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Jizchok Lejb Perez: Der Baßgeiger: Schma Jißroel

In Tomaschow, einem kleinen polnischen Städtchen an der galizischen Grenze, erschien eines schönen Tages ein armer Bursche, von dem niemand wußte, woher er kam und wo er seine Tage und Nächte verbrachte. Er zeigte sich nur dann und wann und bat um Essen.

Selbstverständlich, »wer die Hand ausstreckt«, dem gibt man. Und da der Bursche weder Geld noch irgendwelche Speisen außer trockenem Brot annimmt, fragt man nicht viel, wie und was; auf Essen hat jede lebende Seele Anspruch. Man merkt aber, daß er ein sehr sonderbarer Mensch ist. Er hat Augen, die in weite Ferne zu blicken scheinen, aber das, was sich vier Ellen um ihn tut, nicht sehen. Er bewegt immer die Ohrläppchen, wie andere die Augenlider bewegen, als ob er irgendwelche Töne aus der Luft auffinge, und wenn es auch so still ist wie vor dem Schojfer-Blasen. Und da er so weit sieht und so weit hört, ist er immer versonnen. Wenn man ihn anspricht, erzittert er, als hätte man ihn aus dem Jenseits geweckt, und wenn er antwortet, so nur mit einem »Ja« oder einem »Nein«. Will er aber noch mehr sagen, so verwickelt er sich in seiner eigenen Rede wie in einem Netz; Schweiß tritt ihm auf die Stirne, und er kann sich nicht mehr herausarbeiten...

Und will einmal ein Bürger oder eine Bürgersfrau seine Dienste in Anspruch nehmen und ihn irgendwohin mit einem Auftrag schicken, so pflegt der Bursche für einige Tage zu verschwinden und mit irgendeinem ganz verkehrten Bescheid zurückzukommen. Und das nicht etwa aus Faulheit, sondern aus lauter Verträumtheit.

»Hast du den und den angetroffen, zu dem man dich geschickt hat?«

»Erst heute.«

»Und bis heute?«

Stellt sich heraus, daß er, als er mit dem Auftrage ging, unterwegs einem Mäuschen begegnete, und das Mäuschen hatte gepiepst; wahrscheinlich hat es nicht heimfinden können... Dann hatte man ihn von der Höhe gerufen – irgendein Vogel hatte ihn gerufen –, und er war ihm nachgelaufen. Und dergleichen mehr. Erst heute kam er hin, wohin man ihn geschickt hatte. Man hatte ihm dort etwas gesagt, aber das hat er schon vergessen oder gleich nicht verstanden. So machte er alles verkehrt und lächelte dabei in Einfalt und streckte die magere Hand nach einem Stückchen Brot aus; er hat die ganze Zeit nichts im Munde gehabt.

In so einem armen Städtchen ohne große Geschäfte, zur Sommerszeit, wenn die Tage lang und leer sind, sitzen die Bürger gähnend an den Fenstern, schauen auf den Markt hinaus und warten, daß sich etwas zeigt, dem sie sich widmen können. Steht so ein Bürger beim Fenster, erblickt den fremden, armen Burschen und ruft ihn zu sich heran. Er hat nichts zu tun, hat schon alle Fliegen gefangen und wird den jungen Mann einem Verhör unterziehen.

»Komm doch mal in die Stube, Junge.«

Schüttelt jener den Kopf. Er will nicht.

»Warum nicht?«

»So!« antwortet jener.

Lacht der Bürger. Er ist nicht faul; er geht zum Burschen hinaus, setzt sich und beginnt:

»Wie heißt du, Junge?«

»Wie ich heiße?« wiederholt der Bursche die Frage.»Awrom! Ich glaube, Awrom. Ja, Awrom!«

»Du weißt es nicht sicher?«

Er weiß nichts sicher. Wie kann man etwas sicher wissen? So vieles kommt einem nur so vor.

Der Bürger keucht vor Lachen.

