohnten familienweise in den Dörfern verstreut, in den Wäldern versprengt, ohne Thora, ohne gemeinsames Gebet, außer in den »Furchtbaren Tagen«, wenn sie mit Kind und Kegel in die fernen Städte zogen.

Damals lebte in einem Dorfe ein Jude als Pächter eines Grafen. Er verdiente mehr, als er verzehren konnte. Fünfhundert Kühe hatte er für den Grafen zu melken, und auch ein paar eigene dazu. Sein Keller war angefüllt mit Butter und Käse und sein Dachboden mit Getreide, Flachs und Fellen; seine Geldtasche wurde immer dicker, ebenso der Geldbeutel seiner Frau. Und ein Sohn wuchs ihnen heran, kräftig und wohlgeraten wie ein Baum im Walde.

Der Mann sitzt an einem Winterabend bei einer Wachskerze am Tische über den Rechnungsbüchern, die Spitze des grauen Bartes zwischen den Zähnen, die Stirne wie vor schwerer Sorge gerunzelt, und blickt mit trüben Augen zum Fenster hinaus ...

»Du sündigst, Mann!« weckt ihn die Stimme der Pächterin aus seinen Gedanken. Sie kommt soeben aus der andern Stube, wo sie nach dem schlafenden Sohn gesehen hat, und ihr Gesicht strahlt.

»Weißt du, ich habe mich über ihn gebeugt ... Seine Wangen sind rosig wie der frische Morgen, und der Atem ist ruhig und duftet nach frischen Äpfeln ...«

»Ihm gilt meine Sorge«, antwortet der Pächter. »Wir wohnen in einem Dorfe, ferne von jeder jüdischen Gemeinde, und die Jahre stehen nicht still ... Wo nehmen wir eine Ehegenossin für unsern Sohn, wie sollen wir ihn verheiraten?«

»Gott wird helfen«, tröstet die Pächterin. »Er hat uns auch bisher nicht verlassen ...«

»Das ist es eben«, sagt der Pächter. »Wir brauchen wohl Gottes Hilfe, aber für welche frommen Verdienste kann sie uns zuteil werden? Ich bin kein Schriftgelehrter, ich verstehe nicht zu lernen, und wir wohnen nicht unter Juden. Ein einziges göttliches Gebot können wir verrichten: Gastfreundschaft gegen Wanderer heißt dieses Gebot. Aber schau!« Er zeigt mit einem Blick auf das Fenster: »Da ist so viel Schnee vom Himmel gefallen, alle Wege und Stege hat er verschüttet. Tage, vielleicht auch Wochen wird es dauern, bis wieder einmal ein Wanderer über unsere Schwelle kommt ...«

Er steht auf und geht hinaus, nachzuschauen, wie es draußen aussieht. Sie beginnt indessen die Betten zu richten. Er bleibt aber zu lange draußen; es wird ihr traurig zumute, sie läßt die Betten, geht ans Fenster und klopft mit den rundlichen Fingern auf die Scheibe zum Mann hinaus.

Die Scheibe ist aber mit einer Eiskruste bedeckt und gibt keinen hellen Ton. Sie wirft sich ihren Schal über und geht vor die Türe, den Mann zu holen. Der Mann hört aber ihre Schritte gar nicht und wendet sich nach ihr nicht um: er steht da und blickt unverwandt auf den Weg, der aus dem Walde führt. Sie schaut verwundert in dieselbe Richtung. Nun sehen sie beide, wie über dem schneeverwehten Weg aus dem Walde eine weibliche Gestalt mit hoher Haube und türkischem Schal herannaht. Sie hat sich in den Schal nicht gehüllt, sondern ihn bloß der Schönheit wegen, wie in einer linden Sommernacht, über eine Schulter geworfen; frei flattern seine Enden rechts und links wie zwei Flügel ... Sie geht gar nicht über den Schnee, sie schwebt daher, die Füße berühren den Schnee nicht und hinterlassen in ihm keine Spuren. Die beiden starren sie an, bis die Gestalt sich ihnen nähert und fragt, ob sie nicht eine Stunde in ihrem Hause ausruhen könnte ...

