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Jizchok Lejb Perez: Des Rebbens Pfeifenrohr

Alle, und nicht nur die Alten, können sich noch erinnern, wie es Sore-Riwke nicht nur an Kindern, sondern auch an Brot fehlte. Ganz einfach – an Brot!

Ihr Mann, Chajim-Boruch, war von jeher ein großer Chussid gewesen; schon von jenem Tage an, wo ihn sein Schwiegervater (er ruhe in Frieden – ein frommer Jude war er gewesen!) aus der Lubliner Gegend hergebracht hatte.

Man merkte bald, daß er ein göttliches Gefäß war, ein Segen für seinen lieben Namen! Daß er ein Mensch war, der, wenn nicht gerade Messias' Ankunft beschleunigen, so doch zumindest Wein aus der Wand zapfen konnte.

Er hatte schon so ein Gesicht gehabt!

In seinen tiefliegenden, stets gesenkten Augen zitterte immer ein Flammenschein, gleich als ob jemand in einer finstern Stube mit einem Licht hin und her ginge.

Ein blasses Gesicht hatte er; doch beim geringsten Anlaß blühte es auf wie eine Rose: so eine dünne Haut hatte er!

An seinen Schläfen pochte und zitterte es immer.

Einen gewöhnlichen Jusefower Gürtel konnte er sich an die zehn Mal um den Leib wickeln; vielleicht noch mehr!

Es versteht sich von selbst, daß von gewöhnlichem Lernen bei ihm nicht die Rede war: so ein Geschöpf geht in die Tiefe: »Sohar« lernte er und »Ejz Chajim« – alles was ihr wollt.

Mit dem Rebben, leben soll er, saß er stundenlang zusammen. Sie sprachen zueinander nicht mit Worten, sondern mit bloßen Winken und Blicken. Geh einer und rede mit einem solchen wegen Nahrungssorgen!

Warum nannte ihn aber das ganze Bejßmedresch: »Chajim-Boruch Sore-Riwke's« oder kürzer: »Sore-Riwke's Mann«? Warum hängte man ihn mit allen seinen »Toren der Weisheit« an den Topf Erbsen und das bißchen Hefe an, womit Sore-Riwke handelte? Das ist eben nicht zu verstehen!

Sore-Riwke selbst hatte großen Kummer davon.

Es war ja wirklich eine Ehre, daß man ihn nach ihr nannte das fühlte sie. Sie wußte aber auch, daß dies bißchen Freude auf dieser Welt auch das einzige war, was sie zu erwarten hatte. Sie pflegte recht oft, einigemal in der Woche mit ihrem Erbsentopf ins Bejßmedresch zu kommen.

»Chajim-Boruch!« schreien die Jeschiwe-Bochers: »Deine Speiserin kommt!«

Chajim-Boruch hat wohl schon ihre Schritte auf der Treppe gehört; er hat sein Gesicht längst in den »Sohar« vergraben; über dem Pulte zittert nur die fettige Spitze seines Käppchens, an dem immer Federn haften. Doch Sore-Riwke wagt es nicht einmal, auf diesen Zipfel zu schauen; sie schaut überhaupt nicht nach seiner Seite, sie will nicht mit ihren Augen den göttlichen Geist entweihen, der über ihm ruht, wenn er lernt. Sie will ihre Augen nicht schon auf dieser Welt mästen: Alles, denkt sie sich, will ich lieber dort haben! Dort, auf jener Welt! Und es wird ihr bei diesem Gedanken ganz warm ums Herz.

Wenn sie das Bejßmedresch verläßt, hält sie sich aufrechter, sie ist gleichsam gewachsen, und ihr Blick ist heller und freier. Man kann glauben, daß sie schon eine Frau von einigen und zwanzig Jahren ist: die Stirne ist glatt, ohne eine einzige Runzel, das Gesicht anmutig und rosig, gleich als ob sie erst von unter der Chuppe käme!

Und gerade wenn sie daran denkt, wird ihr so traurig zumute.

Es wird ihr, so trauert sie, nichts mehr für jene Welt übrigbleiben. Sie wird dort ankommen wie eine gerupfte Gans, ganz ohne Verdienste am Leibe ... Was tut sie eigentlich? Sie schleppt sich mit ihrem Erbsentopf durch die Straßen und trägt jeden Donnerstag ein wenig Hefe an einige Hausfrauen aus. Was hat er von ihr?

Solange noch ihr Vater, er ruhe in Frieden, lebte und seine Geschäfte gut gingen, hatte man ein Obdach und was zu essen und zu trinken – sogar im Überfluß. Und heute? Auf alle Feinde Zions gesagt!

Die Mitgift ist irgendwo verlorengegangen, das Häuschen ist verkauft!