»Und mit deinem Zunamen?«

Davon weiß der Bursche gar nichts. Und er fragt in aller Einfalt, ob man überhaupt einen Zunamen haben muß.

Sagt der Bürger:

»Gewiß, denn es gibt viele Awroms, und die kann man miteinander verwechseln ...«

»Nun, und wenn auch?«

»Und wem gehörst du, Junge?«

»Dem Vater.«

»Und wie heißt dein Vater?«

»Vater heißt er.«

»Und wo wohnt dein Vater?«

»Da, wo auch dein Vater wohnt!« Und der Bursche hebt den Finger und zeigt auf den Himmel.

»Ein schönes Früchtchen!« lächelt der Bürger und fragt weiter:

»Und einen anderen Vater hast du nicht?« »Nein.«

»Und eine Mutter?«

»Muß man eine haben?«

Kugelt sich der Bürger vor Lachen, und der Bursche fragt:

»Darf ich schon gehen?«

»Gleich, gleich!« antwortete der Bürger, der vor Vergnügen schmilzt. »Und woher kommst du, du Kluger?«

»Aus dem Dorfe!«

»Wie heißt das Dorf? Wo liegt es?«

Das weiß er nicht, der Bursche.

»Weit von hier?«

Er ist gegangen und gegangen und gegangen ...

Und der Bursche wiederholt das Wort »gegangen« so lange, bis ihm die Lippen müde werden; und er schließt: »Und noch gegangen!«

»Wie viele Tage und wie viele Nächte?«

Er hat sie nicht gezählt.

Fällt dem Bürger die Frage ein:

»Kannst du beten?«

Beten? Der Bürger muß ihm erklären, was »beten« heißt. Und erst nachdem der Bürger neun Maß Worte ausgeschüttet hat, kommt der Jüngling darauf, daß es heißt: mit dem Vater sprechen.

»Ja, ja!« sagt der Bürger, und es ist ihm, als drehten sich ihm vor Lachen die Gedärme um.

Er kann das »Schma Jißroel«.

»Wer hat es dich gelehrt?«

Erzählt der Bursche, daß er auf dem Wege aus dem Dorfe in die Stadt im Walde einem sehr alten Mann begegnet war. Dieser alte Mann hätte ihm gesagt, wer sein Vater ist, und ihn gelehrt, mit dem Vater zu sprechen – das »Schma Jißroel« zu sprechen. Er versteht zwar nicht, was er zu seinem Vater spricht, aber der alte Mann hätte ihm gesagt, daß der Vater alles verstehe und seine Freude daran habe.

»Und wann redest du mit dem Vater?«

»Zweimal am Tage.«

Und dabei spielt er.

»Du spielst? Was denn?«

Was er gerade hat.

Im Dorfe pflegt er auf Grashalmen und Schilf zu spielen, dann hätte man ihn gelehrt, hölzerne Pfeifchen zu schnitzen, und er habe auf so einem Pfeifchen gespielt ... In der Stadt habe man ihm ein tönernes Pfeifchen geschenkt, und er spiele nun darauf ...

»Und wenn man dir beispielsweise eine Fiedel geben würde?«

Leuchten die Augen des Burschen auf: Ach, wenn er nur eine Fiedel hätte, wie sie die Stadtmusikanten haben! Besonders so ein großes, großes Instrument, das man an einem Riemen trägt ... Ach, wie er dann spielen würde! ...

»Vielleicht«, fährt der Bürger in seinem Verhör fort, »kauft man dir einmal so ein Instrument, aber du mußt zuvor zeigen, was du kannst.«

Holt der Bursche sein tönernes Pfeifchen aus dem Busen und pfeift.

Und wie er pfeift, beginnt es im Himmel zu rauschen, Scharen von Vögeln fliegen zusammen und flattern über seinem Haupte in der Höhe, und der Bursche blickt lächelnd zu ihnen auf und steckt das Pfeifchen wieder in den Busen.