Mann und Frau kommen ein wenig zur Besinnung. Sie wechseln Blicke und führen den seltsamen Gast mit großer Freude in die Stube: also hat Gott ihnen doch einen Gast beschert! Sie wollen den Diener wecken und ein warmes Getränk bereiten lassen. Die Pächterin eilt zum Schrank, macht ihn weit auf und will die besten Speisen und Getränke herausholen, auch Eingemachtes und ein Gläschen süßen Branntwein. Der seltsame Gast sagt aber: Nein! Sie wolle nichts zu sich nehmen, ihr einziger Wunsch sei, ein wenig auszuruhen. Sie gehe einen weiten Weg, um eine Botschaft auszurichten ... Die Pächterin muß sich fügen. Sie zündet eine zweite Kerze an und führt den Gast in ein besonderes Zimmer. Sie zeigt ihm das große Bett mit schneeweißem Laken, weichen Daunenkissen und einem leichten, warmen Überbett ... »Und wenn Ihr nichts essen und nichts trinken wollt, so schlaft wenigstens – möge es Euch wohl bekommen!«

Die seltsame Frau sagt aber, sie wolle gar nicht schlafen, sie wolle nur ein wenig ausruhen, da sie noch einen weiten Weg vor sich habe, um ihre Botschaft auszurichten. Und als die Pächterin sie allein lassen will, hält sie sie zurück und fragt, wieviel sie für das Zimmer zu bezahlen habe; sie werde ganz still fortgehen und niemanden wecken; sie werde das Geld im Zimmer zurücklassen.

Die Pächterin fährt tiefgekränkt auf: sie nähme kein Geld, auf keinen Fall ... Das sei doch das einzige göttliche Gebot, das sie hier im Dorfe erfüllen könnten. Nur für solche frommen Verdienste helfe ihnen Gott und werde – fügt sie mit großem Gottvertrauen hinzu – auch weiter helfen!

Die seltsame Frau lächelt und fragt:

»Fehlt euch denn etwas? Habt ihr noch eine Bitte an Gott?«

»Gott behüte! ... Wir, ich und mein Mann, sind ja, Gott sei Dank, gesund, und unser Sohn, leben soll er, erst recht ... Und wir haben mehr, als wir verzehren können ... Wir wissen aber nicht, wie wir unserm Sohn eine Ehegenossin finden können ...«

Und sie erzählt, daß der Sohn bald siebzehn Jahre alt wird, daß sie in einem Dorfe, weit von jeder jüdischen Gemeinde wohnen ...

»Und was tut ihr in dieser Sache?«

»Wir hoffen auf Gott, wir beten zu seinem lieben Namen ... Mein Mann tut es in seiner Sprache und ich in der meinigen ... Alle Gebete bete ich und kenne alle die süßen, herzinnigen Tchines der Ssore bas-Tewim fast auswendig ... Über eines der Gebete, nämlich das, mit dem man einen Ehegenossen für sein Kind erfleht, habe ich schon viel Tränen vergossen ...«

»Gott wird helfen«, lächelte der Gast. »Ich zweifle nicht daran«, sagte sie lächelnd. »Und da habt ihr ein Zeichen: da ihr kein Geld für das Zimmer nehmen wollt, lasse ich ein Geschenk für die Braut eures Sohnes zurück ...« Mit diesen Worten holt sie unter dem türkischen Schal das Geschenk hervor: ein Paar goldene, mit Perlen bestickte Pantöffelchen ... Die Pächterin ist geblendet, die Frau drückt ihr aber die Pantöffelchen in die Hand und sagt: »Ein Geschenk von Ssore bas-Tewim.« Mit diesen Worten verschwindet sie.

Der Pächter war ungeduldig geworden, klopfte an die Türe, bekam aber keine Antwort. Er machte die Türe erschrocken auf und sah sein Weib mitten in der Stube stehen, mit offenem Mund, weit aufgerissenen Augen, ein Paar goldene Pantöffelchen in den Händen.