Am Morgen gibt es Fischgrütze und Kartoffeln mit Wasser.

Abends – ein Süppchen und einen Beigel vom vorigen Tage.

So sieht sein Leben auf dieser Welt aus!

Seit sieben Jahren hat sie ihm nicht einmal einen Kaftan gemacht!

Von Pejssach zu Pejssach bekommt er von ihr einen Hut, ein Paar Stiefel und sonst nichts.

Zum Sabbat gibt sie ihm ein sauberes Hemd. Auch ein Hemd! Spinngewebe ist es und kein Hemd! Wegen dieser Hemden muß sie schon eine Brille tragen: sie bestehen ja nur aus Flicken ...

»Herr der Welt«, denkt sie sich, »wenn man auf jener Welt einen einzigen Buchstaben von seiner Thora nimmt und auf eine Waagschale legt und auf die andere Waagschale alle meine Suppen und Fischgrützen und meine Augen noch dazu ... was wird überwiegen?«

Sie weiß zwar, daß, was auf dieser Welt verknüpft ist, auch auf jener Welt verbunden bleiben wird. Daß man Mann und Weib nicht so schnell voneinander trennt. Und würde er es denn auch zulassen? So ein Edelstein, wie er ist! Sieht sie denn nicht, wie er darauf besteht, daß auch sie etwas vom Essen koste? Es ist lächerlich: er wird es ihr doch nicht mit Worten sagen; aber er sagt es mit den Augen! Und wenn sie so tut, als verstünde sie ihn nicht, so brummt er wie während der Schmojneessre. Nein, er wird es nicht zulassen, daß man sie von ihm nimmt! Er wird es nicht haben wollen, daß während er selbst auf dem Vaterstuhl zwischen den Gerechten und Stammvätern sitzt, sie sich irgendwo in der Unterwelt, in wüsten Wäldern herumtreibt ...

Was hilft es ihr aber? Erstens müßte sie sich einfach schämen, den Stammüttern in die Augen zu sehen. Sie würde vor Scham verbrennen!

Zweitens – hat sie ja keine Kinder und »Jahre ziehen, Jahre fliehen« ...

Sieben Jahre leben sie schon zusammen; noch drei unglückselige Jahre, und dann ist die Scheidung gewiß!

Wird sie denn widersprechen?

Eine andere wird sein Fußschemel im Paradiese sein und sie wird mit Gott weiß wem, mit irgendeinem Schneider in der Hölle schmachten ...

Und verdient sie denn auch etwas Besseres?

Sie träumte schon mehr als einmal von einem Schneider oder einem Schuster und fuhr dann mit einem lauten Schrei aus dem Schlafe.

Er wachte erschrocken auf.

Nachts, wenn es finster ist, redet er ja manchmal mit ihr. Er fragt sie: »Was ist?«

Und sie antwortet: »Gar nichts!«

Sie weint und betet zu Gott, daß er seinen Segen in ihre Erbsen und ihre Hefe kommen lasse.

Und Chajim-Boruch war doch wirklich ein Edelstein!

»Die närrische Frau!« – denkt er sich: »Was für Sorgen sie hat! Und doch muß ich etwas dagegen tun! Vielleicht wird sie dann eher etwas in den Mund nehmen, sich etwas gönnen!«

Er suchte lange in den Büchern. Doch oft kommt es so, daß man das, was man gerade sucht, nicht finden kann. Solche Dinge kommen meistens von selbst und unerwartet!

Manchmal kam es ihm vor, daß er auf dem richtigen Wege sei, doch jedesmal verwirrte ihn der Satan, so daß er von neuem zu suchen anfangen mußte.

Und er beschloß, darüber mit Ihm, leben soll er, zu sprechen.

Das ging aber sehr schwer.

Einmal hörte der Rebbe gar nicht zu: so sehr war er in seine Gedanken vertieft; das zweite Mal schüttelte er den Kopf, nicht hin und nicht her. Und das dritte Mal sagte er ihm:

»Hm! Es wäre wirklich ganz gut!« Da kam aber jemand zum Rebben, und das Gespräch wurde abgebrochen.

Ein anderes Mal fuhr er extra deswegen zum Rebben und fragte ihn: »Nu?«

»Nu! Nu!« antwortet der Rebbe. Und das war alles.

Einmal, an einem Freitag, sitzt Chajim-Boruch beim Rebben und seufzt.

»Das ist keine Manier!« schilt ihn der Rebbe. »Meine Chassidim seufzen nicht! Warum sollen sie auch seufzen?«

»Die Hefe!« erwidert Chajim-Boruch.