Der Bürger hat aber den Kopf gar nicht gehoben und nichts gesehen. Auf die Töne des Pfeifchens kommt die Frau aus dem Hause, und nach ihr die Magd. Zwei Ehepaare sind an ihre Fenster getreten und schauen hinaus. Will der Bürger seinen Witz zeigen und fragt den Burschen weiter aus:

»Und wovon hast du im Walde gelebt?«

Von Pilzen hat er gelebt.

So, dann versteht er sich wenigstens auf Pilze!

»Und früher, im Dorfe?«

Von dem, was man ihm gab.

»Und wer gab dir was?«

Der Bauer, die Bäuerin, sogar der Geistliche und der Schankwirt...

»Und was gab man dir?«

Der Bürger hält den Atem ein. Nun muß es herauskommen!

Und der Bursche antwortet in aller Einfalt, daß man ihm Kraut, Kohlsuppe, Fleisch und Brot gegeben habe; er hätte aber nur das Brot gegessen und die anderen Speisen den Vögeln hingeworfen.

»Warum denn nur Brot?«

Er mag nur Brot, andere Speisen mag er nicht.

Der Alte im Walde habe ihn gefragt, was er esse. Und als er ihm antwortete, daß er nur Brot möge, hätte der Alte gesagt, daß er ihn dafür liebe; zum Löhne dafür hätte er ihn auch gelehrt, mit dem Vater sprechen. Den Alten habe er so lieb, so lieb ... Und das »Schma Jißroel« spreche er so ernst, weil der Alte es ihm so befohlen habe ...

Der Bürger läßt aber noch immer nicht locker und fragt:

»Und wenn der Alte dir befohlen hätte, zu stehlen?« Dann würde er stehlen.

»Und zu rauben?«

Würde er rauben ...

Aber das werde er ihm niemals befehlen, denn er sei so gut, der Alte.

»Aber doch, wenn er heute kommt und dir befiehlt, daß du einen Menschen umbringst?«

Dann würde er umbringen.

»Und hättest keine Angst vor dem Vater?«

Wovor soll er denn Angst haben?

»Vor seiner Strafe.«

Da lächelt der Bursche zum erstenmal.

»Ihr macht Spaß: ein Vater straft nicht!«

Da rief man aber die Leute zum Gebet zusammen, und der Bürger eilte ins Bejßmedresch, um dort zwischen Minche und Maariw zu erzählen, wie klug er den jungen Mann ausgefragt habe ...

 

Das Städtchen hätte an ihm natürlich auch so Unterhaltung genug, aber da traf sich noch folgende Geschichte.

Die Gemeinde hatte eine Musikkapelle: zwei Fiedeln, eine Flöte, eine Klarinette, ein Becken oder einen »Klopfteller«, wie man es in anderen Gegenden nennt; und der Vollständigkeit halber, wie es so üblich ist, auch eine Baßgeige. Eine arme Kapelle, die bei jüdischen Hochzeiten spielte, am Purim und Chanekke sich ein paar Groschen verdiente und manchmal sogar, wenn die anderen Kapellen beschäftigt waren, von kleineren Edelleuten für einen Ball gemietet wurde. Sehr groß war ihre Kunst nicht.

Passiert einmal folgendes: es ist im Winter, die Kapelle geht im Morgengrauen von einem Ball bei kleinen Edelleuten heim; die Musiker haben ein wenig getrunken, aber nur ein Stückchen Brot zum Frühstück gehabt, da sie bei Christen doch nichts anderes essen durften. Die Leute gehen, ein jeder für sich, singend, summend und fluchend ihren Weg, und der Baßgeiger, der das schwerste Instrument zu tragen hat, schleppt sich hinten nach. Er kann die Füße kaum aus dem Schnee herausziehen. Ein alter und schwacher Mann ist er. Er ruft und schreit und bittet, daß die anderen ihm nicht davonlaufen – sie hören aber auf ihn »wie auf den Row«; ein jeder geht ja für sich. Nun beginnt zwischen ihnen auch ein Zank wegen der Verrechnung; sie schimpfen und schelten, und nüchtern sind sie, wie gesagt, auch nicht. Indessen schlägt das Wetter um, und es beginnt von neuem zu schneien. Die Musiker nehmen sich zusammen; sie sind ernüchtert und beginnen zu laufen. Und wie sie in die Stadt kommen, eilt jeder in sein Haus und fällt wie ein Erschlagener aufsein Bett. Aber man läßt sie nicht lange schlafen: der Baßgeiger ist nicht heimgekommen, und seine Frau läuft mit großem Geschrei von einem Musiker zum anderen, weckt sie und fragt: »Wo ist mein Mann? Wo ist mein Mann?«

