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Jizchok Lejb Perez: Venus und Sulamith

Zwei Jeschiwe-Bochers, Chajim und Selig, saßen in der Klaus am Ofen. Chajim las aus einem Heftchen etwas vor, und Selig flickte mit gewöhnlichem Nähzeug einen Schuh und hörte zu.

»Und Chane war schön wie Venus ... Selig, sag mir bitte, was versteht man unter Venus?« fragte Chajim.

»Venus ist eine mythologische Gottheit«, antwortete Selig, an seinem Schuh weiternähend.

»Und was ist Mythologie?«

»Auch das weißt du nicht, Chajim? Erinnerst du dich noch an den sonderbaren Kerl mit langer Schürze und roter Mütze, der in der vorigen Woche hier war und zum billigen Preise Lakritzenplätzchen und andere Süßigkeiten verkaufte?«

»Gewiß!«

»Dieser Mann war ein Grieche. Und es gibt ein ganzes Volk, das aus solchen Griechen besteht.«

»Und alle verkaufen Lakritzenplätzchen?«

»Narr, sie haben ein eigenes Land, das Griechenland heißt. Die Griechen sind ein altes Volk ... Sie werden auch in der Bibel erwähnt: ihr Land wird das ›Land Jovon‹ genannt, und sie selbst – ›Jovonim‹.«

»Kommt vielleicht davon auch der Name Iwan?«

»Gott behüte! Jovonim sind Griechen ... Einst waren sie ein mächtiges und gebildetes Volk ... Du hast doch sicher etwas von Aristoteles oder Sokrates gehört: sie werden auch von unsern Weisen, von Rambam und andern zitiert ... Aristoteles zum Beispiel glaubte, daß die Welt immer bestanden habe und ewig sei ... Sie alle waren Griechen. Obwohl die Griechen sehr gelehrt waren und sich in allen schönen Künsten auszeichneten, waren sie doch ganz gewöhnliche Götzendiener.«

»Oho!«

»Nun siehst du es. Und die Geschichten von ihren Götzen nennt man Mythologie.«

»Aha! Nun, und wer war Venus?«

»In der Mythologie ist Venus die Göttin der Schönheit.«

»Was heißt eine Göttin?«

»Weißt du, sie hatten für jedes Fach, für jedes Handwerk einen eigenen Gott. Wie man bei uns sagt, daß jedes Volk der Erde im Himmel einen eigenen Fürsten hat ... Bildhauerkunst, Poesie, Schönheit, Gesundheit, Kraft hatten eigene Götter ...«

»Aber was ist eine Göttin? Ein kluger Gott?«

»Nein, ein Gott ist ein ›er‹, und eine Göttin ist eine ›sie‹.«

»Was? Ein Weibsbild? Sie haben also Weibsbilder in ihren Himmel einbezogen?«

»Ach, Chajim, warum nur Männer und keine Weiber?«

»Das ist wahr. Ich glaubte aber, Selig, daß Götter weder männlich noch weiblich sein sollten ...«

»Du mußt wissen, Chajim, daß die griechischen Götter in allen Dingen den Menschen glichen. Der einzige Unterschied ist, daß sie ewig lebten. Dafür hatten sie aber ebenso wie die Menschen Kinder, Weiber und Kebsweiber, aber sterben konnten sie nicht. Der oberste Gott, Jupiter, der den Donner in seiner Hand hatte und vor dem alle andern Götter zitterten, war ein Pantoffelheld; seine Frau Juno behandelte ihn ebenso wie eine Rebbezin einen gewöhnlichen Melammed. Ich habe dir schon einmal von der Frau des Philosophen Sokrates, der Hexe Xanthippe, erzählt; diese war aber ein Hund gegen die Juno! Stelle dir nur vor, was Jupiter für Qualen auszustehen hatte; er wünschte sich zehnmal am Tag den Tod, aber sterben konnte er nicht!«

»Und Venus?«

»Venus war die Göttin der Schönheit. Ich will dir ihre Geschichte vorlesen.«

Selig legte den Schuh weg, zog aus dem Busen ein schmutziges Blatt und begann vorzulesen:

»Venus, Aphrodite, Aphrogeneia, Anadyomene ...«

»Was bedeutet das? Ich verstehe kein Wort«, unterbrach ihn Chajim erstaunt.