 

In derselben Zeit, im gleichen Lande Mähren, wohnte in einem Walde, viele Meilen von unserem Pächter entfernt und ohne etwas von ihm zu wissen, ein Köhler, der bei einem andern Grafen ein Häuschen und einen Kohlenmeiler gepachtet hatte. Aber dieser Jude war arm und hatte eine schwere Arbeit: er sammelte, was von den Bäumen abfiel – im Sommer das dürre Reisig, im Winter die vor Frost abgesprungene Baumrinde und nach jedem Gewitter, was der Blitz abgeschlagen und der Wind abgebrochen hatte. Das alles schleppte er zu seinem Meiler und verbrannte es zu Kohle. Jeden Abend kam er müde und rußgeschwärzt heim ... Der liebe Gott hatte ihm ein Töchterchen beschert – der Mann war Witwer –, und das Töchterchen eilte ihm jeden Abend mit Freude entgegen, half ihm beim Waschen und Umkleiden, gab ihm zu essen und zu trinken und machte ihm sein Nachtlager zurecht ...

Und wenn er nicht einschlafen konnte – seitdem er Witwer geworden war, kam es recht oft vor –, zündete sie einen Kienspan an oder stellte sich in einer hellen Mondnacht ans Fenster und las ihm aus ihren heiligen Büchern vor: es waren die jüdisch-deutschen Bücher, die ihr die Mutter hinterlassen hatte – sie hatte sie auch lesen gelehrt – »Zeeno-Ureeno«, »Kaw-Hajoschor« und das Gebetbuch der Ssore bas-Tewim ... Aus diesen Büchern las sie ihm vor ... Er, ein einfacher Mann, hörte ihr zu, bis ihm die Augen zufielen. Es war ihm, als läse seine verstorbene Frau vor, und er schlief ruhig ein, von der süßen Stimme und den heiligen Worten eingelullt...

Die Tochter beginnt einmal ein gar rührendes Gebet zu lesen, das Gebet einer Mutter, die vom lieben Gott einen Ehegenossen für ihr Kind erfleht:

»Sieh, lieber, guter Gott, daß ich für meine herzliebste Tochter einen Ehegenossen finde, einen frommen Ehegenossen ...« Wie das Mädchen merkt, um was es sich handelt, bricht sie das Gebet ab und will ein anderes Gebet lesen. Der Vater aber bittet sie:

»Nein, Tochterleben, nein ... Lies weiter ... Lege mir die heiligen Worte in den Mund, laß mich zu Gott für dich beten ... Mein Herz ist voll, Töchterchen, aber ich bin ein einfacher Mann und habe keine Worte ...«

Sie muß sich fügen und liest immer weiter und weiter. Wie wohlriechendes Öl fließt das Gebet dahin. Der Vater ist längst eingeschlafen – sie merkt es nicht, er schnarcht, sie hört es nicht und liest immer weiter ... Und plötzlich erwacht eine unbegreifliche Sehnsucht in ihrem Mädchenherzen, ihre verwaiste Seele sehnt sich nach etwas ... Ihr kleines Herz klopft; feucht und trübe werden ihre klaren blauen Kinderaugen, und das Stimmchen zittert und bebt und wird vor zurückgehaltenen Tränen feucht ...

Und plötzlich geht die Türe auf, und eine wunderliche Gestalt tritt in die Stube – mit hoher Haube und türkischem Schal. Ihre Augen leuchten so freundlich und süß, und das runzlige Gesichtchen strahlt.

»Vater!« will das Mädchen den Vater wecken. Die Alte legt aber einen Finger auf die Lippen, und das Mädchen schweigt und bleibt starr, wie verzaubert stehen. Die Alte geht zum Tisch, setzt sich, streckt ihre Hand aus und zieht das Mädchen zu sich heran ... drückt sie ans Herz ...

»Fürchte nichts, Mädelchen«, sagt sie. »Ich bin Ssore bas-Tewim ... Meine Gebete hast du gelesen ... Die Nacht ist so still, ich hörte in meiner Ruhe deine süße Stimme und bin hergekommen und habe dir ein Geschenk mitgebracht ...«

Sie holt unter dem türkischen Schal das Geschenk hervor: »Schau, liebes Kind ... da ist ein Stück geschorener Samt ... es ist für einen Beutel zugeschnitten ... Da ist auch Seide von allen Farben zum Sticken ... und da sind goldene und silberne Fäden und auch goldene und silberne Flitter ... Und so näht man, siehst du, liebes Kind, und so stickt man ... Halte die Nadel fest, die Fingerchen eilen flink hin und her ... Siehst du, da entsteht ein Mogen Dovid, und da blühen Blümchen hervor ... Frische Blümchen wie im Wald zur Sommerszeit ... Nähe einen Tfillin-Beutel, ein Geschenk für den dir bescherten Bräutigam, wie einst deine liebe Mutter für deinen lieben Vater einen nähte ...«

Die Alte belehrt sie, und das Mädchen stickt und näht ... Und als der Morgen erblüht und der Vater erwacht, sitzt die Tochter allein in der Stube mit einem Tfillin-Beutel aus Samt, mit Silber und Gold gestickt, in den Händen ...