Wie sie, vom Branntwein und vom Schlaf trunken, zu sich kommen und begreifen, was man von ihnen will, packt sie ein Grauen. Sie springen auf und laufen hinaus, den Baßgeiger zu suchen; es ist aber kein Weg, kein Steg: man sieht nur weiße, glatte Totengewänder – frischgefallenen, unschuldigen Schnee – geh, such, wo der Baßgeiger liegt!

Kommen sie ohne den Kameraden zurück. Eine Hoffnung ist noch da: vielleicht ist der Baßgeiger so vernünftig gewesen und hat sich in irgendein Dörfchen seitwärts gerettet.

Es vergeht ein Tag und noch ein Tag; der Frost hat schon nachgelassen, der Schnee ist halb geschmolzen. Es ist ein Freitag, die Leute gehen dem Sabbat zu Ehren ins Bad, sprechen über den Baßgeiger, und niemand weiß Bescheid. Plötzlich kommt ein Bauernwagen gefahren und bleibt mitten auf dem Markte stehen. Auf dem Wagen liegt aber die Leiche des erfrorenen Baßgeigers ... Man nimmt sich sofort der Leiche an und bestattet sie noch vor dem Lichtanzünden ... Man hat Angst, daß man sie seziert ... Mit knapper Not wird man vor Sabbatanbruch fertig! Am nächsten Morgen kommt die Witwe in die Schul und will die Thoravorlesung verhindern: fünf kleine Kinder hat der Baßgeiger hinterlassen. Nach Sabbatausgang hält man eine Versammlung und lädt auch die Musikanten ein. Die Gemeinde hat kein Vermögen und will, daß die Musikanten sich ohne einen Baßgeiger behelfen, der Witwe aber seinen Anteil weiterzahlen. Die Musiker erwidern: Das geht nicht! Eine Kapelle ohne einen Baß ist gar keine Kapelle. Bei jüdischen Festlichkeiten könnte man sich mit Genehmigung der Gemeinde vielleicht auch so behelfen, aber ein Edelmann wird keinen Fuß zum Tanze rühren, wenn die Baßgeige fehlt ... Der Rabbi wendet darauf ein, daß die Erhaltung einer Seele in Israel wichtiger sei als die Kapelle und der Tanz der Edelleute; sagen drauf die Musikanten, der Rabbi möge es ihnen verzeihen, aber von Musik verstünde er nichts. Schreien die anderen: »Freche Bande!«

Da schlägt der Bürger, der unseren Jüngling so klug ausgefragt hat, mit der Hand auf den Tisch und ruft:

»Ruhe, meine Herren!«

Er weiß Rat. Er kennt einen jungen Mann, der gerne Baßgeige spielen möchte und wohl auch zu spielen versteht ... Man solle den jungen Mann mit der Witwe verheiraten: dann werde der Wolf satt und die Ziege heil bleiben, und die Gemeinde werde auch nicht einen Dreier zu zahlen haben ...

Vielleicht meinte er das nur im Scherz, aber die Gemeinde und der Rabbi einerseits und die Musikanten andererseits griffen diesen Rat auf wie Ertrinkende eine Planke; auch die Witwe war damit einverstanden, Awrom ebenfalls, und man machte noch im selben Monat Hochzeit ...