»Narr! Das sind die Namen, unter denen Venus in Griechenland und später in Rom bekannt war.«

»Sie hatten also mehr Namen als Jethro, der Schwiegervater Mosis. Was taugen mir die Namen! Lies weiter.«

Und Selig fuhr fort:

»Unter diesen Namen wurde Venus in den verschiedenen Städten als Göttin der Liebe verehrt.«

»Der Liebe und nicht der Schönheit?«

»Das ist doch ganz gleicht Sie war nicht von einer Mutter geboren, sondern in Gestalt einer reizend schönen Frau aus dem Meere gestiegen ...«

»Was heißt ›reizend‹?« »Das heißt, daß sie jedermann reizte und das Blut zum Sieden brachte und so weiter.«

»Aha!«

»Man stellte sie nackt oder halbnackt dar ...«

»Pfui!«

»Ihr Mann war Vulkan ...«

»Was ist das für ein Kerl?«

»Auch ein Gott, der Gott des Feuers ... Unserm Tubal-Kain ähnlich. Er war der Erfinder der Schmiedekunst. Verstehst du es?«

»Ein wenig.«

»Aber von ihm hatte sie keine Kinder ... Götter wissen nichts von Scheidung und Trauung. Dafür hatte sie Kinder von andern Göttern und Menschen.«

»Was heißt es? Also lauter Bastarde?«

»Sei nicht so dumm, Chajim! Wenn die Götter keine Chuppe, keine Scheidung und keine Trauung kennen, so gibt es bei ihnen auch keinen Ehebruch und keine Bastarde ...«

»Gewiß: wenn man sich vor dem Essen nicht wäscht, so braucht man nach dem Essen auch kein Gebet zu sprechen. Du sagst aber, daß sie auch von Menschen Kinder hatte?«

»Was ist denn dabei? Denke doch an die ›Kinder Gottes‹ in der Bibel, die mit den Töchtern der Menschen Kinder zeugten ...«

»Gut. Lies weiter.«

»Von Mars hatte sie zwei Kinder ...«

»Wer ist Mars?«

»Mars ist der ›Mann des Krieges‹, der Kriegsgott ..., zwei Kinder von Bacchus, dem Gott des Weins und der andern Getränke ...«

»Der wird wohl ein ordentlicher Säufer gewesen sein.«

»Zwei Kinder von Merkur ...«

»Wer ist das?«

»Merkur ist der Gott der Diebe, Kaufleute und Boten!«

»Das war doch eine höchst gemeine Partie!«

»Einem gewissen Anchises, einem gewöhnlichen Wesen aus Fleisch und Blut, erschien sie einmal in Gestalt einer Schäferin, irgendwo an einem Flußufer. Die Folge dieser Begegnung war ein Knabe. Einmal passierte ihr folgende Geschichte: von einer Räuberbande verfolgt, versteckte sie sich in eine Höhle und rief Herkules herbei ...«

»Wer ist das?«

»Das ist ein starker Gott, wenn auch kein ganzer, sondern nur ein Halbgott. Er hatte an einem einzigen Tage sechsunddreißig Pferdeställe gereinigt ...«

»Weiter, weiter, Selig! Es wird mir schon übel davon, so wahr ich lebe!«

»Herkules kam in die Höhle, ließ die Räuber einen nach dem andern herein, und sie machten ihnen allen den Garaus!«

»Pfui, ekelhaft!«

»Venus nahm furchtbare Rache an jenen, die der Liebe spotteten. Die Einwohner einer Stadt verwandelte sie in Ochsen.«

»Genug!« schrie Chajim auf und spie aus. »Der Magen dreht sich mir um! Und diese Venus soll eine Göttin sein! Ha-ha! Tausend Männer hat sie gehabt, sie hat gemordet, Ehebruch und Hurerei getrieben, pfui!«

Chajim spie noch einmal aus. Selig erhob sich zornig von seinem Platz.