»In allen Wohnungen Israels sind schon die Challes gebacken«, sagt der Rebbe. »Am Freitag nach zwölf spricht man nicht mehr wegen Hefe!«

Am Sabbatabend drückt sich Chajim-Boruch schon deutlicher aus:

»Rebbe«, sagt er, »vielleicht würdet ihr euch der Sache doch etwas annehmen?«

»Und du?« erwidert der Rebbe, »bist du krank, es selbst zu tun? Ist der Himmel für dein Gebet, Gott behüte, verschlossen?«

Als Chajim-Boruch das »Gott behüte« hörte, fiel ihm ein Stein vom Herzen. Und doch vergingen noch ein paar Monate – und nichts änderte sich.

Zu Roscheschune kam er wieder.

Am Feiertagsausgang klopfte ihn der Rebbe plötzlich vor der ganzen Gemeinde auf die Schulter und fragte:

»Chajim-Boruch, was fehlt dir?«

Er wurde verlegen und antwortete: »Gar nichts!«

»Es ist nicht wahr!« sagte der Rebbe. »Dir fehlt etwas!«

»Was?« fragte Chajim-Boruch zitternd. Auf der Zunge lagen ihm schon die Worte: »Der Segen in den Erbsen und in der Hefe ...«

Der Rebbe ließ ihn aber nicht zu Worte kommen und zählte ihm folgende Worte wie Perlen ab!

»Dir – Chajim-Boruch – fehlt – eine – lange Pfeife!«

Die Leute wurden starr.

»Du rauchst«, sagte der Rebbe, »wie ein Fuhrmann aus einer kurzen Pfeife.«

Chajim-Boruch fiel die Pfeife aus dem Munde und er stotterte: »Ich will es Sore-Riwke sagen ...«

»Sag es ihr nur, sag!« sprach der Rebbe. »Soll sie dir eine lange Pfeife kaufen ... Nimm meine Feiertagspfeife als Maß mit: genauso lang soll die deinige sein.«

Und er gab ihm sein Pfeifenrohr.

Das war alles!

Noch bevor Chajim-Boruch nach Hause gekommen war, wußte man schon im Städtchen, daß er des Rebbens Feiertagspfeife mit sich führte ...

»Warum? Wozu?« fragte man sich in allen Gassen und in allen Häusern.

»Wozu?« zappelten alle jüdischen Seelen. »Wozu?« Und sie gaben sich selbst Antwort auf diese Frage: »Wahrscheinlich, damit er Kinder bekomme!«

Chajim-Boruch leidet doch nur an dem, woran alle gelehrten Leute leiden; wahrscheinlich wird der Rauch aus des Rebbens Feiertagspfeife dagegen helfen. Und dann noch etwas: Sore-Riwke leidet doch an den Augen! Mit ihren zweiundzwanzig Jahren trägt sie schon eine Brille. Der Rebbe hat sicherlich an sie gedacht. Es ist doch keine Kleinigkeit: Chajim-Boruchs Weib!

Und überhaupt: Wozu hilft so ein Pfeifenrohr nicht? Und dazu noch von einer Feiertagspfeife?!!

Bevor noch Chajim-Boruch vom Wagen gestiegen war, baten ihn schon hunderte Menschen, er möchte ihnen das Pfeifenrohr leihen: für einen Monat, eine Woche, einen Tag, eine Stunde, eine Minute, einen Augenblick ...

Man versprach ihm dafür goldene Berge!

Doch er antwortete allen:

»Was weiß ich? Fragt Sore-Riwke ...«

Es war eine Weissagung, was über seine Lippen kam. Sore-Riwke macht ein gutes Geschäft ...

Achtzehn große Zehner für einen Zug aus der Pfeife. Achtzehn Zehner und keinen Heller weniger!

Und die Pfeife hilft!

Die Leute zahlen. Und Sore-Riwke hat schon ein eigenes Häuschen, einen schönen Laden, viele Hefe und noch manche andere Ware im Laden.

Sie selbst ist voller geworden, gesünder und rundlicher. Sie hat dem Mann neue Wäsche nähen lassen und die Brille abgelegt ...

Vor einigen Wochen kam man sogar vom Gutsherrn das Pfeifenrohr zu leihen. Drei silberne Rubel legte man ihr dafür hin. Wie denn auch anders?

Ob sie Kinder hat, wollt ihr wissen?

Gewiß! Drei oder vier ... Auch er ist ein ganzer Mensch geworden ...

 

Im Bejßmedresch gibt es einen ewigen Streit.

Die einen sagen, daß Sore-Riwke dem Rebben das Pfeifenrohr niemals zurückgeben will und wird.

Und andere sagen, sie hätte es ihm schon längst zurückgegeben; ihr jetziges Pfeifenrohr sei gar nicht mehr des Rebbens Pfeifenrohr.

Doch Chajim-Boruch selbst schweigt.

Was tut's? Wenn es nur hilft!


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