So kam Awrom ganz unerwartet zu einem Weib mit fünf Kindern und zu einer Baßgeige nebst Bogen.

Mit dem Weibe lebt er in Frieden: er kommt überhaupt nie ins Haus und übernachtet draußen vor der Tür. Ganze Tage treibt er sich irgendwo draußen herum, wenn es nicht gerade irgendeine Festlichkeit im Städtchen oder einen Ball bei den Edelleuten gibt; dann spielt er mit. Hat er Hunger, so klopft er ans Fenster, sein Weib reicht ihm ein Stück Brot hinaus, und er verschwindet damit, bis er wieder Hunger hat ... Wenn die Nachbarinnen die Baßgeigerin fragen, ob sie in ihrem Eheleben glücklich sei, lacht sie: sie hat es so gut wie kaum jemand in der Welt! Was braucht auch so ein altes Weib? Er ißt nichts und trinkt nichts und sagt ihr kein böses Wort; die Abrechnungen mit der Kapelle besorgt sie und bekommt seinen Anteil am Verdienst in die Hand ... Was kann sie sich noch wünschen?

Auch Awremel scheint mit seinem Los zufrieden. Anfangs hatte er Schwierigkeiten mit den Musikanten, weil er niemals die Melodie traf und immer für sich geigte ... Wenn sie mit dem Stück fertig waren, spielte er ruhig das seinige weiter, als gehörte er zu einer ganz anderen Kapelle, die irgendwo in weiter Ferne spielte und die niemand außer ihm hörte. Doch mit der Zeit gewöhnten sie sich an ihn. Spielte man bei einem Edelmann, so wußte man schon, wie mit ihm fertig zu werden; wenn das Stück zu Ende ging, griff einer von den Musikanten nach seinem Bogen und hielt ihn fest. Auf jüdischen Hochzeiten ließ man ihn aber absichtlich weiterspielen, und die Gäste kugelten sich vor Lachen; das diente als Belustigung, besonders bei der großen Abendmahlzeit.

Die Gemeinde ist mit Awremel erst recht zufrieden. Still und züchtig sitzt er immer mit dem Gesicht zur Wand und mit dem Rücken zum Publikum, um ja keine Frauen zu sehen ... Bei den Hochzeiten nimmt er nichts von der Bewirtung in den Mund, denn er hat sein eigenes Stück Brot mit. Man sieht ihn sogar fast nie essen. Außerdem ersetzt er das ganze Jahr einen »Schulklopfer«.

Denn er hatte die Gewohnheit, dreimal am Tage das »Schma Jißroel« auf der Baßgeige zu spielen: des Morgens, wenn die Sonne aufgeht, des Abends, wenn sie untergeht, und um Mitternacht. Am Morgen und am Abend tat er es auf einer Wiese beim Flusse vor der Stadt, und um Mitternacht – mitten auf dem Markte; und die Töne seiner Baßgeige schwebten durch die stille Nacht und drangen durch die Tore und Laden in die Stuben und in die Herzen ein ... Und in seinen Tönen lag eine seltsame, ernste Andacht und Frömmigkeit. Wenn einen der Schulhammer nicht weckte, so weckte ihn das »Buh, buh, buuh!« aus dem Schlafe, und die Leute erhoben sich unwillkürlich aus den Betten zum Dienste des Schöpfers, machten Licht und liefen zum Mitternachtsgebet.

Es kam vor, daß ein Edelmann mitten im Tanze seine Dame stehenließ, auf Awremel zulief und ihn an einer Schläfenlocke zerrte, weil er aus dem Takt gekommen war; die Juden lachten über ihn bei allen Festlichkeiten, pflegten aber, wenn sein Spiel sie zum Mitternachtsgebet weckte, seufzend zu sagen:

»Der arme Narr! Aber in seinem Spiel steckt etwas, es muß darin etwas stecken!«

Andere wiederum sagten:

»Die arme, stumme Seele will mit ihrem Schöpfer sprechen und hat keine andere Sprache!«

Einmal gab es in Tomaschow eine große Hochzeit, wie sie nur einmal in fünfzig Jahren vorkommt.