 

Und als der Sohn des Pächters siebzehn Jahre alt geworden war, setzte man ihn auf einen Wagen und schickte ihn in die Welt hinaus, um zu den Pantöffelchen der Ssore bas-Tewim eine Braut zu suchen ...

Fährt er waldaus, waldein, durch Dörfer und Städte. Junge Mädchen sind so viel wie der Sand des Meeres, aber die Pantöffelchen passen keiner von ihnen ...

So fährt er ein Jahr und zwei Jahre umher. Er findet nicht, was er sucht, gibt die Hoffnung auf und will nach Hause zurückkehren und seinen Eltern sagen: »Es ist nur ein Traum gewesen, so kleine Füßchen gibt es nicht ...« Er fährt heim. Er fährt und fährt und verirrt sich in einem Walde. Riesengroße Eichen ragen um ihn her, er sieht keinen Weg. Er macht halt. Es ist Freitag, die Sonne geht unter und sinkt als feuriger Ball immer tiefer und tiefer, der Abend senkt sich über die Erde. Er beginnt das Hohelied zu sprechen und geht, die heiligen Worte sprechend, im Walde hin und her, bleibt aber in der Nähe des Wagens und des Pferdes, das zwischen den Bäumen grast ... Der Wald rauscht leise im Abendwinde, als spräche er das Hohelied nach ... Und es wird immer stiller und dunkler, und plötzlich leuchtet zwischen den Bäumen ein Fensterchen auf. Er läuft voller Freuden hin und klopft an:

»Wohnt hier ein Jude?«

»Ja, ein Jude!«

Ein Mann tritt aus dem Hause und zeigt sich auf der Schwelle.

»Friede mit Euch!«

»Auch mit Euch Friede!« antwortet der junge Mann. »Kann ich bei Euch den Sabbat verbringen?«

»Das könnt Ihr wohl«, antwortet der Mann mit traurigem Lächeln, »aber ich habe nichts zum Essen ...«

»Ich habe genug zum Essen bei mir«, sagt der junge Mann, »und auch zum Trinken. Kommt mit zu meinem Wagen. Ich habe genug vom Besten und vom Schönsten ...«

Eine Stunde später, nach dem Empfang des Sabbats und nach dem Kiddusch sitzen sie beide bei Tisch, singen Smires und essen ... Der junge Mann bemerkt, daß der Alte von jedem Gericht nur ein wenig kostet und den Rest vor die Türe hinausträgt. Er meint, daß es für ein Kalb oder für ein Huhn bestimmt ist ... Also ist der Mann wohl doch nicht so arm; warum hat er dann nichts für den Sabbat angeschafft? ... Und da er jung ist, fragt er den Alten ganz offen.

Sagt der Alte: »Nein, ich bin nur ein armer Köhler und habe weder ein Kalb noch Geflügel ... Ich habe nur ein liebes Töchterchen. Sie hat keine Schuhe und schämt sich, nebbich, mit bloßen Füßen in die Stube zu kommen ... Sie sitzt vor der Türe und ißt draußen ...« Holt der junge Mann mit Herzklopfen die goldenen Pantöffelchen aus dem Busen und gibt sie dem Alten: »Nehmt die Pantöffelchen, meßt sie Eurer Tochter an ... Schaut, ob sie passen ...« Und der Alte kommt zurück und sagt: »Sie passen ...«

 

Beim reichen Pächter war Hochzeit. Mit dem Köhler hatte er sich verschwägert. Die Chuppe hatte man in der Stadt gestellt, und als man nach der Trauung heimging, erschien plötzlich eine seltsame Gestalt mit hoher Haube und türkischem Schal, mit einem alten Gesicht, doch jungen freundlichen Augen. Und sie tanzte dem Brautpaare mit einem Hochzeitskuchen in der Hand entgegen ... Nicht alle wußten, wer sie war ...


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