»Du weißt selbst nicht, was du redest und worauf du spuckst«, sagte Selig gekränkt. »Du nimmst ein herrliches edles Gewand, wendest es auf die linke Seite um und machst ein Narrenkleid daraus! ... Venus ist nur ein Sinnbild, ein Ideal, wie zum Beispiel im Hohenlied die Sulamith ...«

»Ja, genau dasselbe! Schämen sollst du dich, Selig! Ein guter Vergleich! Sulamith aus dem Hohenliede ist ein frisches, gesundes Geschöpf, stark wie ein Stück Eisen! Ihre Brüder hießen sie ihren Weingarten bewachen, sie bewachte ihn aber nicht. Ihr Gesicht ist von der Sonne verbrannt, aber sie ist keine Zigeunerin. Ihr Hals ist weiß wie Marmor. Sie duftet süßer als alle Felder, Wälder und Gärten. Sie schlägt nicht die Augen vor Scham nieder und bläst sich nicht wie ein Truthahn auf. Sie schaut jedem gerade in die Augen. Sie braucht sich nicht zu schämen. Sie hat gute, warme, herzliche Augen, sie sind wie ein Paar freundliche Tauben! Und ihre Lippen sind wie zwei dünne, rote Fäden. Sie spitzt nicht den Mund und schneidet keine Grimassen. Und wenn sie spricht, so fließt Honig von ihren Lippen! ... Wenn du sie ansiehst, kommt dir kein einziger böser Gedanke in den Sinn. Im Gegenteil: alle Gedanken fliegen dir aus dem Kopfe. Wenn sie dich auch nur mit einem Auge anblickt, schlägst du die deinigen wie ein Dieb nieder. Dein Herz zittert und zappelt wie ein geschlachteter Hahn. Sie ist einfach, rein und keusch wie frischgefallener Schnee. Ein neuer Sommer bricht an, ein neues Leben erwacht auf dem Felde und im Garten, die Turteltaube girrt, die Blumen sprossen, der Feigenbaum blüht, der Weingarten schimmert. Alles erwacht zum neuen Leben, und ihr Herz ist von einem neuen Gefühl erfüllt! Ganz plötzlich ist dieses neue Gefühl mit seiner ganzen unwiderstehlichen Kraft gekommen. Mächtiger als der Tod ist ihre Liebe, tiefer als die Hölle ihre Eifersucht. Und ihre Liebe ist ewig, kein Strom kann sie fortschwemmen, kein Meer kann sie auslöschen ... Sie liebt aber nur den einen jungen, hübschen Hirten. Sie weiß nicht, daß der Hirte eine Krone auf seinem Haupte trägt, daß er der mächtigste König der Welt ist! Sie ist einfach, offen und aufrichtig, sie versteht keinen Roman zu spinnen, es tut ihr weh, daß er nicht ihr Bruder vom gleichen Vater und von der gleichen Mutter ist, den sie frank und frei in allen Gassen küssen könnte! Das ist Sulamith! Das ist, wie du siehst, das Ideal der wahren jüdischen Tochter, die im Gegensatz zu deiner ausgelassenen Venus einen Vater und eine Mutter hat.«

»Du vergißt aber das eine«, unterbrach ihn Selig. »Du vergißt, daß die ganze Mythologie als eine Sammlung von Gleichnissen aufzufassen ist, hinter denen philosophische und religiöse Gedanken stecken.«

»Ganz im Gegenteil! Wie kann man erhabene Gedanken in gemeine Gleichnisse kleiden? Wie kann man Edelsteine in einen schmutzigen Lumpen binden? Und ist denn das Hohelied nicht auch ein Gleichnis? Ist nicht unter dem König Solomo der Schöpfer der Welt selbst zu verstehen? Ist die reine, aber von der Sonne verbrannte Geliebte nicht die Gemeinde Israels?! Geheimnisse hin, Geheimnisse her – Sulamith ist eben Sulamith, und Venus, sie sei von ihr tausendmal unterschieden, ist überhaupt nicht der Rede wert! Hörst du, Selig? Ausgelöscht sei ihr Name! Streiche in deinem Buche ihren Namen und schreibe wie heißt noch das Mädel, von dem die Rede ist? Ich glaube, Chane?«

»Ja, Chane.«

»Also schreibe, daß sie so schön war wie ... Oder nein, schreibe es nicht! Hörst du! Du sollst dich nicht unterstehen! Vergleiche deine Chane, deren Füßchen so klein sind wie Stecknadelköpfe, mit wem du willst: mit Mirjam, wie sie mit der Pauke tanzt, oder mit Abigail, mit Rahab, mit Dalila, von mir aus auch mit der Königin Esther; aber nur nicht mit Sulamith, denn keine ist ihr gleich!«


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