Es ist doch kein Spaß: der Gemeindevorsteher von Lublin und der Rabbi von Krakau verheiraten ihre Kinder, und Tomaschow liegt gerade in der Mitte des Weges.

Der Lubliner Gemeindevorsteher will den Krakauer Rabbi mit der Hochzeit in Erstaunen setzen, damit er wisse, mit wem er sich verschwägert.

Läßt er für die Hochzeitskosten ein Fäßchen Dukaten aus dem Keller heraufrollen. Schickt er Diener nach Tomaschow, damit sie ihm dort alles mit königlicher Freigebigkeit vorbereiten, wie es sich für den Gemeindevorsteher von Lublin geziemt, der die Gnade hat, sich mit dem Rabbi von Krakau zu verschwägern.

Kommen die Lubliner Aufwärter nach Tomaschow und suchen vor allem einen passenden Raum für die Hochzeit: es werden doch Lubliner, Krakauer und Tomaschower Gäste dabeisein, reiche Leute, angesehene Bürger, Thoragelehrte, Rabbonim und Dajonim.

Und drei Kapellen werden bei der Hochzeit spielen: die Lubliner, die Krakauer und auch die Tomaschower Kapelle, die auf ihrem Recht besteht.

Seit alten Zeiten steht beinahe am Ende der Stadt ein großer Schuppen, in dem man im Winter Holz trocknete, das jetzt schon auf der Weichsel, auf dem Wege nach Danzig ist. Die Diener mieten auf Kosten ihres Herrn den Schuppen, der so groß ist wie eine Arche; sie lassen ihn von außen mit allerlei Bildern bemalen und schmücken ihn innen wie eine Laubhütte mit teuren Stoffen, Vorhängen und Teppichen. Von einem Ende zum anderen stellen sie zwei lange Tische auf: den einen für die Männer, den anderen für die Frauen, schmücken die Wände mit Leuchtern und Papierlaternen – für vierzig Minjonim ist Raum im Schuppen! Und man macht besondere Eingänge, für die Frauen, für die Diener und für die Musiker, und in der Mitte ein großes Tor, über das man die Krone der Thora malt: für den Krakauer Rabbi und die anderen Gäste ...

Und der Tag der Hochzeit bricht an. Es kommen immer neue Gäste gefahren, die bei den Bürgern Unterkunft finden: ein jeder hält es für die größte Ehre und tritt seine schönste Stube ab. Und als man sich zum großen Mahle an die Tafeln setzte, als die Lichter in den Sabbatleuchtern auf den Tischen, in den Wandleuchtern und in den Papierlaternen erstrahlten, als die Ohrringe, Stirntücher und Brusttücher der Frauen zu funkeln anfingen, da füllte sich der Schuppen auch mit dem Lichte der Thora: Gelehrte von Krakau und Lublin, die von Tomaschow in der Mitte ... Und obenan der Rabbi von Krakau.

Die Diener tragen große Fischplatten herum, silberne Messer und Gabeln klirren, die Frauen summen fröhlich an ihrem Tisch – und alles wird übertönt von einem Gespräch über die Thora am Tische des Rabbis von Krakau. Plötzlich fällt die Musik mit einem »Frejlachs« ein ... Drei Kapellen spielen, es schallt, und die Kerzenflammen auf dem Tische und an den Wänden zittern vor Freude. Und der Krakauer Rabbi stützt sich auf die Armlehne und lauscht mit Freuden: er versteht sich auf Musik ...

Vom »Frejlachs« gehen die Kapellen auf einen »Wojlach« über; sie gleiten so geschickt hinüber, daß man es gar nicht merkt. Die Musik fließt dahin, eine Krakauer Fiedel spielt so eindringlich, als redete sie mit Worten; sie schließt die Herzen auf und ergießt sich in die Seelen ... Und die drei Kapellen begleiten sie leise und züchtig... Es ist, als hätte sich ein Wasser ergossen, die funkelnde Weichsel, die sich leise wiege und rausche und singe zu Ehren des Bräutigams und der Braut, zu Ehren des Rabbi von Krakau und der teuren Gäste; als fliege über dem Wasser – o Wunder! – ein Vogel und singe stille Trauerlieder, dann lustige, lebhafte Weisen und dann wieder Trauergesänge, als wollte er sagen: es ist zwar ein frohes Fest, aber man soll auch das Exil der göttlichen Majestät nicht vergessen. Dann kommt wieder ein Aufschrei von Freude: es ist ja doch eine so seltene Hochzeit, eine Versammlung von Gelehrten, und der Rabbi von Krakau sitzt obenan! (Ein Lubliner Chasen hatte die Musik komponiert.) Und die Kapelle wird plötzlich mitgerissen, alle Instrumente spielen, es geht immer höher hinauf, es steigt voller Freude von Stufe zu Stufe. Es rauscht, es leuchtet, es tanzt, es blitzt ...

Und plötzlich bricht alles ab, als ob alle Saiten gesprungen und alle Instrumente gebrochen wären. Es ist still, aber in der Stille tönt es: Buh, buh, buuh ... Awremel spielt noch weiter, und aller Augen richten sich auf seinen Rücken. Es ist still, niemand zuckt mit der Wimper, nur Awremels Hand allein bewegt sich und fährt mit dem Bogen hin und her:

Buh, buh, buuh ...

Die Musikanten hatten es absichtlich so eingerichtet, um die Versammlung auf Awremels Kosten zu belustigen ...

Es gelang ihnen aber nicht!

 

Die Musikanten schauen und warten, daß die Gäste in Gelächter ausbrechen. Aber die Gäste blicken auf Awremel und von ihm auf den Rabbi von Krakau. In seiner Gegenwart wird man doch nicht lachen! Die Gesichter verziehen sich, die Lippen krümmen sich, das Lachen guckt ihnen aus den Augen, aber sie schauen auf den Rabbi von Krakau und warten. Der Krakauer Rabbi sitzt in seinem Streimel, in die Stuhllehne gestützt, seine Wimpern sind gesenkt – ist er nicht eingeschlafen, der Rabbi von Krakau?

Und die Baßgeige spielt immer weiter:

Bh, buh, buuh ...

Den Leuten wird es unheimlich zumute.

 

Plötzlich wenden alle ihre Augen vom Krakauer Rabbi auf den mittleren Eingang. Es ist ein Lärm, man hört Schritte, die Diener laufen hin, öffnen die Tür und schreien erschrocken hinaus: »Nein, nicht jetzt! Es wird für euch später eine Armenmahlzeit geben ...«

Nun ist es allen klar, daß Bettler hereinwollen. Der Krakauer Rabbi schlägt die Augen auf und will etwas sagen. Wahrscheinlich, daß man sie einlasse. Was denn sonst?

Aber im gleichen Augenblick zeigt sich in der Tür ein alter Mann in zerrissener Mütze, mit zerzaustem grauen Bart und Schläfenlocken, ein Bettler wie alle Bettler, aber seine Augen blicken so majestätisch wie die eines Königs, und auch seine Bewegungen sind von königlicher Größe. Die Diener erschrecken und weichen unwillkürlich mit großer Ehrfurcht vor seinem Blick zurück. Er winkt, und sie bilden ihm unwillkürlich eine Gasse. Und der Alte in den Kleidern des niedrigsten Bettlers und mit den Augen und Gebärden eines Königs tritt ein, von einer Schar von Bettlern gefolgt. Und der Alte tritt in die Mitte des Schuppens und bleibt stehen. Hinter ihm stellt sich die ganze Bettlerschar auf, die Gäste sind bestürzt und stumm, der Rabbi von Krakau auch. Aber Awremel fährt zu spielen fort. Man sieht, wie sein gekrümmter Rücken zittert und wie seine Hand mit dem Bogen über die Saiten fährt. Und die Baßgeige ächzt innig und ernst:

Bh, buh, buuh ...

 

Und der alte König im Bettlerkleide tut nach einer Weile den Mund auf. Die Gäste beugen sich über die Tische, die Leute, die an den entfernteren Tischen sitzen, springen plötzlich geräuschlos auf und recken sich auf den Zehenspitzen – alle sind vom Munde des Alten wie von einem Magnet angezogen, aller Augen hängen an seinen Lippen ...

Und der Alte sagt erst das eine Wort: »Mitternacht!« »Rabbi von Krakau«, fährt er fort, »Awremel spielt zum Mitternachtsgebet ... Ihr glaubt es nicht, Rabbi von Krakau, also werdet Ihr es hören ... Damit Ihr die Gnade erlebt, zu hören, wie Awremel zum Mitternachtsgebet spielt, war es Euch bestimmt, Euch mit dem Gemeindevorsteher von Lublin zu verschwägern: Tomaschow liegt ja in der Mitte des Weges ... Und Euch zuliebe werden es alle hören, doch nicht alle so wie Ihr. Denn Ihr versteht Euch auf Musik ...«

Bu, buh, buuh – spielt Awremel weiter, und die Leute lauschen stumm, wie verzaubert. Der alte Bettler hebt aber die rechte Hand und winkt zur Decke empor. Und die Decke spaltet sich, und die eine Hälfte geht nach rechts und die andere nach links wie die Deckenflügel einer Laubhütte.

Und es zeigt sich der sternenfunkelnde Himmel. Über der Öffnung schwebt still der Mond ... still schwebt er vorbei. Und wie er vorbeigeschwebt ist, winkt der alte Bettler wieder nach oben, und auch der Himmel spaltet sich, und in der Höhe erscheint das unendliche, zitternde Urlicht, und aus dem Lichte, das sich wiegt und zittert, tönt Gesang und Musik – die Himmlischen sprechen das Mitternachtsgebet, Engelchöre singen, Engelkapellen spielen, und alle singen und spielen die gleiche Weise. Awremels Baßgeige spielt mit ihnen mit, sie schwebt mit im Psalme des Lichts, das sich in der Höhe wiegt und zittert ...

Und alle Leute befällt ein Zittern...

 

Und der Alte winkt, und der Himmel schließt sich, die Musik hört auf, die Sterne schweben und funkeln zitternd wie in stiller, wehmütiger Freude ...

Und der Alte winkt wieder, und die beiden Hälften des Daches fallen zurück und schließen sich. Wie zu Stein erstarrt sitzen die Gäste, sie atmen kaum, und Awremels Baßgeige tönt wieder:

Bh, buh, buuh ...

Und plötzlich entfallen Bogen und Geige seiner Hand, er steht auf, wendet sich zu den Gästen um und fängt an: »Schma Jißroel!« Und er singt es in derselben Melodie, die er im Himmel spielte ... Und wie er damit fertig ist, sinkt er ohnmächtig hin ...

Der Alte fängt ihn im Fallen auf.

»Tragt ihn ins Spital!« befiehlt er den Dienern.

Und sie nehmen ihn und tragen ihn hinaus.

»Rabbi von Krakau«, spricht der Alte, als man Awremel hinausgetragen hat, »nicht zu einer Hochzeit seid Ihr gekommen, sondern zu einem Begräbnis. Awremel ist zu den Himmlischen Heerscharen einberufen worden, es fehlte dort ein Baßgeiger ...«

Und der Alte verschwand mit allen seinen Bettlern.

Und so geschah es auch.

Awremel, der Baßgeiger, starb am nächsten Tag im Spital, und der Rabbi von Krakau und alle anderen Gäste gingen in seinem Leichenzuge mit. Der Alte soll aber Reb Lejb Ssores gewesen sein ...

Unmöglich ist es nicht ...


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